Den Traum wagen
Der Maler, Bühnenbildner und Regisseur Achim Freyer hat an der Akademie der Künste Berlin-Ost noch als Meisterschüler bei Bertolt Brecht studiert. 1972 nutzte Freyer ein Italien-Gastspiel der Berliner Volksbühne, um sich nach West-Berlin abzusetzen. 1979 inszenierte der von der "Zeit" zum "Visionär des deutschen Theaters" geadelte Freyer seine erste Oper und gilt seitdem als einer ihrer bildkräftigsten Regisseure. An der Oper Frankfurt inszeniert Freyer, der am Dienstag 70. Geburtstag feiert, gemeinsam mit Friederike Rinne-Wolf Georg Friedrich Händels "Ariodante" (Premiere ist am 28. März, 18 Uhr). Mit Freyer und Rinne-Wolf sprach FR-Mitarbeiter Tim Gorbauch. Frankfurter Rundschau: Wie viel Realismus verträgt die Oper? Achim Freyer: Was meinen Sie mit Realismus? Realistische Abbildung von Geschehnissen, Verläufen, Handlungen. Freyer:: Da muss man nur Thomas Bernhard lesen, wie er Hermann Beil immer korrigiert, wenn der natürlich sagt. Theater hat mit Natürlichkeit nichts zu tun. Wir machen Künstlichkeit. Also Kunst. Freyer: Ich lege auf das Wort Kunst nicht so großen Wert. Im Theater gibt es ein Werk, das auf Verwirklichung wartet. Alles, was da ist, in diesem Fall in der Partitur Händels, muss sich entfalten können. Das ist meine, unsere Aufgabe. Das ist Aufgabe des Theaters. Das würden andere Regisseure auch von sich behaupten. Und doch gibt es ganz verschiedene Herangehensweisen: eine meinetwegen realistische, eine psychologische, eine um Aktualität ringende. Freyer: Aktualisierungen interessieren mich nicht. Für mich sind das Eintagsfliegen, die Aktualität ist morgen schon wieder eine andere. Aktualität ist bloß tagespolitisch, nicht wirklich politisch. Wenn man aber die politischen und gesellschaftlichen Grundkonstellationen, Konflikte und Ursachen nicht erkennt und erzählt, ist man meiner Meinung nach verloren. Friederike Rinne-Wolf: Und jede Aktualisierung ist immer eine Verschleierung, Verkleinerung dieser Grundkonstellationen. Geht es also um Zeitlosigkeit? Freyer: Nein. Denn ein Stück wie Händels Ariodante ist gerade immer zeitgemäß, wenn man ihm auf den Grund schaut. "Schaffe das Elend der Welt nicht nochmals auf der Bühne", lautet eines Ihrer Theatergebote, "träume Wege der Befreiung". Das Theater, die Oper als Gegenwelt? Freyer: Ja. Unbedingt. Das Theater kann sich nicht damit begnügen, den gegenwärtigen Zustand zu verdoppeln, sondern muss einen Schritt weitergehen. Wir müssen die Utopie, den Traum wagen. Und die Konkretisierung, die Eindeutigkeit ist das Ende aller Utopie? Rinne-Wolf: Ich denke schon. Wenn ich alles genau zuordne, bleibe ich an der Oberfläche. Und ich entmündige den Zuschauer. Wie sind Sie denn nun an "Ariodante" herangegangen? Freyer: Das Aufregende bei Ariodante ist, dass hier Gefühle thematisiert sind, von der höchsten Liebessehnsucht bis zum Hass, an die wir gar nicht mehr glauben. Und zu versuchen, das wieder erfahrbar zu machen, ist übrigens auch ein Politikum. Ich würde das gerne etwas konkreter wissen. Es gibt eine Partitur von "Ariodante", die liegt da. Und was kommt dann? Zuerst ein Bild, das Ihnen einfällt? Ein Motiv, das Sie durchführen möchten? Denn es ist ja nicht so, dass Sie sich einfach an der erzählten Geschichte entlang hangeln und die nacherzählen. Freyer: Es geht darum, was die Inhalte sind, die Werte eines Werkes. Wie kann man die erlebbar, erfahrbar machen? Das ist die Grundfrage. Alles andere, also eine Bildkonstellation oder was auch immer, ist sekundär. Welche besonderen Aufgaben stellt Ihnen die Barockoper? Rinne-Wolf: In der Barockoper haben wir die langen, langen Da-Capo-Arien, die wie Bekenntnisse zu einem Gefühl sind, das sich über Minuten ausbreiten kann. Freyer: Und da sagt ja heute jeder erstmal: wie langweilig. Und den Regisseuren geht es oft genauso. Denen fällt nichts mehr ein, und dann werden sie nervös. Denn irgendwas muss sich ja doch bewegen. Sie bleiben da gelassen. Zehn Minuten Stillstand können Sie nicht schrecken. Rinne-Wolf: Es ist ja eben kein Stillstand. Es sind nur zehn Minuten Arie, in denen man der Musik zuhört. Und Aufgabe der Regie ist es eben auch, für die Musik Räume zu schaffen, in denen sie sich entfalten kann. Freyer: Ich will in der Oper ja nicht nur sehen, sondern auch hören. Wenn ich alles zuinszeniere, wenn auf der Bühne ständig Aktionen stattfinden, dann degradiere ich die Musik zur Filmmusik. Und das finde ich nun wieder langweilig. | |