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Frankfurter Rundschau

Samstag 22 April 2000

Der Regisseur Nicolas Brieger über seine Inszenierung von Paul Hindemiths Oper "Cardillac"
Kalter Kopf und Feueratem
Nicolas Brieger ist als Regisseur an allen bedeutenden Opernhäusern der Welt zu Hause.
In Frankfurt entwickelt er gerade eine Inszenierung von Paul Hindemiths 1926 komponierter Oper Cardillac, die am Samstag Premiere hat. Mit Nicolas Brieger sprach FR-Mitarbeiter Tim Gorbauch.

FR: Paul Hindemiths Cardillac, eine viel zu lange vergessene Oper, galt der Nachwelt als Inbegriff der Neuen Sachlichkeit. Auf der anderen Seite geht das Sujet auf E.T.A. Hoffmann zurück, streift den Geniekult und ist also ein urromantischer Stoff. Wie spüren Sie dieses Spannungsfeld?

Nicolas Brieger: Ich weiss nicht, ob Sachlichkeit die Musik oder auch nur die Grundhaltung bei Cardillac trifft. Ich denke, dass Hindemith viel eher dem Expressionismus verbunden war als einer Sachlichkeit. Das kann man auch aus den Bildern ablesen, die Hindemith zu dieser Zeit gemalt hat. Gleichwohl, und da haben Sie recht, bleibt die Musik im Cardillac kalt, distanziert gegenüber den Extremsituationen der Protagonisten. Die Oper lebt aber gerade von diesem Paradox, dass sie Emotionen hochpuscht und gleichzeitig Distanz hält. Das Verfahren erinnert mich an eine berühmte Einstellung Hitchcocks, der in Vertigo mit der Kamera zurückfährt und gleichzeitig ranzoomt, was einen unglaublichen Effekt hat. Und das hat etwas mit diesem Stück zu tun, das Rangehen und das gleichzeitige Zurückziehen. Daraus entsteht eine ganz eigenartige Zerreiß-Spannung.

Ist das nicht auch für die Inszenierung eine enorme Herausforderung?

Vor allem für die Sänger ist es brutal. Sie leben und fühlen normalerweise mit der Musik, und hier sind die Töne so seltsam distanziert, und die Emotion, die sie darstellen müssen, trotzdem so gewaltig. Sie müssen sozusagen mit kühlem Kopf und Feueratem agieren. Noch dazu erzählt Hindemith hier betont unpsychologisch. Die einzelnen Szenen entwickeln sich nicht, sondern müssen sofort da sein. Es gibt keinen Anlauf, keine Erklärung, keinen Bogen, sondern nur unmittelbare Präsenz.

Der Stoff um den Goldschmied Cardillac, der von seinen Werken nicht lassen kann und daher zum Mörder wird, thematisiert ja auch den Künstler und könnte Ihnen Gelegenheit geben, auch ein bisschen Ihre eigene Befindlichkeit zu inszenieren. Thematisieren Sie die Zerrissenheit des Künstlers?

Ich wühle nicht in meinen Innereien. Was mich interessiert, sind die Situationen, in denen sich meine Protagonisten befinden. Ich suche die Auseinandersetzung mit ihren extremen Gefühlen, die sie wie Archetypen erleben. Dass da einer bei Hindemith vielleicht für den Künstler an sich gestanden hat, ist wirklich nur sekundär. Ich erzähle keine Künstlertragödie, aber etwas über Typen, die sich außerhalb der Grenzen bewegen, die besessen sind.

Aber in Mathis der Maler, Hindemiths zweiter großer Oper, kehrt der Künstler wieder?

Ich will auch nicht bestreiten, dass das Künstlerproblem für Hindemith unwichtig war. Ich glaube im Gegenteil, dass Hindemith darunter gelitten hat, als Handwerker angesehen zu werden. Und seine Bestrebung, über diese Grenze des Handwerklichen hinauszukommen, ins Genialische vorzudringen, spiegelt sich natürlich im Cardillac. Aber wichtig für mich ist, was aus dieser Konstellation an Gefühl wird, an Emotion, und nicht, dass er Künstler ist.

Ist es für Sie als Regisseur denn jetzt schöner, mit Cardillac eine Oper zu inszenieren, die für alle Beteiligten Neuland ist, die noch keine festen Bilder und Strukturen mitliefert? Oder ist es umgekehrt gerade schwierig, alles neu erklären und erzählen zu müssen?

Während der Probenarbeit, gerade am Anfang, schimpft man natürlich furchtbar, dass da noch nichts ist. Man muss praktisch erst einmal eine ganz grundsätzliche Verständigungsebene aufbauen. Und gerade hier im Cardillac, der sich ja auch dem biografischen oder psychologischen Zugang entzieht, ist das besonders schwer. Aber irgendwann, etwa so auf halber Berghöhe, wird diese Unverbrauchtheit natürlich enorm spannend.

Cardillac ist als Oper nicht durchkomponiert, sondern in einzelne, klar voneinander abgegrenzte Nummern unterteilt. Das heißt, es gibt enorm starke Brüche, filmisch gesprochen: harte Schnitte. Inszenieren Sie diese Brüche, oder versuchen Sie dem einen roten Faden, eine übergeordnete Atmosphäre entgegenzuhalten?

Ich will diese harten Schnitte, und ich glaube übrigens auch, dass die Filmmetapher hier seine Berechtigung hat. Cardillac hat in seinem Aufbau viel vom Film, der in dieser Zeit gerade zu einem wichtigen Medium wurde. Die einzelnen Szenen stoßen hier unvermittelt aufeinander, ohne Ankündigung. Aber je härter der Schnitt ist, desto klarer wird meines Erachtens ihr Zusammenhang. Die Geschichte ist nur eben nicht linear, sondern setzt sich aus Einzelteilen zusammen.

Warum, glauben Sie, ist Cardillac, eine Oper mit enormer Theaterkraft, so sehr von der Bildfläche verschwunden?

Cardillac ist schwierig zu erzählen, weil die Geschichte nicht im Vordergrund steht, sondern nur einzelne Stationen der Geschichte, Gefühle, Zustandsbeschreibungen. Wenn man es dann noch als barocken Kostümschinken inszeniert, weiß man überhaupt nicht mehr, woran man ist. Dann hat man eine Geschichte im Barock, einen Stoff der Romantik und Musik der zwanziger Jahre. Das Metallische, was im Cardillac steckt, geht da natürlich verloren. Ich will dieses Metallische gerade stärken und ihn so auch unserer Zeit zuführen. Dann bekommt der Cardillac diese nächtlichen, alptraumhaften Züge, die ihn in die Nähe etwa von Fritz Langs Film M - eine Stadt sucht einen Mörder rücken. Das ist die Sphäre, in der Cardillac spielen muss. Das Barocke und Romantische sollte man eher abstreifen.

Premiere: Samstag, 22. April, 19.30 Uhr. Weitere Termine: 24., 25. und 30. April sowie 12. und 14. Mai.

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Dokument erstellt am 21.04.2000 um 20:57:12 Uhr
Erscheinungsdatum 22.04.2000