Giessener Anzeiger
25 Februar 2002

Zwischen Tragödie und Possenreißerei
"Ariadne auf Naxos" von Richard Strauss feiert im Stadttheater rauschenden Premierenerfolg
Anlässe zum Kreischen?

Von Michael Treutwein

Komödiantentruppe im Stil der zwanziger Jahre:
Henrietta Hugenholtz mit Christian Tschelebiew. Bilder: Engelke

Ariadne (Larysa Molnárová) begegnet dem Gott ihrer Träume (Jeroen Bik), der ihr nicht den Tod, sondern die Liebe bringt.Der junge, ebenso empfindungsvolle wie empfindliche Komponist (Henrietta Hugenholtz, links) benötigt noch den Beistand des Musiklehrers (Andrew Costello).

GIESSEN. Rauschender Premierenerfolg: Als am Samstagabend im Gießener Stadttheater nach der Aufführung der Richard-Strauss-Oper "Ariadne auf Naxos" der Schlussvorhang fällt, branden, ja donnern die Beifallswogen. Demonstrative Bravorufe (ehrliche und auch von leicht erkennbaren Claqueuren angestimmte) mischen sich beim Auftritt mehrerer Solisten darunter, dann auch ein greller Pfiff, als sich Dirigent Stefan Malzew verneigt. Und Regisseur Georg Rootering bewährt sich bis zum letzten Moment; sogar die Inszenierung der Schlussvorhänge wirkt mit großem Bedacht kalkuliert und dehnt den Applaus so lange wie nur möglich hinaus.

Dass diese Ariadne-Oper ein gescheites, hochartifizielles, nicht nur verehrungswürdiges, sondern auch überaus liebenswertes Meisterwerk ist, muss nicht lange ausgeführt werden. Selbstbewundernde und geistreich reflektierende Äußerungen lassen sich beim Textdichter Hugo von Hoffmannsthal und beim um Eigenlob nie verlegenen Komponisten Strauss in Fülle finden. Daher hier lieber eine giftige Anmerkungen, die einige aktuelle Gedanken zum Werk anstoßen kann: "Ich würde gern alle Strauss-Opern einem Purgatorium überlassen, das triumphierende Banalität bestraft. Ihre musikalische Substanz ist billig und armselig, sie kann einen Musiker heute nicht mehr interessieren. Ich kann die Quartsextakkorde nicht ertragen; die Ariadne erweckt in mir den Wunsch zu kreischen." Das äußert in leicht durchschaubarer Häme Igor Strawinsky.

Aus heutiger Sicht verwundert und amüsiert, dass dem großen, repräsentativen Meister der Moderne nicht die eigene Nähe zu dem konservativ gewordenen, großbürgerlichen deutschen Kompositions-Genie aufgefallen ist: die stilistischen Maskeraden und Anverwandlungen, der bewusste Einsatz von Banalität, die technisch aufgerüstete Virtuosität. Eingelöstes VersprechenFür hochgeistiges Niveau und intellektuelle Schärfe sorgt Hoffmannsthal; mit dramaturgischem Instinkt und untrüglicher musikalischer Effektsicherheit reichert Strauss das Werk an. So verschafft es heutzutage ungeschmälertes Ergötzen, dieses in Zitaten und Doppelbödigkeit schwelgende Ineinander von Parlando und Belcanto, von Tragödie und Possenreißerei zu erleben.

Regisseur Georg Rootering versprach im Vorgespräch, die Genauigkeit des Textes zum Maßstab zu nehmen, die unermesslichen Schönheiten der Musik zu achten, das Werk nicht zu denunzieren. Mit ersichtlicher Erfahrung und mit fantasievollem Geschick setzt er diese sympathischen Vorhaben erfolgreich um, bietet angemessene Werk-Wiedergabe, nicht eigenmächtige oder gar mutwillige Werk-Deutung.

Des Guten zu viel Der Gefahr, des Guten zu viel zu tun und den Ablauf mit Ideen zu überfrachten, entkommt er aber nicht immer. In Zerbinettas großem Bravour-Solo etwa stehen zwei Frauen auf der Bühne, eine singt und girrt sich die Kehle aus dem Hals, die andere ist ewig nur stumm. Was tun? Bei Rootering übernimmt ein langes, weißes Tuch, in das sich Ariadne vorher schon in umständlichen Draperien eingeschlagen hat, die Hauptrolle: Zerbinetta wickelt es auf, schlägt es um sich selbst, wickelt es wieder ab, hin und her und im Kreise herum. Das macht letztlich nicht viel Sinn, sorgt aber für optische Beschäftigung; kein übler Profi-Trick. Der Abend wimmelt von ihnen, beginnend mit dem aufwändigen Statisterie-Einsatz des Vorspiels, und verzettelt sich mit ihnen spätestens vom Beginn des Bacchus-Auftritts an.

Muss noch ausführlich würdigend erzählt werden, dass der Handlungsort (laut Haushofmeister "ein so jämmerlicher Schauplatz wie eine wüste Insel") sich in ein feudales Marmor-Schwimmbecken verwandelt hat und aus Ariadnes Höhle ein erhöhtes Podest geworden ist? Hank Irwin Kittels Ausstattung strahlt trotz solcher (gut überlegter und begründbarer) Verstöße gegen die Vorgaben solide Gediegenheit aus und dient der Oper im positiven Sinn. Dass die Komödiantentruppe mit viel Witz und Liebe zum Detail im Varieté-Stil der zwanziger Jahre ausgestattet ist, bringt zwar - im Vergleich zum gewohnten Commedia dell Arte-Stil - keinen besonderen Gewinn, stört aber auch nicht.

Warum fühlt sich Strawinsky ausgerechnet bei der "Ariadne" zum Kreischen animiert? Vieles - doch nicht alles! - ist duftig und filigran komponiert, mit herrlich farbigem 36-Kopf-Orchester, in glänzender Charakterisierungskunst und Lautmalerei. Dirigent Stefan Malzew betont, wie es seine Art ist, die vitalen Elemente, kann dabei leider das Aufbauschen nicht immer vermeiden und deckt mit der Klangproduktion aus dem Orchestergraben viel häufiger als nötig die Gesangstimmen zu. Doch die erheblichen instrumentalen und rhythmischen Kniffligkeiten der Partitur funktionieren, auch dank der einsatzfreudigen Gutgestimmtheit des Orchesters, hervorragend.

Grenzen des AngenehmenUnd nun nochmals das Schlüsselwort "Kreischen", auf die gesanglichen Eindrücke des Abends bezogen. Feiner ausgedrückt ließe sich auch vom Forcieren reden, und dieses wird leider von einigen der Protagonistinnen und auch der Herren nicht vermieden. Henrietta Hugenholtz etwa in der Hosenrolle des Komponisten gerät - Bravorufe her und hin - bei prinzipiell ausdrucksvoller und anmutiger Gestaltung häufig in die Grenzbereiche des Angenehmen.

Dagegen gibt im Streben nach Piano-Verfeinerung erfreulich diszipliniert und mit starker Verinnerlichung, freilich auch mit den üblich lodernden Spitzentönen Larysa Molnárová eine würde- und gefühlvolle Ariadne. Mit heller, koloraturen- und höhensicherer Geschmeidigkeit, aber ohne verführerischen, mondän-sinnlichen Appeal führt Rachael Duncan die publikumsumjubelten Glanzparaden der Zerbinetta vor. Drei Chorsängerinnen, Susan Clark, Mary Lazar und Rodica Mitrica-Badircea, sind betraut mit den lyrischen Herausforderungen der drei Waldnymphen; vor allem die zwei Sopranistinnen bewähren sich vortrefflich.

Die zwei Spieltenöre Thomas Stückemann und David-Erich Fankhauser geben der Komödianten-Truppe ebenso charakteristische Farbe und Beweglichkeit wie die Samt-Tiefen des Harlekins Mikael Babajanyan und seines Konkurrenten Truffaldin (Christian Tschelebiew). Andrew Costello setzt im Vorspiel seine würdevolle Erscheinung und stimmliche Markanz als Musiklehrer gezielt ein. Relativ mühelos (doch in stets gleichbleibender Stimmfarbe auch recht gefühllos wirkend) stemmt Jeroen Bik die heldentenoralen Entladungen des Bacchus.

Endlich verstummt Wenn dieser Gott sein Erlösungswerk getan, die todeswillige Titelheldin in kätzchenhafte Liebesbereitschaft versetzt hat, und endlich verstummt, stellt sich große Erleichterung ein.