Dokument des "Widerstands" oder nicht?
"Auf den Marmorklippen": Die Uraufführung von Giorgio Battistellis Jünger-Oper mit La Fura dels Baus gerät in Mannheim zur Allegorie des
Video-Zeitalters
von GERHARD R. KOCH
Ernst Jünger und kein Ende. Als der Schriftsteller 1998 mit fast einhundertdreiJahren starb, da zitterten manch alte Konflikte noch nach, aber der Respekt vor der "Jahrhundertfigur" im wahrsten Wortsinne überwog. Doch kurz zuvor, bei der Verleihung des Frankfurter Goethe-Preises, hatte es noch Aufruhr, harsche linke Kritik gegeben: am Militaristen, Kriegs- und Gewalt-Verherrlicher, dem Protagonisten eines elitär-antidemokratischen Herrenmenschentums. Und trotzig hatten die Wortführer der "Neuen Rechten" und ihres Organs "Junge Freiheit", Heimo Schwilk vor allem, Jünger erneut auf den Schild gehoben, während französische Intellektuelle sich abermals von Jüngers Nähe zur "Schwarzen Romantik", zu Poe und Baudelaire, Surrealismus und Anarchismus fasziniert zeigten. "Das abenteuerliche Herz" verwies auf diesen "anderen" Jünger, indes das Weltkrieg-I-Tagebuch "In Stahlgewittern" und "Der Arbeiter" (1932) die Nähe zum "Völkischen" und zur nationalsozialistischen Bewegung dokumentierte. Daneben gab es den schier naturmystisch-akribischen Blumen- und Käfer-Kult. Jünger: eine schillernde Gestalt.
Daß bislang die Komponisten um Jünger einen Bogen gemacht haben, ist kein Zufall. In Deutschland zumindest wäre der Ruch des "Rechten" suspekt genug. In Italien sieht das anders aus, ist man womöglich unbefangener. So stammen die beiden bislang wohl einzigen Jünger-Vertonungen von Giorgio Battistelli, 1953 bei Rom geboren: "Anarca. Hommage à Ernst Jünger", 1989 in Nizza uraufgeführt, und nun das Musiktheater "Auf den Marmorklippen" am Mannheimer Nationaltheater. Nimmt man die Textvorlagen Battistellis, so kann man ihn schwerlich den Rechten oder gar Deutschnationalen zuordnen. Begonnen hatte er 1981 mit "Experimentum Mundi", bei dem die in ihrem Metier akustisch arbeitenden Handwerker seines Heitmatdorfes die Hauptrolle spielten. Jules Verne, Pasolinis "Teorema", Fellinis "Orchesterprobe", Artaud, der Surrealist Raymond Roussel, Brecht und Sten Nadolnys "Die Entdeckung der Langsamkeit" (Bremen 1997) belegen weite literarische Vorlieben.
Jünger freilich hat es Battistelli angetan: Ein Foto von 1988 zeigt Autor und Komponist, der seit 1986 an den "Marmorklippen" arbeitet, fast in Vater-Sohn-Konstellation. Nun gibt es wenige Romane, die mit soviel Mystifikation behaftet sind, so polare Deutungen erfahren haben wie "Auf den Marmorklippen". Als es 1939 erschien, wurde das Buch von vielen, in wie außerhalb Deutschlands, als allegorische Parabel auf die NS-Herrschaft gelesen: als politischer Schlüsselroman. Da liegt an einem paradiesischen Gestade ein hehrer Garten, in dessen "Rautenklause" zwei botanisierende Brüder wirken - eine heile, archaische Welt, dennoch bedroht vom "Oberförster", der mit seinen marodierenden Horden die finsteren Wälder beherrscht, alle unterjocht und auch die "Marina" bedroht. Die Brüder entdecken "Köppelsbleek", Mord-, Folter- und Schinderstätte der Unholde, die vollends nach 1945 als KZ-Anspielung gesehen wurde. Es kommt zur Entscheidungsschlacht zwischen den Bewohnern der Marina, verstärkt durch die Mannen und vor allem Hunde des atavistischen Hirten Belovar, und den Rotten des Oberförsters, die siegen. Der Garten Eden geht in Flammen auf, die Überlebenden schiffen sich nach Alta Plana ein, Chiffre der Schweiz? Im Oberförster glaubte man Hitler erkennen zu können, vielleicht auch den jovialen "Reichsjägermeister" Göring, analog im edel-adligen Schwächling Sunymara Verschwörer des 20. Juli.
Der Roman mit Zügen eines manieristischen "Concetto" mischt Zeiten und Ebenen: Mythos, Renaissance und Gegenwart rückt Jünger in die Nähe des zeitpolitisch intendierten "historischen" Romans der dreißiger Jahre. 1972 hat Jünger den antinazistischen Interpretationen widersprochen, sich trotzig gegen den Zeitgeist vom "Widerstand" distanziert, auf dem Artefakt beharrt, später freilich die Relevanz der Motive eingeräumt. Die neuerliche Lektüre allerdings ernüchtert. Die florale Jugendstilornamentik, die manichäische Polarität von asketisch-frauenlosen Edelmenschen und grusligen Untermenschen, die unverhohlene Lust an der Schilderung zentralen Gemetzels erinnern an den "Herrn der Ringe", die Sprache ächzt unterm eigenen Faltenwurf. Wer Jünger großer Literatur zuschlagen will, möge die Maßstäbe prüfen.
Battistelli und Giorgio van Straten haben den dialoglosen Roman auf neun Szenen reduziert, "musikalischen Visionen" dienstbar gemacht, das Narrative verschmäht und doch an der Stationenfolge festgehalten. Battistelli gelingt es wieder, diesen quasiautonome, eher sinfonisch-oratorische Konstellationen zuzuordnen. Mit insgesamt herkömmlichen instrumental-vokalen Mitteln evoziert er die Reiche von Licht und Finsternis, läßt heile Natur dunkel vibrieren und utopisch gleißen, Festglanz mediterran pulsieren und die Bösen in Schlagzeug-Ostinati und Baß-Dröhnen dräuen, bietet für den Endkampf gewaltige tutti-Exzesse auf. Wobei den Chören enorme Klangsymbolik aufgebürdet wird. Aber immer wieder gibt es auch Passagen seraphischer Friedensvisionen, Madrigale der Weltentrücktheit, lyrisch beseligende Inseln inmitten gräßlichsten Horrors. Die beiden Erzähler-Brüder sind Baritone, der Fürst ist Tenor, der Oberförster wird durch vier Bässe zum Horror, Frauen(stimmen) haben bei Ernst Jünger nichts zu suchen.
Battistellis Partitur hat durchaus imaginative Qualitäten, suggeriert große charakteristisch tönende Einheiten, verzettelt sich nicht im Episodischen oder Deskriptiven, vermag darin immerhin mächtig die Jüngerschen Mythen-Hohlräume zu füllen. Deren dekorative Sprach-Leere freilich schlägt auf die Musik zurück: Das Grauen dröhnt nicht selten plakativ, das Heil ist bisweilen durch schier nazarenische Klangseligkeit gefährdet. Da wird Battistellis an sich sympathische Stilfreizügigkeit zur Grenze, das Hineingreifen in die Kiste historischer Ton-Ikonographien heikel. So leicht ist unmittelbar wirkender Musik-Sprach-Ausdruck nun auch wieder nicht abrufbar.
Doch nicht nur Komposition und Sujet der Mannheimer Uraufführung waren spektakulär: Die furiose katalanische Theatertruppe "La fura dels baus" hatte die Inszenierung übernommen und blieb ihrem Ruf wenig schuldig. Seit bald zwanzig Jahren frappieren die "Kanalratten" mit ihrer einmaligen Mischung aus enthemmtem, choreographisch angespitztem Grotowski-Körpertheater und wuchernder Video-Ästhetik. Ob mit Debussys "Sebastian" in Valencia oder Berlioz' "Faust" in Salzburg: "La fura" attackiert die Sinne. Die "Marmorklippen" bedürfen solcher Schubkraft, und die Theatralisierung schafft es auch, die Jünger-Gegenwelten durcheinander zu wirbeln. Denn "heil" ist hier keine Sphäre. Selbst die Blumen-Esoteriker arbeiten in der Techno-Klause am Bildschirm, formieren sich kreisförmig zum Computer-Ornament der Masse.
Gewiß, die "Guten" sind weiß, die Försterlinge à la "Yellow Submarine" blau. Aber Cyber-Lemuren sind sie letztlich alle. Doch den "Endkampf" tragen sie mit ihren Hunden aus. Dafür bedienen sich die Technoiden der Humanoiden am Halsband - wie in Pasolinis "Saló". Personen-Aktion und Video-Animation sind gewohnt virtuos verzahnt. Da sieht man unendlich schöne Mittelmeer-Marmorklippen vorbeikreisen, Jünger-Sätze aufscheinen, und raffiniert relativierend werden aus Blumen Motoren, Turbinen, schließlich Waffen: Natur und Technik im Bann des gleichen Verderbens. Die Gefolterten hängen leibhaftig verkrümmt von der Decke, auf den schräg sich erhebenden Podien agieren die Lemuren. Kalt ist diese Welt, durchaus analog zu der Jüngers, bis in die "Götterdämmerungs"-Video-Feuersbrunst: darin freilich auch letztlich kaleidoskopisch wertfrei in sich selbst befangen. Protagonisten, Chor und Orchester unter Adam Fischer sorgten für musikalische Suggestion. Trotzdem blieben diese "Marmorklippen" fern. So fern wie Jünger.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.03.2002, Nr. 59 / Seite 45