egotrip.de
Januar 2000

Albrechts abendfüllender Abschied
4. Sinfoniekonzert mit Richard Wagners "Walküre"

Das traditionelle Neujahrskonzert des Staatstheaters in Darmstadt war diesmal gleichzeitig die Abschiedsvorstellung des Generalmusikdirektors Marc Albrecht, der sich in den letzten sechs Jahren nicht nur einen hervorragenden Ruf sondern auch die Sympathie des Darmstädter Publikums erworben hat. Sein letzter Auftritt sollte dabei noch einmal einen Höhepunkt darstellen: nach "Tristan und Isolde" im letzten Herbst brachte er jetzt Richard Wagners "Walküre" in einer konzertanten Version auf die Bühne. Bei dieser Form der Darbietung denkt so Mancher wahrscheinlich an einen schlechten Kompromiss, oft aus Geld- und Zeitnot geboren. Marc Albrecht schaffte es jedoch, die Zuhörer das Fehlen der Opern-Szenerie nicht fühlen zu lassen, so dicht und geradezu mitreißend war seine Interpretation der Wagnerschen "Musikdichtung". Den Begriff "Oper" mag man im Zusammenhang mit Wagner und vor allem der Walküre kaum benutzen, da dieser Assoziationen an eine Musikform weckt, die der Handlung selten Eigenständigkeit zugesteht und sie oftmals nur als Hintergrund der musikalischen Ideen benutzt.

Richard Wagner, der sich selbst zeitlebens eher als Dichter denn als Tonsetzer betrachtete und seine Werke - als Einziger - entsprechend einschätzte, betrachtete Libretto und Partitur nicht als zwei eigenständige, aufeinander bezogene Elemente der Oper, sondern bei ihm bilden Handlung, Sprache und musikalische Umsetzung eine aufs engste ineinander verwobene Einheit. Der Text ist genauso Musik wie der Gesang Handlung ist, ja, die Handlung existiert eigentlich nur in der Musik und wird vollständig durch diese ausgedrückt. Versteht sich, dass dabei ein erklärendes Rezitativ nicht nur überflüssig sondern geradezu widersprüchlich wäre. Diese Kunst- und Musikauffassung stellt natürlich die höchsten Anforderungen an Orchester, Dirigent und Sänger, da alle zusammen durch ihre musikalischen Mittel die ins Allgemeine überhöhte Handlung interpretieren müssen. Erholung gibt es da kaum, und die Sänger müssen denn auch - salopp gesagt - wie in einem Sportteam nach einem Aufzug ausgetauscht werden. In der Wagneroper geschieht dies jedoch nicht profan durch Wechsel der Darsteller sondern durch den wechselnden Auftritt verschiedener Personengruppen.

Die von Wotan "außerehelich" gezeugten Zwillinge Siegmund und Sieglinde treffen sich zufällig im Haus von Sieglindes Ehemann Hunding, Siegmund auf der Flucht vor seinen Verfolgern. Hunding erkennt Siegmund als seinen Feind und fordert ihn nach Gewährung einer Nacht der Gastfreundschaft zum Zweikampf. Die Wälsung-Geschwister erkennen sich und brechen gemeinsam in mehr als geschwisterlicher Liebe das Inzest-Tabu.

Wotan muss seiner ob seines Fremdgehens erzürnten Gattin Fricka Siegmunds Tod zugestehen und fordert die Walküre Brünnhilde auf, Siegmund im Zweikampf nicht beizustehen. Zwar kommt Siegmund im Zweikampf gegen Hunding durch Wotans Eingreifen zu Tode, Brünnhilde jedoch rettet die ebenfalls todgeweihte Sieglinde vor Wotans Wut und entführt sie zu den Walküren. Wotan verurteilt sie darauf zur Einsamkeit auf einer Burg mit brennenden Mauern, aus der sie dereinst nur Sieglindes Sohn Siegfried befreien wird.

Scheint die Handlung eher aus dem Geschichtsbuch des vorletzten Jahrhunderts zu stammen, so gewinnt sie doch durch Wagners Interpretation metaphorische Bedeutung über das nur Sagenhafte hinaus. Die Götter stehen hier für die Kulminierung der Idee des Individuums im 19. Jahrhundert. Alles ist auf die Einzelperson und deren Konflikte zentriert, Gesellschaft findet bei Wagner nur im Aufeinanderprallen einzelner Individuen statt. Die Konflikte entstammen dabei natürlich der menschlichen Welt: Treuebruch, Enttäuschung, Hass, Rache, Auflehnung, die sogar Tabus brechende Liebe, Strafe und Sühne.

© www.egotrip.de 2000