Frankfurter Rundschau
28. Mai 2002

Macht und Ohnmacht eines Volkshelden
Unversöhnt: Christof Nels beklemmend aktuelles "Meistersinger"-Remake
in Frankfurt

Von Hans-Klaus Jungheinrich

"Merkwürd'ger Fall", könnte man mit Meister Kunz Vogelgesang sagen. Eine Neuinszenierung von 1993 wird neun Jahre später nochmals als echte Premiere kredenzt. Will sich Opernintendant Martin Steinhoff mit einem dreisten Etikettenschwindel verabschieden? Das (überarbeitete) Remake der Meistersinger von Nürnberg in der Szenographie von Christof Nel konnte sich, wie auch immer firmiert, durch zweierlei legitimieren: Als Erinnerung an eine bedeutende Arbeit, die damals nach nur sieben Vorstellungen von der Frankfurter Opernbühne verschwand, weil sie für eine erste schwere Verstimmung zwischen Steinhoff und dem neuen Co-Intendanten Sylvain Cambreling geführt hatte (dieser hätte das Wagnerstück gerne selbst herausgebracht; Steinhoff war ihm zuvorgekommen, und bloß als Nachdirigent amtieren wollte Cambreling nicht). Der vielleicht wichtigere Anlass für eine Reaktivierung der rigoros interpretierten deutschesten aller Opern war aus dem politischen Zeitgeist zu erspüren, wenngleich kaum so richtig planbar. Dass sich unmittelbar in den Tagen vor der Premiere erneut eine erregte öffentliche Debatte um Antisemitismus in Deutschland ergeben würde, verschaffte diesen Meistersingern einen auch wieder überraschenden, beklemmenden Aktualitätsschub.

Natürlich gilt's in diesem Großwerk "der Kunst" und ihrer Erneuerung in einer reichen, selbstbewussten Bürgerkultur. Diesen gewissermaßen aufgeklärt-liberalen Erzählstrang betont Nel wohlweislich nicht. Er geht einer nicht minder zentralen, vergifteteren Handlungskomponente nach, die mit dem Ausschluss Beckmessers (einer dezidierten Judenkarikatur) verbunden ist. Viel Exegetenfleiß ist auf den Nachweis verschwendet worden, dass der geachtete Stadtschreiber im Nürnberg des 16. Jahrhunderts überhaupt kein Jude hätte sein können. Doch Wagner ging es nicht (nur) um historische Triftigkeit, sondern (auch) um Ressentimententladung, und von daher ist die Markierung des jüdischen Intellektuellen unabweisbar. Als positiv gemeinte kerndeutsch-volksverbundene Gegenfigur fungiert Hans Sachs. Er stiftet Kunst-Versöhnung zwischen den Traditionalisten und dem Neuerer, aber auf Kosten des blamierten und eliminierten Beckmesser. Nel entsorgt ihn auf der Festwiese umstandslos, nur seine Laute, Attribut einer schmerzlichen Kunstbegeisterung, bleibt zurück. Zuvor schon, in der Prügelfuge des zweiten Aktschlusses, war der Merker heftig verprügelt worden - er allein und unter dem Zeichen des gelben Davidsterns; zu einer allgemeinen "fröhlichen" Schlägerei hatte es Nel hier nicht kommen lassen, und nochmals überdeutlich schien eine riesengroß einfahrende Zeigefingerhand auf gezieltes Pogrom zu verweisen. Folgerichtig wurde zum Losungswort der Festwiese die Rückwand-Schmierschrift "Raus".

Im abstrakten, von Rechteckquadern bestimmten Bühnenbild (Nel/Thomsen/Vequel-Westernach) hatte altdeutsch-atmosphärischer Naturalismus keinen Platz; der Rahmen eines Demonstrations- und Thesenstückes schien vorgegeben. Die kahle Helligkeit reichte bis zum Schusterstubenbild; danach die vielsagende Einschwärzung der Festwiese, unmissverständlich mutiert zum Schauplatz von Verstörung und sich anbahnender national(istisch)er Katastrophe.

Diese Entwicklung manifestiert sich vor allem im Tun des Volkshelden Sachs. Dieser hatte im 2. Akt der Verprügelung Beckmessers lange tatenlos zugesehen. Seine gottähnliche Rolle in der Festwiesen-Apotheose demontiert Nel mit Nachdruck. Die angestrebte Versöhnung misslingt. Das "hohe Paar" Eva/Stolzing verweigert sich der Eingliederung in die Meisterkultur. Beim abschließenden Jubelchor wandelt sich die zuvor "zivile" Freizeitgesellschaft zum militaristischen Kollektiv. Der isolierte Sachs kann beim Schlussakkord nur noch mit einer resignierten Gebärde auf die von ihm herbeigeführten Konsequenzen hinweisen, die seinem Willen entglitten sind (ein angenehmer Zug von Fairness, den Nel der Wagner'schen Identifikationsfigur widerfahren lässt).

Es wäre aber verfehlt, Nels Ausdeutung allein aufs politisch Tendenzhafte fixieren zu wollen. In vielen Details verschaffte er dem Stück schlüssige psychologische (und auch veritabel komödiantische) Unterfütterung, nicht zuletzt durch ausgefeilte Personenregie. Alle Rollen (mit Ausnahme des Nachtwächters von Franz Mayer) waren neu besetzt. Verändert vor allem die Statur des Stolzing, den Jay Hunter Morris mit etwas rauer, aber über drei lange Akte hinweg unermüdeter Stimme sang: der Ritter mit grotesk unhandlichem Schwert, zunächst als cooler Beatnik unter den Stehkragenmeistern (Kostüme: Ilse Welter), am Ende als elegant Herausgeputzer in weißer Uniform. Scharf, aber nicht denunziatorisch profiliert der Beckmesser von Dale Duesing. Kantabel ausschwingend, aber leider wenig textverständlich die spielgewandte Eva von Nancy Gustafson. Hell und klar timbriert der Charaktertenor Michael Nowak als David, sinnfällig schwankend zwischen Keckheit und geduckter Unterwürfigkeit (Nel zeigt, dass die Lehrbuben unter den Meistern nichts zu lachen haben). In jedem Ton, jeder Geste ausdifferenziert Elina Garancas Studie des "späten Mädchens" Magdalene, reif für einen "Nebenrollen-Oscar". Magnus Baldvinssons Pogner versagt sich salbungsvolle Ausladendheit. Machtvoll bis hin zu fafnerisch-dämonischen Facetten der Sachs von Jan-Hendrik Rootering, der seinen Part charakteristisch ins Wuchtige, Gewichtige lenkt. Wie kaum ein anderer exponiert Nel auch die erotisch-autoritative Faszination, die von Sachs auf Eva ausstrahlt.

Vom Dirigentenpult her gibt Paolo Carignani der sommerheiteren, überquellenden und tiefgründigen Meistersinger-Musik neue Farbigkeit und Intensität. Es war sein Abend ebenso wie der von Nel. Schon im ersten Orchestervorspiel frappieren Leichtigkeit und Transparenz, die Durchhörbarkeit des vielstimmigen Gewebes, zugleich das Überredende, Übereifrige, Überausführliche der Rhetorik. Komplementär dazu die gelassen-ruhevolle Abtönung der Einleitung zum dritten Akt. Beeindruckend aber auch die Beweglichkeit der Sängerbegleitung, die Leuchtkraft der Ensembles und Chöre (minuziös einstudiert von Andrés Maspero), zugespitzt natürlich im wohlabgestimmten Quintett der Schusterstube. Die Diktion des letzten Finale ragt ins Unheimliche. Ein Dröhnen, das frösteln macht. Es ehrt Steinhoff immerhin, dass er seinen Abgang nicht affirmativ überwölbte, sondern, sozusagen als Testament, eine unbequeme Warnung vor deutscher Ideologie hinterlässt.

Oper Frankfurt: 30. Mai, 2. Juni.

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Dokument erstellt am 27.05.2002 um 21:06:50 Uhr
Erscheinungsdatum 28.05.2002

 

Frankfurter Neue Presse
28.5.2002

Christus straft die Meistersinger
Christof Nel hat seine „Meistersinger"-Inszenierung von 1993
für die Frankfurter Oper wieder aufbereitet.

Von Michael Dellith

Dass es auch diesmal keine fränkische Butzenscheiben-Romantik geben würde, war zu erwarten. Stattdessen wieder karge weiße Wände, soweit das Auge reicht – am Sparprogramm der Frankfurter Bühnen hat sich seit 1993 ja auch nichts zum Besseren gewendet. Nel und sein Ausstattungsteam mit Max von Vequel-Westernach und Dorien Thomsen (Bühnenbild) und Ilse Welter (Kostüme) inszenieren sehr reduziert und über weite Strecken statisch, mit wenigen, dafür symbolträchtigen Details. So hängt während des ganzen 1.Aktes ein Gekreuzigter an der Wand, um beim Tumult der empörten Meistersinger vom Kreuz herabzusteigen und strafenden Blickes durch die Menge zu schreiten; zum Finale der Prügelszene im 2.Akt, bei der sich das Volk bedrohlich zu einem Block formiert und mit Davidssternen herumfuchtelt, fährt eine Hand Gottes mit riesigem Zeigefinger vom Schnürboden herab, und im 3. Akt kommen überdimensionierte blondzöpfige Frauen-Puppen zum Einsatz. Doch jetzt sind alle Wände schwarz, statt üppigem Festwiesen-Grün liegt tiefe Finsternis über der Szene. Die „Meistersinger" tragen Trauer, so als könnte die Oper nach dem Missbrauch zur Reichstags-Propaganda nie mehr unschuldig weiß daherkommen. Nel inszeniert also die Nazi-Vergangenheit der „Meistersinger" durchaus mit, will aber die Problematik der Ausgrenzung und des Fremdenhasses ins Allgemeingültige erhoben wissen. So steht an der Wand mit Kreide geschrieben „Raus!", und nicht etwa „Ausländer raus!" oder „Nazis raus!". Zu den „Heil"-Rufen des „Wacht-auf"-Chores gibt es auch keinen Hitler-Gruß. Und wenn das Volk zu dieser Hymne in schwarzen Stiefeln die rechte Hand aufs Herz legt, will das eine patriotische Geste sein, die so überall zu finden sein könnte.

Stimmlich überzeugten an diesem Abend vor allem Jan-Hendrik Rootering als Schuster Sachs mit souverän geführtem, voluminösen Bariton, den nichts so schnell aus der Ruhe bringen konnte, und sein mit Dale Duesing auch schauspielerisch glänzend besetzter Widersacher Beckmesser, der zum Prügelknaben der Gesellschaft wurde. Jay Hunter Morris mit T-Shirt und Hosenträgern versprühte seinen Freibeuter-Charme als Ritter Stolzing auch stimmlich mit einem leicht strapazierten metallischen Timbre. Tadellos, aber recht neutral im Ausdruck mimte Nancy Gustafson Pogners Töchterchen Eva, die ständig verlegen an ihrer weißen Strickjacke herumnestelte; einen gestrengen Vater Pogner gab Magnus Baldvinsson, während Michael Nowak mit seinem leichten Tenor den Lehrjungen David bubenhaft durchtrieben zeichnete. Meisterlich agierte das Lehrbuben-Ensemble, uniform mit kurzen Mänteln und weißen Kniestrümpfen bekleidet. Der Chor entwickelte, wenn es sein musste, eine schier umwerfende Klangfülle.

Die eigentliche Überraschung dieser Premiere aber kam aus dem Orchestergraben. Paolo Carignani demonstrierte, wie „italienisch" Wagner klingen kann. Mit viel Binnenspannung hielt er die Musik beweglich in ihrem dramatischen Wogen, zuweilen mit kammermusikalischer Delikatesse; die Streicher durften sinnlich blühen, das Blech samtig trumpfen. Und so gab es reichlich Bravos für den Dirigenten, der seine Musiker zum Schluss-Applaus auf die Bühne holte und neben dem fabelhaften Chor (Einstudierung: Andrés Máspero) feiern ließ, während wie schon 1993 über das Regie-Team ein Buh-Sturm hereinbrach.

 

Darmstädter Echo
28.5.2002

Unterm Davidsstern
Wagners „Meistersinger": Christof Nel inszeniert die unheilvolle Geschichte dieser Oper mit –
Bravos, Buhs und Pfiffe bei der Premiere

Von Klaus Trapp

FRANKFURT. Wenn es am Ende des zweiten Aktes von Wagners Oper „Die Meistersinger von Nürnberg" zur nächtlichen Prügelei kommt, ist der „Merker" Sixtus Beckmesser das geschundene Opfer. In Christof Nels Frankfurter Neuinszenierung, die auf eine Fassung von 1993 zurückgeht, werden bei dieser Aktion auf bedrohliche Weise gelbe Davidsterne geschwungen, und Beckmesser wird am Ende mit einem solchen „Judenstern" bedeckt. Nel nimmt die unheilvolle Geschichte dieser Oper gleichsam in seine Deutung auf, er stellt das Thema der Verfolgung von Andersdenkenden, des Hasses auf alles Fremde in den Mittelpunkt.

Nels abstraktes Bühnenbild verzichtet denn auch auf alle historischen Anspielungen. Bezüge zum alten Nürnberg sucht man vergebens, und auch die Kostüme, von Ilse Welter entworfen, sind zeitlos gehalten. Kahle helle Wände, die dreh- und verschiebbar sind, rahmen das Geschehen, wenige Symbole zeigen die Denkrichtung an. So hängt während des gesamten ersten Kirchenaktes ein Gekreuzigter an der Wand, der schließlich herabsteigt, wenn die Meister sich wütend mit dem stolzen Junker auseinandersetzen. Der zweite Akt steht unter dem Zeichen des Davidsterns, das in den Plafond geschnitten ist, und es hätte des herunterfahrenden überdimensionalen Zeigefingers der „Hand Gottes" nicht bedurft, um diesen Hinweis zu verstehen. Das Schlussbild ersetzt die Festwiese durch einen dunklen Raum, an dessen Mauer unübersehbar das Wort „Raus" gepinselt ist: Anspielung auf die Ausländerfeindlichkeit, die man der nationalistischen Ansprache des Hans Sachs entnehmen mag. Zum Ende marschiert das Volk in Knobelbechern auf; man soll sich erinnert fühlen an die Zeit, da Wagners Oper als Inbegriff nationalsozialistischer Verherrlichung missbraucht wurde. Der Aufmarsch der Zünfte, sonst als folkloristisches Spektakel zelebriert, ist hier in ein skurriles Ballett verwandelt, wenn die Bürger als überlebensgroße Marionetten sich wie in einer programmierten Maschinerie bewegen.

Die Wiedergabe der Partitur durch Paolo Carignani und das Frankfurter Museumsorchester entspricht diesem Inszenierungsstil in der unpathetischen und doch kontrastreichen Art des Musizierens. Schon das Vorspiel klingt bemerkenswert schlank und federnd, durchweg ist die Balance zu den Sängern gewahrt, so dass die enge Verbindung von Wort und Ton immerhin über weite Strecken gewahrt bleibt. Erst beim martialischen Finale erlaubt sich Carignani, den Klang zu forcieren, als wolle er Nels Interpretationsansatz unterstreichen.

Als Hans Sachs gibt Jan-Hendrik Rootering von Gestalt wie Stimme her ein eindrucksvolles Debüt. Sein kerniger Bariton übertönt auch noch die heftigsten Orchesterfluten, für die Monologe wünschte man sich mehr Differenzierung. Eine Paraderolle für den Bass Dale Duesing ist die Partie des Beckmesser. Der Sänger zeichnet die zwielichtige Figur mit Humor, ohne ins Karikieren zu verfallen. Ein Kabinettstück ist sein Ständchen im zweiten Akt. Mit strahlendem Heldentenor stattet Jay Hunter Morris die Rolle des Walther von Stolzing aus, gipfelnd im herrlich gesungenen Preislied. Mit warmem Sopran überzeugt Nancy Gustafson als Eva. Das gesamte Ensemble beeindruckt durch Harmonie, wie auch der von Andrés Máspero vorzüglich einstudierte Chor. Am Ende gab es einhelligen Beifall für den Dirigenten, die Sänger und das Orchester, das Inszenierungsteam musste sich neben Bravorufen auch heftige Buhs und Pfiffe gefallen lassen.

Weitere Vorstellungen am 30. Mai und 2. Juni. Die Aufführung am 30.
Mai wird live im Hörfunk übertragen: HR Klassik, 16.30 Uhr.

 

Wiesbadener Kurier
28.05.2002

Parteitag auf Nürnbergs Festwiese
Frankfurt: Christof Nels rabenschwarze „Meistersinger" zum Intendanten-Finale

Von Kurier-Redakteur
Volker Milch

Da kommt wieder einmal Stimmung auf in Frankfurts Opernhaus: Die „Meistersinger"-Festwiese ist ein nachtschwarzer Kasten, in dem ein Gauleiter namens Hans Sachs Regie führt und die Zünfte mit bleichen Schwellköpfen ihr unheimliches Spiel treiben.

Christof Nels Deutung der Oper war schon 1993 ein rotes Tuch für Wagnerianer der strengen Observanz und beweist jetzt in ihrer als Premiere verkauften Wiederaufnahme, dass sie vom damaligen Reizwert nichts verloren hat. Der scheidende Opern-Intendant Martin Steinhoff setzt zum Abschied auf Provokations-Potenzial aus seiner ersten Spielzeit in dieser Funktion – und wird nicht enttäuscht: Im Publikum brüllt man hemmungslos. Womöglich wären weite Kreise mit einer Festwiesen-Folklore à la Wolfgang Wagner tatsächlich zufriedener gewesen als mit der bei aller Fragwürdigkeit grandios radikalen Schlusslösung von Christof Nel: Hier wird nicht versucht, die berühmt-berüchtigten Schlussworte des Hans Sachs weichzuspülen, den Blick ins unverbindlich Utopische zu weiten und den ausgegrenzten Beckmesser nach bewährter Bayreuther Manier womöglich noch heim ins Volk zu holen. Nein, auf Nürnbergs Festwiese herrscht Parteitags-Stimmung, und Beckmesser, den Nel als antisemitisches Zerrbild auffasst, hat unter brüllenden Massen keinen Platz. Es scheint so, als wolle Frankfurts Generalmusikdirektor Paolo Carignani hier auch ein dickes Fragezeichen hinter die kompositorische Dignität setzten, denn er lässt die Chöre teutonisch knallen: Ironie im Fortissimo?

Ansonsten fehlt es im Musikalischen nicht an Seriosität: Das neue Ensemble muss sich hinter der Besetzung von 1993 gewiss nicht verstecken, im Gegenteil: Eine vokale Urgewalt ist der Sachs des Jan-Hendrik Rootering, dem in den großen Monologen doch eine enorme Palette differenzierten Ausdrucks zur Verfügung steht. Eine Erscheinung von sinistrer Jovialität, wie sich dann im Schlussbild zeigen soll, ein Strippenzieher der Macht auch, der Stolzing in herablassender Vertraulichkeit den Staub vom Anzug klopft. Als etwas tumb einher stolzierender Ritter entfaltet Jay Hunter Morris bei allen Anstrengungen der Partie im Preislied durchaus noch stimmlichen Reiz, während Nancy Gustafsons souveräne Eva ohne Abstriche überzeugt: In der Begegnung mit dem anderen Geschlecht nestelt Papa Pogners „Preiskuh" an ihrer Oberbekleidung herum und ist auf Stolzing programmiert wie Barbie auf Ken. Während Magnus Balsvinssons Pogner im Kontext starker Stimmen etwas abfällt, beweist Michael Nowak als alerter David mühelose Beweglichkeit. Dale Duesing ist ein brillant chargierender Beckmesser, aber wenn die Erinnerung nicht täuscht, wurde die Figur von Jürgen Freier 1993 wesentlich ernster, Mitleid heischender angelegt. Jetzt will Christof Nel die wagnersche Bosheit offenbar bis zur Schmerzgrenze ausreizen – und nicht die traurige Figur, sondern das herzhaft lachende Publikum vorführen...

Im Lichte der aktuellen, den deutschen Schuldkomplex glücklich lösenden Erkenntnis, dass die Juden selbst für den Antisemitismus verantwortlich sind, wächst Nels Inszenierung dabei eine Aktualität zu, die man kaum noch für möglich gehalten hätte: Ausgrenzung ist neben der Freilegung der typologischen Dimensionen des „Meistersinger"-Personals ihr Thema. Zu den eindringlichsten Bildern in Christof Nels und Max von Vequel-Westernachs Bühnenbild gehört der Schuhhaufen, der von der pogromartigen Prügelszene übrig bleibt. Überhaupt hat der eindrucksvoll reduzierte szenische Rahmen, ein riesiger Kasten, seit der Premiere 1993 so wenig Staub angesetzt wie die Inszenierung mit ihrem Provokations-Potenzial. Insofern ist es nachzuvollziehen, dass der Intendant Steinhoff zum Ende seiner Amtszeit an den Anfang anknüpft: Viel Feind, viel Ehr. Von Streitlust und sehr solidem Selbstbewusstsein zeugt auch die Dokumentation, die er zu seinem Abschied herausgegeben hat: In dem 350 Seiten starken Band „Aufbrüche" lässt er die Frankfurter Produktionen seit der Bertini-Zeit in Text und Bild Revue passieren. So manche Spitze gegen Kollegen und Vorgänger erinnert daran, dass Frankfurts Oper in diesen Jahren nicht nur durch Kunstproduktion von sich Reden machte, sondern auch durch in der Öffentlichkeit ausgetragene Querelen und Zerwürfnisse im Leitungs-Team des Hauses.

 

Offenbach Post
Dienstag, 28. Mai 2002

Nels Meistersinger nur Prügelknaben

Von KLAUS ACKERMANN

Selten ist das Schweißtuch so oft benutzt worden wie bei der Premiere von Richard Wagners "Meistersinger von Nürnberg" am Sonntag in der Oper Frankfurt. In Christof Nels recycelter Version seiner Inszenierung vom Juni 1993 wird auf der Bühne eifrig getupft. Sicher hätte auch mancher Musiker im Graben sich gern verstohlen übers Gesicht gewischt. Denn dem Frankfurter Museumsorchester hatte Paolo Carignani Schwerstarbeit verordnet. Schon abhörbar in der rauen, schnellen und manchmal sogar lärmigen Ouvertüre, als gelte es vermeintliches Pathos zu retuschieren.

Schweißtreibend war die fünfeinhalbstündige Opernsitzung zudem fürs Publikum. Weil Nel offenbar Wagner nicht mag und die "Meistersinger" wie schon anno 1993 zu einem kühlen Stück Lehrtheater umfunktioniert hatte, seine Sicht der "Moral von der Geschicht'" wie mit der Keule einbläuend. Dass die nicht dauerhaft langweilte, da standen neben ein paar bizarren Einfällen wie dem Pandämonium beim finalen Einzug auf die Festwiese der edle Bassbariton des überragenden Spielgestalters Jan-Hendrik Rootering als Hans Sachs vor, die guten Leistungen seiner Mitstreiter noch überstrahlend. Sein Schulterzucken am Schluss sprach Bände - ob nun vom Regisseur verordnet oder nicht. Und auch seinem großen Gegenspieler in der Nürnberger Sängerzunft, dem gefoppten, betrogenen und gar verprügelten Beckmesser des Dale Duesing gilt ein dickes Lob, der wie ein Stadtneurotiker über die Bühne fegte und trotz vorgegebener, wenig meisterlicher Liedkunst seinen angenehmen Bass nicht nur meckern ließ.

Natürlich sind fränkische Butzenscheiben selbst in Wolfgang Wagners Bayreuth längst out. Nel (mit Dorien Thomsen und dem ehemaligen technischen Leiter in Frankfurt, Max von Vequel-Westernach, auch für die Ausstattung zuständig) stellt klinisch weiße, schräg angeordnete Wände auf die Bühne in Frankfurt, auch einmal von oben gen unvermeidlicher schiefer Ebene einschwebend. Zu seinem Markenzeichen gehören zudem ein paar Stühle. Anfangs teilen die Wände den weiten Bühnenraum, mit dem Gottesdienst-Choral wie aus dem Off, immer wieder durch sinnliche Bläsertöne unterbrochen, die Liebe auf den ersten Blick untermalend.

Es darf abendfüllend geschmachtet werden: Eva in Blütenweiß, der fremde Ritter von Stolzing im Freizeitlook mit Hosenträgern. An der Wand wie schon 1993 noch eine Art hängender Gag: "Der Gekreuzigte" (Andreas Kühl) - ob nun Christus oder stumm leidender Musensohn - bewegt sich nur, wenn szenisch Druck gemacht wird. Etwa von den Lehrbuben, die in merkwürdiger, denunzierender Schulkluft den mit feinen tenoralen Gaben ausgestatteten gleichaltrigen David (Michael Nowak) bedrängen, der Stolzing die Sangesregeln erklärt. Schließlich ist Eva (Nancy Gustafson sendet hier dauerhaft körpersprachliche Signale und setzt einen wohltimbrierten, ausdruckvollen Sopran ein) von ihrem Meistersinger-Vater als Preisgabe erkoren - dem ängstlich das Schweißtuch zückenden Goldschmied Pogner (Magnus Baldvinsson) widerspricht sein stabiler geradliniger Bass.

So gilt's die Liebste mit einem Lied zu gewinnen. Der Ritter als Hippie mit übergroßem Schwert, die Meistersinger-Zunft in schwarzweißer Abendrobe und allzeit bereit, auf ihre Lehrbuben einzuprügeln - Ilse Welter hat ihre Kostüme gleichsam gegen den Strich gebürstet. Kein Wunder, dass die Zunft fremdelt, wenn Stolzing sein Lied wieder alle Regeln, hier der orchestral köstlich bespöttelte Kontrapunkt, vorträgt. Zumal in Frankfurt kaum ein Wagner-Wort zu verstehen ist, eine schwierige Sprache, vor allem für die US-Sänger.

Dem Tumult, den auch der geneigte Schuster und Poet nicht schlichten kann, folgt ein scheinbar ruhiger Abend auf wahrlich weitläufiger Bühne mit unzähligen Schuhen am Rand, Sachsens Hausstand. Und hier fällt Nel außer ein paar Gängen nichts ein. Zumal die Protagonisten an der Rampe singen, weil der mächtige Raum stimmlich kaum zu überwinden ist. Die heimliche Flucht der Liebenden verhindern Beckmessers Ständchen für Eva und ein Sachs, der den mit wirrem Haar als Sonderling erkennbaren Stadtschreiber immer wieder mit seinen eigenen Waffen, den Regeln, schlägt. Zur umfassenden Prügelei, hier schon ein Progrom mit Beckmesser als Opfer, tritt eine Schlägertruppe an - und aus dem Bühnenhimmel deutet ein Riesenzeigefinger auf die Szene. Da passt dann gut ins Bild, dass der leicht angesäuselte Nachtwächter (Franz Meyer) in seinem "Hört ihr Leut" vor Gespenstern und Spuk warnt.

Zeit zum Verzicht des Hans Sachs, der sich insgeheim Hoffnung auf Eva machte, aber nun den Ritter unterstützt - auch mit einer Intrige gegen Beckmesser. Zeit für Carignani und "sein" Orchester, sich auf ihre Tugenden zu besinnen, das Schwelgen in wohlfeiler Kantilene, im seufzenden Entsagungsmotiv: Das Vorspiel zum letzten Akt entschädigt für vieles.

Die Szene liegt im Halbdunkel, wenn die Zünfte auf der Festwiese einmarschieren, hier eine maskenhafte Monsterschau - und über allen schwebt eine als rechter Spießer entlarvte riesenhafte Sachs-Figur. Beckmessers verzweifelter Versuch mit seinem Preislied die darob konvulsivisch zuckende Eva zu gewinnen, wird niedergemacht. Stolzing erscheint jetzt in weißer Uniform, wie dem Nazi-Machthaber Hermann Göring entlehnt. Doch sein Preisgesang ist einfach Klasse - der zunächst ein wenig enge Tenor von Jay Hunter Morris läuft hier zu Hochform auf - ein Traumpaar ist geboren. Und wenn Sachsens Epilog in strammen Chorgesang (Einstudierung: Andrés Maspero) mündet, die "heilige deutsche Kunst" beschwörend, tritt das Volk Schaftstiefeln an die Rampe ...

Buhrufe und Zustimmung hielten sich nach diesen, teilweise zur völkisch-dumpfen Operette mutierten "Meistersingern" am Sonntag in Frankfurt die Waage. Wie schon 1993, als der Tod einer türkischen Familie durch einen Brandsatz in ihrem Solinger Haus schockte. Dass die braune Brut Wagner vereinnahmt hatte, wird ausführlich im Programmheft dokumentiert. Zweifellos ist es legitim, auf diese Zusammenhänge auch in einer Inszenierung hinzuweisen. Allein Christof Nels Dampfhammermethode wird weder Wagners romantischer Oper noch dem eigenen Anliegen gerecht.

 

Standgut
07/2002

Leidenschaft und Stützstrümpfe
Liebe, Ekstase, Eifersucht, Raserei und Leidenschaft sind zeitraubende Nebenaspekte des Lebens, die - wie alles heutzutage - organisiert werden müssen: Management by Delegation. Ich delegiere also meine Leidenschaften.

Die Fachleute der Oper sollen mit Sorgfalt und Lautstärke all die großen Emotionen auf die Bühne tragen und mich daran teilhaben lassen, ohne daß ich anschließend duschen gehen oder ein schlechtes Gewissen haben müßte.

Verdi, Mozart, Rossini, ja sogar Rihm und Henze gewinnen mein Herz und geben es mir nach angemessener Zeit unbeschädigt wieder zurück.

Nur Wagner, der deutsche Operheroe, hat es schwer mit mir. Seine Opern sind mir zu lang. Haben meist zwei Pausen. Wo doch die Preise für das Gläschen Wein astronomisch geworden sind. Und das lange Sitzen! Auf Langstreckenflügen sterben Passagiere an den Folgen des Rumsitzens. In »Bild der Frau« (oder war es die »Freizeit Revue«?) stieß ich auf eine Anzeige: computervermessene Stützstrümpfe für Langstreckenflüge. Die Stützstrümpfe gibt es auch in schwarz, passend zur Abendgarderobe. Richard, ich komme.

Auf das Monumentalwerk »Meistersinger von Nürnberg« bereitete mich mit Hintergrundinformationen vor. Die Meistersinger sind keineswegs eine Gesangsformation auf Tournee, keine klassische Variante der Back Street Boys aus dem Fränkischen, sondern ein volldurchkomponiertes Gesamtkunstwerk aus der Feder Richard Wagners, sein vorletztes übrigens.

Die Handlung gleicht den Castingshows von RTL2. Eine Menge Sänger treten nach undurchschaubaren Regeln gegeneinander an und wer zum Ende übrigbleibt, dem winken Ruhm, Geld und Eva. Eva ist die Tochter des Produzenten, die dieser mit dem Gewinner verbandeln will.

»Die Meistersinger von Nürnberg« ist die letzte Opernproduktion unter der Intendanz von Martin Steinhoff, der 15 Jahre lang so sparsam wirtschaftete, daß er sich am Ende selbst wegrationalisiert hatte. Unter Mitnahme einer letzten großen Sparmaßnahme, versteht sich.

Ich also mit Wehmut, Stützstrümpfen und Hintergrundinformation nachmittags um fünf zur Premiere. Meine Wehmut galt nicht Herrn Steinhoff. Sie galt seiner Pressereferentin Brigitta Mazanec, die mit ihm die Segel streichen muß. Diese Frau war lange Jahre der Seismograph der Frankfurter Oper. Kein Fädchen, an dem sie nicht kundig und vorsichtig gezogen hätte. Und auch die Fäden, die sie an Premierenabenden auf dem Leibe trug, waren von ungewöhnlicher Aussagekraft.

Die Rezensenten hätten sofort nach dem Anblick von Frau Mazanec ihre Artikel schreiben können. Ihr Gewand sagte mehr über die zu erwartende Aufführung als der gelehrte Exkurs eines Musikwissenschaftlers. Trug sie eine Robe oder ein Abendkleid, dann wartete ein rundum gelungener Abend. Hatte sie einen Hosenanzug an oder sah sie aus, als ob sie gleich Einkaufen gehen wollte, so gab es marodierende Einzeltäter auf der Bühne und im Orchestergraben, die kein gemeinsamer Willen einte. Dem Buch »Aufbrüche«, mit dem Martin Steinhoff, Meisterintendant, seine Produktionen dokumentiert, fehlt leider der Hinweis darauf, wie sich Frau Mazanec an Premierenabenden zu kleiden pflegt.

Zu dieser Premiere der Meistersinger trug sie ein schwarzes Gewand und wirkte sehr elegant und ausgeruht. In der Skalierung zwischen ihren karierten Hosen zu Nabucco und der Robe mit Schärpe zu Don Giovanni müßten sich die Meistersinger also etwa knapp unterhalb des oberen Drittels einordnen lassen.

Das Bühnenbild habe er 1993 schon einmal gesehen, erklärte mir mein Nachbar als sich der Vorhang geöffnet hatte. Wie geschmackvoll! Martin Steinhoff, der Meistersparer, verabschiedet sich mit einer recycelten Aufführung! Diesen beißenden Humor hätte ich ihm nicht zugetraut. Oder war es gar eine Reverenz an den Altmeister des Recycling, Walter Wallmann, der 1984 an der Thronbesteigung von Steinhoff beteiligt gewesen war?

Paolo Carignani, Meisterdirigent, spornte seine Musiker derart an, daß ein Teil des Wettstreits zwischen den geräuschproduzierenden Instrumentalisten und den Sängern stattfand, den die Sänger am Ende nach Punkten gewannen - auf Kosten der Stimmbänder von Schwergewicht Jan-Hendrik Rootering allerdings, die rotglühend gewesen sein dürften.

Aber auch andere machten schlaff. Ein Chormitglied fiel zum tariflich vereinbarten Arbeitsschluß um 23 Uhr in Ohnmacht und mußte von der Bühne getragen werden.

Nur mir ging’s noch gut. Ich hatte ja auch Stützstrümpfe an.

Ulrike Krickau