egotrip.de Jules Massenets "Werther" im Staatstheater Darmstadt Zum Ausklang des Goethe-Jahres musste auch noch einmal die Musik vor dem Jubilar sich verneigen, wenn auch nur mittelbar. In Darmstadt feierte kurz vor Weihnachten - passend zur Terminierung der Handlung - Jules Massenets Oper "Werther" - frei nach Goethe - Premiere. Katja Czellnik zeichnete für die Inszenierung verantwortlich, und Marc Albrecht steuerte den orchestralen Part bei. Wenn sich der Vorhang hebt, zeigt sich ein röhrenartiges, gleichsam abgeschlossenes Bühnenbild, vor dem zu den Klängen der Ouvertüre "bewegte Bilder" der Alltags- szenerie wie Automaten vorbeiziehen - das alte Ehepaar beim Essen, eine zum Fenster hinausschauende Frau oder ein genussvoll Badender. Die eher bedrückende Statik der Kulisse verweist auf eine starre, den Tradi- tionen verhaftete Gesellschaft, wobei sich diese Interpretation mehr aus dem Kontext als aus dem Bild ergibt. In diesem Umfeld läuft nun die sattsam bekannte Geschichte des unglücklich in die bereits vergebene Charlotte verliebten Werther ab. Die Handlung - so man den Ablauf überhaupt so nennen darf - beschränkt sich auf die mehr oder minder hoffnungslose Anbetung der Unerreichbaren, deren anfangs unschlüssige und später emphatische Reaktion und das unvermeidlich tragische Ende des Helden. Hier liegt bereits die Crux der Oper. Das Sujet erlaubt nicht die musikalische Entwicklung und Auflösung eines klassischen Konflikts mit seinen dramatischen Höhen und tiefen, sondern hier geht ein von vornherein festgelegter Ablauf stetig seinem Ende entgegen. Damit bleibt der Musik nur die Darstellung der Seelenlage, eigentlich eine klassische Aufgabe des Liedes. Jules Massenet jedoch war von dem Werther-Stoff derartig fasziniert, dass er die hochartifizielle und auf die Umsetzung von feinsten Stimmungsvarianten ausgerichtete Musik des ausgehenden 19. Jahrhunderts auf ihn anwendete. Dabei ging leider bereits bei der Entstehung der Oper ein wesentlicher Aspekt des Werther-Stoffes verloren. Die typische Gesellschaftsstruktur zur Zeit des aufbrechenden "Sturm und Drangs" existierte nicht mehr. Wenn auch das ausgehende 19. Jahrhundert nicht gerade durch übermäßige Toleranz gekennzeichnet war, war dennoch das gesellschaftliche Ambiente der Werther- Zeit nicht mehr gegeben. Damit reduziert sich die Oper vollständig auf die Geschichte einer unerfüllten Liebe. Jules Massenet hat dieses Di- lemma offen- sichtlich erkannt und versucht, den Ablauf durch zusätz- liche Personen aufzulockern und anzurei- chern. So schafft er mit Charlottes halbwüchsiger Schwester Sophie eine zweite Frauenrolle als Ergänzung zu Charlotte, und die beiden Säufer Schmidt und Johann stellen offensicht- lich nur ein Zugeständnis an ein vergnügungs- süchtiges Opernpublikum dar. Irgendeine dramaturgische Bedeutung lässt sich ihren Rollen nicht entnehmen. Katja Czellnik hat sich noch einige durchaus originelle Ideen einfallen lassen, die der Auf- lockerung und Erweiterung der Interpretation dienen. Ein stilisiertes Hochzeitsmahl mit automatenhaft Suppe löffelnden Gästen bildet im zweiten Teil über weite Strecken die Kulisse, und auch die Schemen der Alltags- bilder geistern wieder über die Bühne. Höhepunkt dieser Accessoires ist jedoch der angedeutete Hochzeitsmarsch, bei dem eine Gruppe schwarz gekleideter Paare unter der rückwärtigen Führung eines zusehends dicker werdenden Pfaffen in gedrechselten Bewe- gungen über die Bühne schreitet, das Braut- paar Lotte und Albert mitten unter ihnen - eingezwängt in die Rituale einer klerikalen Gesellschaft. Ein starkes und bühnenwirk- sames Symbol, als Zutat des späten 20. Jahrhunderts jedoch nicht unbedingt mit aktuellem Bezug. Die Musik folgt den stetig ansteigenden Gefühlen der Protagonisten. Während sich Werther über die gesamte Zeit kaum verändert - durchgehend unglücklich verliebt - entwickelt sich Lotte von einer ausgegliche- nen, ihrem vorgesehenen Gatten mit der notwendigen Neigung begegnenden jungen Frau zu einer tief liebenden und am Ende verzweifelnden Frau. Wenn sich hier über- haupt ein Konflikt anbahnt, dann in Lotte. Sie lebt den Konflikt jedoch bis auf einen kurzen Moment nicht aus und nimmt den Selbstmord Werthers aus Gehorsam gegenüber den Konventionen in gewisser Weise in Kauf. Die Musik zeichnet diese seelische Entwick- lung der weiblichen Hauptperson sozusagen hautnah nach, ermangelt dabei jedoch großer Themen oder Motive. Sie verinnerlicht sich sozusagen in kleinsten Bewegungen und Farbtupfern, um Seelenschwankungen wiederzugeben. Dies geht auf Kosten des großen Spannungsbogens und singulärer Auftritte, wie wir sie von den großen Opern der Klassik und der Italiener kennen. Die Musik zerfließt in Stimmungen statt ein großes Bild zu schaffen. Marc Albrecht gelingt es, diese Musik dennoch mit der notwendigen Intensität "auf den Punkt" zu bringen. Das Orchester um- spielt die Personen und Handlungen auf der Bühne, untermalt die oftmals eher gespro- chenen als gesungenen Dialoge der Haupt- darsteller und lässt ihnen auch in den expres- siven Szenen genügend Raum sich zu ent- falten. Doch auch das Orchester kann nicht immer die fehlende Spannung der Handlung und ihrer musikalischen Umsetzung ersetzen. Längen sind die Folge. Die auffallendste Länge dieser Oper reizt dabei sogar zum Lchen, distanziert man sich einmal etwas vom Geschehen auf der Bühne: angeblich blutüberströmt und sterbend wirft sich Werther noch einmal Lotte zum finalen Duett zu Füßen, seine Stimme versiegt, er bricht zusammen - nur um dann wieder aufzustehen, seine Ikarus-Flügel anzulegen und stehend mit kräftiger Stimme noch eine letzte Arie zu singen. Anschließend legt er sich brav wieder hin und stirbt - endlich. Bei aller Abstraktion des Bühnengeschehens wird hier die Glaubwürdigkeit der Abläufe doch arg in Mitleidenschaft gezogen. Eine Verkürzung der Sterbeszene wäre der Oper sicherlich besser bekommen. Die Sänger und Sängerinnen in Darmstadt jedenfalls taten ihr Bestes, aus dieser Oper noch einen Erfolg zu machen. Dabei hatten eigentlich nur Andreas Wagner als Werther und Michaela Schuster als Charlotte wirklich tragende Rollen. Auch Barbara Meszaros hatte durchaus öfter Gelegenheit, ihr Tempe- rament und ihre stimmlichen Qualitäten zu zeigen. Hans-Joachim Porcher als Amtmann hatte eigentlich nur zu Beginn einen längeren stimmlichen Auftritt und wurde im zweiten Teil zum permanenten Suppenlöffler degradiert. Peter Bordings Albert platzte entweder uner- wartet und unerwünscht zwischen die beiden Liebenden oder schlich kreuzunglücklich über die Bühne. Viel zu sagen - das heißt zu singen - hatte er nicht, und damit hatte auch Peter Bording keine großen Möglichkeiten zur musikalischen Gestaltung. Matthias Wohl- brecht (Schmidt) und Thomas Fleischmann (Johann) ließen sich nur wenige Male als singende Trinker oder trinkende Sänger im einer rollenden Theke über die Bühne schieben. Andreas Wagner gab einen eher verträumten und von vornherein verzweifelnden Werther, wirkte jedoch bisweilen etwas statisch und hätte stimmlich an einigen Stellen etwas markanter sein können. Michaela Schuster dagegen beherrschte von Anfang an die Bühne. Auf sie ist die Oper und die Musik zugeschnitten und sie füllte die Rolle jederzeit sowohl stimmlich als auch darstel- lerisch aus.Wenn diese Inszenierung letztlich als Erfolg gefeiert wurde, dann hauptsächlich ihretwegen. Das gilt nicht im selben Maße für die Regie. Nach begeistertem Beifall für die beiden Hauptdarsteller mischten sich kräftige Buh-Rufe zwischen die "Bravos", als Katja Czellnik auf der Bühne erschien. Das Publikum hat diese Inszenierung doch mit gespaltenen Gefühlen aufgenommen, und das sicher nicht nur wegen der von manchen vielleicht als blaspemisch aufgefassten Kleriker-Umzüge. |