Puppenmenschen, Menschenpuppen Ein böses Kasperle lugt von der Bühne herab, bläst wichtigtuerisch in eine Papiertröte, die sich dem Publikum wie eine lange Zunge entgegenstreckt, fuchtelt dem Dirigenten zu und reißt mit den ersten Takten der Ouvertüre den Vorhang einer stilisierten Barockbühne auf. Die Kulisse zeigt vier treppenförmig angeordnete Spielrampen, die vier Gassen bilden. Bemalte Pappe, nichts weiter. Zwölf kleine Beinchen hängen an viel zu großen Oberkörpern und baumeln über einer der Rampen. Wie sie da sitzen, so ordentlich aufgereiht, wirken die Personen der Oper beliebig austauschbar: König und Prinzessin, Ritter, Berater und Vertraute des Hofes. Der schwarze Kasper, etwas abseits, der winkt und lacht und mit allen sehr lustig tut, ist in Wahrheit ein machtsüchtiger Herzog, der sich selbst zum Zeremonienmeister aufgeschwungen hat. Umtriebig und eitel, verkörpert er jenes Ferment der Boshaftigkeit, das alle in Bewegung versetzen wird. Jede seiner Regungen ist Lüge, jeder Satz eine Waffe, seine gesamte Gestalt eine einzige Studie über die Anatomie der Intrige. Achim Freyer zeigt an der Frankfurter Oper Georg Friedrich Händels ungekürzten "Ariodante" als Puppenspiel mit echten Darstellern: Kopf, Arme und Oberkörper der Figuren sind lebendig, unterhalb der Gürtellinie sieht man nur noch einen geschrumpften Puppenleib. Vier Stunden Barockoper als kunstvoll künstliche Choreographie der Leidenschaften: Muß da nicht jedes dramatische Leben zu papierenen Da-capo-Hülsen erstarren? Keineswegs! Einen vitaleren und packenderen Händel hat man kaum je gesehen. Denn das Konzept verschmilzt auf geradezu ideale Weise mit der Ästhetik der barocken Affekte, deren Expressivität man verfehlt, wenn man ihren Trägern mit psychologisierender Unmittelbarkeit zu Leibe rückt. Händels Opern entwerfen eine brillant stilisierte Empfindungstypologie, die alles "pur" und unvermischt darstellen möchte. Hier sind es die Gefühlszustände, die sich auf den Menschen werfen, ihm nacheinander das Rachemäntelchen, das Trauerkleid oder das Siegeskostüm anziehen - nicht umgekehrt. Der Reiz der Händelschen Musik liegt in der formvollendeten Sublimierung, in einer Balance zwischen affektivem Impuls und höfischer Konvention, die Freyers Zwitterwesen in unwiderstehlicher Grazie auf den Punkt zu bringen scheinen. Schließlich - und das ist das eigentliche Wunder - rücken einem Freyers hybride Puppenmenschen im Laufe des Abends so nahe, wie es "echten" Sängerdarstellern auf einer "echten" Opernbühne überhaupt nur sehr selten gelingt. Die Vorliebe fürs Puppentheater ist Freyer durchaus nichts Neues. 1999 brachte er in Wien "Die Eingeborene" von Franz Xaver Kroetz ganz wörtlich als jenes "Stück für großes Kasperltheater" drastisch brutal auf die Bühne, als das der Autor sein Werk bezeichnet hat. Auch sein "Hamlet" im Berliner Ensemble ein Jahr darauf wandelte maskenhaft zwischen Puppen umher. Spiegelbild, Doppelgänger, puppenhafte Überzeichnung und verzerrte Körperproportion irritierten höchst fruchtbar auch die Perspektiven in vielen seiner Operninszenierungen, etwa dem Kölner "Wozzeck" im Jahr 1989 oder den Uraufführungen von Helmut Lachenmanns "Das Mädchen mit den Schwefelhölzern" 1997, Dieter Schnebels "Majakowskis Tod - Totentanz" 1998 und Salvatore Sciarrinos "Macbeth"-Oper 2002. Das Paradox seiner Kunst, die so überbordend bunt und expressiv wie geometrisch streng und konstruktiv ist, hat Freyer in einem Beitrag für diese Zeitung einmal selbst benannt. "Je toter und unidentischer die Gestaltungsmaterie mit dem zu Gestaltenden ist", schrieb er, "desto lebendiger erwächst uns das Darzustellende: eine Selbstverständlichkeit für die Primärkünste, die uns mit Buchstaben, Noten, Gips und Ölfarben Welten sichtbar machen, die durch direkte Betrachtung geistig nicht vermittelbar wären." Damit aus dieser Theorie eines ehemaligen Meisterschülers von Bertolt Brecht mehr als ein didaktisches Prinzip werden konnte, nämlich: leibhaftiges Theater, mußte sie sich freilich mit einem schöpferischen Ausnahmetalent verbinden. Sie mußte von jemandem ernst genommen werden, der, wie Freyer, als Maler, Bühnenbilder, Regisseur, Stückemacher und Choreograph zwar vieles auf einmal ist, darin aber letztlich doch vor allem eines: ein grandioser Bildererfinder, der aus all den wechselnden Perspektiven immer das Ganze eines Werkes vor Augen hat. Nach dem Studium der Gebrauchsgraphik 1954 ließ sich Freyer von Brecht an der Akademie der Künste in Ost-Berlin zum Bühnenbildner ausbilden, arbeitete als Bühnen- wie Kostümbildner und freier Maler, orientierte sich durch die Zusammenarbeit mit der Regisseurin Ruth Berghaus neu, geriet in Konflikt mit der herrschenden Kunstdoktrin und setzte sich 1972 in den Westen ab. 1979 hat er mit Glucks "Iphigenie auf Tauris" in München seine erste Oper inszeniert. 1990 geriet seine Philip-Glass-Trilogie in Stuttgart zum Kultobjekt. Und seither machen seine bildkräftigen Inszenierungen an allen großen Häusern der Welt Furore. Mit einer überdrehten "Salome" an der Deutschen Oper Berlin kündigte Freyer vergangenes Jahr überraschend seinen Abschied von der Opernbühne an. Pünktlich zu seinem siebzigsten Geburtstag am heutigen Dienstag ist er nun, unterstützt von Koregisseurin Friederike Rinne-Wolf, mit dem zu Herzen gehenden Puppenreigen seiner "Ariodante"-Inszenierung zurückgekehrt. Konsequenter noch als in manch anderer Arbeit erscheint die Überfülle der Einfälle hier fruchtbar gebändigt. Eingetaucht in die suggestiv-symbolischen Farben von Freyers Lichtregie, folgt alles strenger Logik der Phantasie. Jedes Detail, jede Geste sitzt. Wenn die Mezzosopranistin Nidia Palacios in der Rolle des Ritters Ariodante sich mit den fliegenden Koloraturen ihrer Arie "Con l'ali di costanza" verströmt, wächst plötzlich eine lange Haarsträhne der geliebten Prinzessin Ginevra (Maria Fontosh) zu ihr herüber. Die Freundin Dalinda (mild und weich gesungen von Britta Stallmeister, die wohltuenderweise auf ihr oft überreiches Vibrato verzichtet) beginnt aufgeregt mit ihren Puppenbeinchen zu tänzeln, hoffend, die Aufmerksamkeit des Herzogs Polinesso (Nino Surguladze) auf sich zu ziehen. Der Intrigant hat freilich anderes zu tun. Er übt sich in hinterhältiger Mimikry an Ariodante, dessen Position er gerne einnähme, und biedert sich dem anderen verschmähten Liebhaber an: Lurcanio, der von Charles Workman als romantischer Jüngling charakterisiert wird, Schutz und Halt suchend am seitlichen Vorhang, wie an Mamas Rockzipfel. Wenn die Intrige sich im zweiten Akt zuspitzt, schweben die Figuren vor schwarzem Hintergrund heil- und haltlos im Raum. Und nach dem großen Versöhnungsfinale des dritten Akts bleibt eine Doppelgängerin der Ginevra - da es die Prinzessin zuvor durch ihr übergroßes Leid gleichsam in zwei Figuren zerrissen hat - vor dem geschlossenen Vorhang liegen: mit blutenden Messereinstichen übersät. Das Frankfurter Museumsorchester spielt überaus zupackend, frisch und kernig. Gastdirigent Andrea Marcon kultiviert einen zugespitzt expressiven Händelstil, der nie Gefahr läuft, ins Sentimentale abzugleiten. Insgesamt: Eine glänzende Produktion, mit der der Jubilar Achim Freyer sich selbst das schönste Geschenk gemacht hat. JULIA SPINOLA |
Kaskade der Puppen VON HANS-KLAUS JUNGHEINRICH Vernachlässigung oder Nachlässigkeit gegenüber dem immensen Opern-Oeuvre Georg Friedrich Händels wurden noch vor zwanzig Jahren gerechtfertigt durch den Mangel an potenten Sängern, die der barocken Idiomatik und Akrobatik gewachsen wären. Der "Markt" hat diese Situation inzwischen verändert, die florierende "authentische Aufführungspraxis" neben dem instrumentalen auch vokales Expertentum hervorgebracht. So kann man jetzt in Frankfurt Händel ebenso atemberaubend gesungen erleben wie in Wien, München oder Zürich. Der Sänger-Triumph der Ariodante-Neuinszenierung war wohl freilich auch dem Stimmen-Rutengänger Bernd Loebe zu verdanken. Der Eindruck war überwältigend, obwohl keine Countertenöre oder Contraalti (geschweige denn Kastraten) für die entsprechenden männlichen Partien herangezogen wurden. Ariodante (Libretto: Antonio Salvi), 1735 in London uraufgeführt, behandelt das aus der Artussage bekannte Motiv einer fingierten weiblichen Untreue. Es gibt sieben nahezu gleichberechtigte Rollen. Herausgehoben durch berückende Lyrik ist die Partie der Ginevra, deren vielfältige Klageregister die Sopranistin Maria Fontosh minuziös ausinstrumentierte. Als Ariodante war die Mezzosopranistin Nidia Palacios auch der verwegensten Koloraturen mächtig. Den schurkischen Polinesso, der die für das Hauptpaar verhängnisvolle Intrige spinnt, sang die georgische Altistin Nino Surguladze mit gut fokussiertem Timbre und glitzernder Schärfe. Beweglich bei aller Bass-Stämmigkeit der König von Soon-Won Kang. Nicht unnötig geglättet Markant auch das zweite Paar: Britta Stallmeisters flexibel vehemente Dalinda (angestiftet zum Betrug, dann reuig), Beispiel dafür, wie ein vielseitig beschäftigtes Ensemblemitglied sich das Händel-Idiom souverän anzueignen vermag, und Charles Workman als chevaleresker Lurcanio. Schließlich noch der profilierte Odoardo von Peter Marsh. Unter der Leitung von Andrea Marcon verwandelte sich das Frankfurter Museumsorchester zauberhaft in ein exquisites Barockteam, vielleicht einen Strich weniger temperamentgeladen animiert als die mit Harnoncourt, Christie oder Minkowski musizierenden Kollegen, eine Spur trockener, im Schlussakt auch ermüdbarer. Marcon achtete auf lebhafte, virtuose Tempi, die die spiel- und gesangstechnischen Schwierigkeiten nicht niederbügelten. Wieso sollte Händel auch in allzu geglätteter Geläufigkeit daherschnurren. Von eigenem Reiz die Inszenierung, für die Achim Freyer und Friederike Rinne-Wolf gemeinsam zeichneten. Auch für sein Bühnenbild hatte Freyer in Claudia Doderer eine Mitarbeiterin gewonnen. Auf den ersten Blick schien sich eine typische Barockbühne mit Schrägung bis zum Horizont zu öffnen. Beim genaueren Hinsehen bemerkte man vier ansteigend hintereinander gesetzte Rahmen, die eine Kaskaden- oder Terrassenstruktur ergaben. Die Akteure standen hinter hüfthohen "Wänden", über deren unmerkliche Brüstung sie Gewandteile und Stummelbeine nach vorne hängen ließen. Derart zeigten sich frontal zwergige Puppengestalten, die scheinbar auf den verschiedenen Wandkanten hin- und herglitten, während tatsächlich die singenden Darsteller mehr oder weniger trippelnd ihre Stellungen veränderten. Im Märchenkostüm Ein auf äußerste Künstlichkeit bedachtes Tableau, aufs Preziöse hingeschraubt auch durch die Märchenkostüme von Amanda Freyer. Ein Ensemble von Spielkarten- oder Schachfiguren, erinnernd auch an erlesene Fayencen. Die Porzellan-Ästhetik wurde, gemäß der Kleist'schen Marionettenphilosophie, mitunter durch Winzigkeiten (abrupte Gesten, Lichtwechsel) mit sozusagen überlebendigem Leben erfüllt. Gleichwohl gehorchte dieses Konzept einer strengen, vielleicht allzu strengen Askese. Die ariosen Gefühls-Kondensate Händels, radikal visualisiert als stilisierte Figurinen. Freyer ist Theatraliker genug, um der Gefahr der Eintönigkeit durch kluge Modifikationen zu begegnen. So wird im zweiten und in der ersten Hälfte des dritten Aktes der Innenraum nachtschwarz gehalten, so dass die Figuren manchmal wie in einem finsteren Aquarium zu schwimmen scheinen. In der Final-Sinfonia des Mittelakts (Traum der doublierten Ginevra) kommt es zu einem effektvollen Drachenkampf. Die Schlüsse der Außenakte zeigen den Chor im Hintergrund (Einstudierung: Alessandro Zuppardo) als schäferliches Büstenkollektiv. Die szenische Arbeit, mit den durchaus bekannten Ingredienzien der Freyer'schen Bühnenkunst operierend, markierte mit monomanem Ehrgeiz einen darstellerischen Extrempunkt - sehr gegensätzlich etwa zu Claus Guths jüngster Radamisto-Szene in Zürich. Das Konzept scheint in dieser Form nicht wiederholbar. Getroffen und erfüllt wurde damit sicherlich nur eine von vielen Händel-"Wahrheiten". Nicht die realistische, nicht die psychologische, wohl aber die einer artifiziell auskonstruierten und eingerahmten Expressivität. Die zu Puppen halbierten Menschen als dialektisch befreite, verdoppelte Exponenten riesengroßer Gefühle. Dass Freyer nie im bloß Bildnerisch-Dekorativen steckenbleibt, zeigte der das harmlos-versöhnte lieto fine sanft unterlaufende Schluss. Keine glücklichen Jubelpaare. Nur die Männer verneigten sich zur Apotheose. Die Frauen fehlten. |
DER TAGESSPIEGEL 30.3.2004 Märchen, Mythen, Metamorphosen Von Jörg Königsdorf Sein künstlerisches Glaubensbekenntnis hat Achim Freyer selbst am bündigsten formuliert: In einer Reihe von Leitsätzen, die der Mann mit dem Rauschebart augenzwinkernd mit „Meine 14 Gebote" übertitelt hat. „Schaffe das Elend auf der Welt nicht nochmals auf der Bühne, träume Wege der Befreiung", lautet die vierte dieser Thesen und enthält damit in nuce das Kernanliegen des Freyerschen Theaters. Denn immer schon waren die Arbeiten des heute vor 70 Jahren in Berlin geborenen Malers, Bühnenbildners und Regisseurs Gegenwelten: unvergessliche Märchenreiche, in denen nur die Gesetze der Poesie gelten und die allein durch die Fantasie des Künstlers lebendig werden. Mit seinem unerschütterlichen Glauben an die Autonomie der Kunst wirkt der noch von Brecht geförderte Freyer heute seltsam fremd in einer Bühnenlandschaft, die sich den großen Stoffen von Oper und Theater oft nur noch aus der Distanz eines intellektuellen Zynismus oder der lapidaren Entzauberung nähern: Als Apologet des kindlichen Staunens, der „Wahrheit des Herzens", und ein bisschen wohl auch als der letzte Hippie, als eine Art übrig gebliebener Öko-Fundamentalist des Regietheaters, für den die Realos nur ein cooles Lächeln übrig haben. Vor 20, 30 Jahren allerdings sah das noch ganz anders aus: Damals stießen die Bilderbögen Freyers, der 1972 der DDR den Rücken gekehrt hatte, auf offene Herzen und auf eine westdeutsche Gesellschaft, die sich nur allzu willig in seine Zauberreiche entführen ließ. Zunächst als Ausstatter und Mitarbeiter von Regisseuren wie Neuenfels und Neugebauer, dann aber zunehmend in szenischer Gesamtverantwortung an den großen westdeutschen Opernbühnen: Sein Stuttgarter Volkskunst-„Freischütz" von 1980, seine Trilogie mit Opern des amerikanischen Minimalisten Philipp Glass, ebenfalls in Stuttgart, sind Legende, nicht weniger seine Auseinandersetzungen mit Mozarts „Zauberflöte" und, am Wiener Burgtheater, „Die Metamorphosen des Ovid" und Büchners „Woyzeck". In den letzten Jahren war Freyer als Regisseur vor allem am Berliner Ensemble tätig. Nicht von ungefähr haben den bis 1999 auch als Professor an der Berliner HdK Tätigen seit jeher die Stoffe am meisten interessiert, die den größten Freiraum für poetische Assoziation lassen und deren Handlung gar nicht erst den Anspruch auf realistische Umsetzung erhebt: Neben Märchen- und Mythenstücken wie der „Zauberflöte", Rossinis „Cenerentola" und Glucks „Orpheus", neben Werken des zeitgenössischen Musiktheaters von Mauricio Kagel und Dieter Schnebel, umfasste dieser weite Inspirationshorizont immer auch Werke jenseits des herkömmlichen Musiktheaters: Händels „Messias" beispielsweise, den er 1985 an der Deutschen Oper Berlin herausbrachte, oder, 15 Jahre später am selben Ort, Verdis „Requiem". Innerhalb dieses gewaltigen Oeuvres ist die Inszenierung von Händels Ritterdrama „Ariodante", die Freyer sich und der Frankfurter Oper nun zum Siebzigsten beschert hat, allerdings kaum mehr als eine Fußnote. Sicher, die Bühne trägt noch ganz die ästhetische Handschrift, die schon seinen vor 35 Jahren in Zusammenarbeit mit Ruth Berghaus an der Berliner Staatsoper entstandenen „Barbier von Sevilla" auszeichnet: Hier wie da ein großes Puppenspiel vor einer frech herausgestellten Theaterkulisse – selbst die stilisierten Kronleuchter, die vom Schnürboden herunterfahren, sind noch ganz die gleichen. Und dennoch: Hat das Treiben der Commedia-dell'arte Figuren zu Rossinis quirliger Musik auch heute noch kaum etwas von seiner Lebendigkeit eingebüßt (die Inszenierung ist als Evergreen immer noch auf dem Staatsopern-Spielplan), fehlt den Händel-Figuren, die Freyer diesmal aus der Puppenkiste geholt hat, jegliches Leben. In ihrem treppenartigen Kasperletheater können die Darsteller wenig mehr tun, als ihre vorgenähten Stoffbeinchen über die Brüstung schwenken und ein bisschen nach Marionettenart mit Schwert und Lanze fuchteln. Für viereinhalb Stunden große Oper ist das jedoch zu wenig. Erst recht, weil die Musik Händels nicht einem putzigen Rittermärchen, sondern einem großen Gefühlsdrama gilt: Arien wie Ariodantes „Scherza, infida" gehören zum Abgründigsten, Düstersten, was die Barockoper aufzubieten hat. Einer fuchtelnden Puppe in den Mund gelegt, verliert sie ihre Glaubwürdigkeit. Daran, dass dieser Abend wenig inspiriert wirkt, hat die musikalische Umsetzung einen gehörigen Anteil: Unter dem Alte-Musik-Spezialisten Andrea Marcon zeigt das Frankfurter Orchester lediglich, wie schwer die Umstellung von Wagner auf Händel für die Musiker offenbar ist, und auch mit der Besetzung bleibt das „Opernhaus des Jahres" unter den Standards, die andere deutsche Opernbühnen mittlerweile gesetzt haben: Bis auf den Tenor Charles Workman in der leider nur kleinen Rolle des Lurcanio halten die Sänger um die Mezzosopranistin Nidia Palacios in der Titelrolle und Maria Fontosh (Ginevra) die Emotionen auf Sparflamme – und sind zu ausgreifenden vokalen Gesten und dramatisch fokussierten Koloraturen wohl auch gar nicht in der Lage. „Suche die so genannte Wahrheit nicht in den Thesen anderer, sondern in deinem Herzen", lautet ein anderes der Freyerschen Gebote. Das ist, leider, nicht immer so einfach. |
Das Leben ist ein Puppenspiel Von Michael Dellith Künstlichkeit ist das Schlüsselwort für Freyers szenische Umsetzung der Händel-Oper aus dem Jahr 1735, die der Regisseur und Bühnenbildner zusammen mit Friederike Rinne-Wolf und Claudia Doderer dem Premieren-Publikum (auch Ministerpräsident Roland Koch wurde gesichtet) präsentierte. Gemeint ist die Künstlichkeit der barocken Welt mit ihrem Prunk, ihren Perücken und ihrer hochartifiziellen Musik, bei der menschliche Gemütsbewegungen in Affekte gebannt wurden und Kastraten mit dem Aussehen eines Mannes und der Stimme einer Frau dem Publikum die Sinne verwirrten. Was ist Schein, was Wirklichkeit, was Verblendung oder Verstellung? Dass die "Realität" hinter der barocken Fassade oft erbärmlich aussah, Lug und Trug, Hass, Missgunst und Verleumdung das Handeln beherrschten, spiegelt sich in Händels mehr als 40 Opern sehr deutlich wider – auch in "Ariodante", wo die Liebe der schottischen Königstochter Ginevra zum edlen Titelhelden von einer Intrige bedroht wird. Freyer, der Meisterschüler Bertolt Brechts, hat Händels Oper als Puppenspiel auf die Bühne gebracht, inszeniert in einer barock anmutenden Guckkastenbühne, die sich perspektivisch verjüngt und so optisch eine räumliche Tiefe vortäuscht. In Wirklichkeit aber steigt sie in vier Stufen an. Und noch ein Trick: Die grell geschminkten Sänger schlüpfen mit Kopf und Armen in Puppen-Kostüme (die gotischen Entwürfe stammen von Freyers Tochter Amanda), an denen – in grotesker Verzerrung – verkürzte Beinchen hängen. So bewegen sich die Sänger viereinhalb Stunden lang wie Handpuppen in einem Einheitsbühnenbild, das freilich durch eine effektvolle Lichtregie in verschiedene Farben (bis zum pechschwarzen Trauerflor) getaucht wird. Langweilig? Keineswegs, denn die Figuren erscheinen in immer neuen Konstellationen und kommentieren mit ihren höfischen Gesten Text und Musik – und das nicht ohne Komik, wenn beispielsweise die als Knappen und Burgfräulein verkleideten Choristen Seifenblasen auf die Bühne pusten. Dass die Frankfurter Aufführung nicht nur optisch, sondern auch akustisch ein stimmiges, ja brillantes Bild abgab, dafür zeichnete der italienische Alte-Musik-Spezialist Andrea Marcon am Dirigentenpult verantwortlich. Wie er dem kleinbesetzten Museumsorchester, ergänzt durch Barockgitarre, Laute, Cembalo und Barock-Cello, die höheren Weihen der historischen Aufführungspraxis verlieh und die Musiker zu einer flinken, vibratolosen Tongebung animierte, verdient Bewunderung. Wie auch die sängerischen Leistungen zurecht bejubelt wurden. Wer hätte vermutet, dass sich im Frankfurter Ensemble gleich mehrere veritable Koloratursopranistinnen versammeln, die mit den barocken Fiorituren so souverän umgehen wie etwa Emma Kirkby? Nidia Palacios in der Kastraten-Rolle des Ariodante und Maria Fontosh als Ginevra harmonierten vortrefflich in ihren berückend schönen Duetten, während Britta Stallmeister in der Partie der Dalinda bezauberte. Die georgische Gast-Sopranistin Nino Surguladze faszinierte in der Hosenrolle des Bösewichts Polinesso mit ihrem dunkel-timbrierten Mezzo. Mit wunderbar leichtem Tenor ergänzte Charles Workman (Lurcanio) das Sängerteam, das Soon-Won Kang als König mit seinem sanftmütigen Bass abrundete. Keine Frage: Viereinhalb Stunden Händel brauchen die Bereitschaft des Zuhörers, sich auf die intime barocke Ausdruckswelt einzulassen, doch wer sich die Ruhe nimmt, wird in Frankfurt fürstlich entlohnt, und Achim Freyer, der heute 70 Jahre alt wird, hätte sich und seinem Publikum mit "Ariodante" kein schöneres Geburtstagsgeschenk machen können. |
Halb Puppe, halb Mensch: Freyer zaubert mit Händel. Horn Ariodante im Opernwunderland Frankfurt: Achim Freyer inszeniert Händel Von Axel Zibulski Puh! Viereinhalb Stunden Händel. Und dabei kein einziges echtes Bein gesehen. Außer natürlich beim Flanieren durch Frankfurter Opernfoyers. Zwei Pausen lang hat man Zeit dazu. Die braucht man allerdings auch, an diesem Abend mit Georg Friedrich Händels ganz und gar ungekürztem "Ariodante", 1735 in Londons Covent Garden uraufgeführt. Und jetzt als Beitrag der Oper Frankfurt zur Händel-Renaissance zu erleben. In einer Inszenierung ganz ohne echtes Bein. Regisseur und Bühnenbildner Achim Freyer, der heute 70 Jahre alt wird, hat nämlich zusammen mit Friederike Rinne-Wolf (Mitarbeit Regie) und Claudia Doderer (Mitarbeit Bühne) einen wunderbar verspielten, abstrakten Raum geschaffen. Da schneiden die gestaffelten Bühnenrahmen den Blick auf die sieben Solisten vom Rumpf abwärts einfach ab; stattdessen baumeln an ihren Bäuchen kurze Stoffbeine über die Balken. Zwergenhaft wirken sie dadurch, diese Figuren, halb Puppen im Barocktheater. Aber eben auch halb Menschen. Es ist ein fantasievolles Opernwunderland, ausgeleuchtet in allen erdenklichen wechselnden Farben, das sich Achim Freyer und sein Regieteam für diese typische Barockoperngeschichte ausgedacht hat. Der Ritter Ariodante liebt die Königstochter Ginevra, Ginevra liebt Ariodante, doch ansonsten deckt sich das Lieben kaum einmal mit dem Geliebtwerden, öffnet sich also ein großer Raum für gefühlsreflektierende Arien: Stolze 24 sind es an der Zahl. Doch Freyer zelebriert das Drama nicht als ehrwürdiges, sondern würzt es mit aparten Momenten fast kindlicher Naivität, zuweilen nicht frei von Ironie. So pustet uns der intrigante Bösewicht Polinesso schon zu Beginn des ersten Akts eine Pappzunge entgegen, werden ritterliche Zweikämpfe auf niedlichen Stoffpferdchen mit überlangen Lanzen ausgetragen. Der Chor lässt Seifenblasen über die Aktschlüsse schweben, und über allem wird, ganz dicht unter der Übertitelungsanlage (man singt italienisch), ein Königskrönchen angeleuchtet. Schließlich geht es um die Thronfolge des schottischen Königs, dessen Tochter Ginevra naturgemäß nicht nur von dem einen, von Ariodante begehrt wird. Sie werden heiraten am Ende, auch wenn zwischenzeitlich die Bühne ob eines vermeintlichen Selbstmords Ariodantes in tiefes Schwarz gehüllt worden ist, die Arien sich in trauriges Moll gewandelt haben. Zugegeben: Ganz frei von statischen Momenten bleibt das Geschehen im Einheitsbühnenbild zuweilen nicht. Aber schließlich soll den Raum nicht zuletzt auch die Musik beleben, wenngleich dies in Frankfurt nicht auf durchweg hohem Niveau gelingt, weil nicht alle der sieben Solisten gleichermaßen stilistisch versiert mit dem Barockgesang umgehen. Sehr koloraturenstark die silbrig-helle Ginevra von Maria Fontosh, eher herb als vokal voluminös die Mezzosopranistin Nidia Palacios in der Partie des Ariodante. Während Britta Stallmeister als Ginevras Vertraute Dalinda kleinere Unsicherheiten im ersten Akt bald korrigieren kann, fehlt es der Georgierin Nino Surguladze (Polinesso) doch durchweg an der nötigen vokalen Wendigkeit. Mit etwas flachem Timbre Soon-Won Kangs König, sehr kultiviert Charles Workman als Ariodantes Bruder Lurcanio. Das in kleiner Besetzung spielende Frankfurter Museumsorchester untermalt das Geschehen eher unauffällig, von dem Alte-Musik-Spezialisten Andrea Marcon an Grundzüge des historischen Aufführungspraxis herangeführt. |
Handschrift des Mittelalters Von Siegfried Kienzle Georg Friedrich Händels Barockopern werden vom heutigen Theater psychologisiert und politisiert, oft auch zur Pop-Revue aufgefrischt. Achim Freyer, der farbenfreudige Bildkünstler unter den Regisseuren, geht mit seiner Co-Regisseurin Friederike Rinne-Wolf den entgegengesetzten Weg: Er vermeidet in seiner Bearbeitung der "Ariodante" (entstanden 1735, im gleichen Jahr wie "Alcina") alle Gegenwart und verlegt die Geschichte von der schottischen Königstochter Ginevra, die durch die Intrige des Bösewichts Polinesso ihr Glück mit Ariodante und ihre Ehre verliert, aufs Puppentheater und damit ins ferne Kinderland des Märchens. Vier Bühnenrahmen sind in Frankfurts Opernhaus hintereinander gestaffelt (Bühne: Claudia Doderer und Achim Freyer selbst). Die Personen sind nur bis zum Oberkörper sichtbar und lassen wie Kasperlfiguren kleine Puppenbeine über die Brüstung baumeln. Marionettenhaft sind die Bewegungen stilisiert: Man neigt den Kopf, breitet die Arme aus. Kostbar sind die Figuren gekleidet mit den historischen Insignien ihres Standes (Kostüme und Figuren: Amanda Freyer) als König und Prinzessin, Ritter und Hofdame wie aus einer alten Handschrift des Mittelalters. Es gibt kaum Aktion. Die Figuren gleiten vorbei, ordnen sich vertikal und diagonal zu Positionen wie auf einem Schachbrett. Reichlich Spannung und Energie vermittelt das Bühnenlicht, das von Blutrot, Blau bis in magische Smaragdfarben wechselt. Sobald aber das Unglück hereinbricht, Ginevra der Untreue bezichtigt wird und Ariodante den Tod sucht, scheinen die Figuren durch den tiefschwarzen Raum zu schweben. Bei der Statik dieser fast konzertanten Aufführung kommt jede Erregung, alle Beweglichkeit aus der Musik. Der Barockspezialist Andrea Marcon führt das klein besetzte Frankfurter Museumsorchester zu aufwühlender Klangsprache, die sonst nur von Originalklang-Ensembles erreicht wird. Händels emotionale Ausdrucksvielfalt wird von den Sängern bezwingend nahegebracht. In Frankfurt verzichtet man für die Männerrollen auf Countertenor und Altus und vertraut auf das Mezzotimbre auch beim Heiden Ariodante (Nidia Palacios) und dem bösen Herzog Polinesso (Nino Surguladze). Expressiv verwandeln sie die Gefühlslagen von Glück, Hass, Eifersucht und Trauer in Klangzauber pur; die Krone aber gebührt Maria Fontosh, wie sie Ginevras Leid und Todessehnsucht verinnerlicht. Britta Stallmeister als Dalinda, Charles Workman tenoral auftrumpfend als Lurcanio und der Bass Soon-Won Kang als König mit machtvoller Trompetenarie ergeben ein Ensemble der vokalen Spitzenklasse. Ovationen für einen Abend, der mit über vier Stunden geballtem Händel einiges an Konzentration abverlangt, aber viel zurück gibt. |
Händel-Oper aus der Frankfurter Puppenkiste Wenn Dirigenten ruhige Tempi nehmen und sich Regisseure aufs Notwendige beschränken, ist wohl Altersweisheit angezeigt. So verpufft Achim Freyers Inszenierungswut, der heute 70 Jahre alt wird und immer schon gern mit Operngewohnheiten brach, in einem moderaten bis neckischen Puppenspiel: Georg Friedrich Händels seelenvoller "Ariodante" mutete auf der Frankfurter Opernbühne mitunter wie ein fröhliches Figurenallerlei an, gewann freilich innerhalb der viereinhalb Stunden durch Gesangssolisten, die mit ihrem Puppen-Ego lustvoll auf den Ebenen des barocken Guckkastens herumrutschten. Und durch das Frankfurter Museumsorchester, dem der Venezianer Andrea Marcon die Zügel gab, wie er die feinnervigen Klagepassagen schier hinzuhungern verstand, ohne dass der klangliche Faden riss. Ein liebendes Paar, durch einen schurkischen Herzog zunächst ums Glück gebracht; ein König, der Menschlichkeit walten lässt; ein wackerer Ritter und eine gefühlsmäßig hin- und hergerissene Hofdame: Achim Freyer sieht seine Helden zwar kopf- und herzlastig analog der empfindungsreichen Händel-Musik, einen Hit an den anderen reihend. Doch das Körperliche dieser grotesk geschminkten Menschen wirkt reduziert auf höfische Funktionen, verborgen hinter einem stilvollen Puppenkostüm. Gaukelei ist Trumpf, mit der sich von Anbeginn Polinesso, Bösewicht und Strippenzieher, profiliert, ein Schwertschlucker im Clownsgewand. Freyer und sein eingeschworenes Team mit Regisseurin Friederike Rinne-Wolf sowie den Ausstatterinnen Claudia Doderer und Amanda Freyer zeigen in ihrer szenischen Zurückhaltung, die übliche Opernstatuarik erstaunlich wenig verstärkt, zudem auf, wie man dem Sparzwang begegnen kann. Die orchestral feinziselierten barocken Tanzformen der aktfinalen "Ballo" werden von puppigen synchronen Schrittchen und Armschlenkern aus dem Stand begleitet. Kasperles Disko - nur Erzorthodoxe haben hier natürlich das Ballett vermisst. Für Freyers Inszenierung nimmt vor allem ihre ästhetische Ausrichtung ein. Die Guckkastenbühne hat so etwas herrlich kunstvoll Künstliches: Bei gesungener Liebesfreud’ in glutrotes Licht, je nach Spielstation auch in Unschuldsweiß, tragische Düsternis oder geschmackvolle Pastellfarben getaucht. Mit dem mittelalterlich-güldenen, wenig geforderten Chor (Alessandro Zuppardo) aus lichter Höhe der schräg ansteigenden Konstruktion. Selbst das deutsche Sprachband der italienisch gesungenen Oper wirkt harmonisch in die Bühnenarchitektur eingepasst. Wenn dann die zu Unrecht des Betrugs bezichtigte Prinzessin Alpträume hat, wackelt sogar ein Lindwurm seitlich herein, vom wackeren Ritter erschlagen: Selbstzitat - oder die Antwort aufs barocke Musical des David Alden? Wahrlich ein ewiges Thema - das Erhabene und das Lächerliche. Vor letzterem scheint indes die Musik gefeit, Händel-typisch mit wenig Text geradlinig Emotion erzeugend. Die dauerhaften Arien und Rezitative werden durchs Continuo mit Barockgitarre, Erz-Laute, Cembalo und Violoncello wie natürlich miteinander verbunden. Dem Orchester, auf historische Spielpraxis präzise, weil absolut vibratolos eingestimmt, gibt Andrea Marcon die Sporen, als sei er auf barocker Treibjagd. Für die Koloraturen-geplagten Gesangssolisten ein schon artistischer Drahtseilakt, den sie hervorragend absolvieren: Vor allem bei Ariodante, der Höllenqualen erleidet, intensiv gesungen von Nidia Palacios, wirken die kunstvollen Figuren auf ihre ursprüngliche Funktion spontaner Gefühlsäußerung zurückgeschraubt. Ihre zentrale Arie "Ergötze dich, Ungetreue" wird zum Schmerzensfanal. Ebenfalls in barocker Hosenrolle: Nino Surguladze als Polinesso, auch stimmlich geschmeidig Fallstricke für die Liebenden auslegend, ein Mezzo, der zu umgarnen versteht. Beider Liebe gehört jener Königstochter Ginerva, die Maria Fontosh mit glockenklarem Sopran himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt durchlebt. Ein naives Mädel, gnadenlos ausgenutzt ist Dalinda, der freilich am Ende vergeben wird, was sie mit keckem Fußwippen quittiert: Für Britta Stallmeisters mildsüßen Sopran eine leichte Aufgabe. Betont Bassist Soon-Won Kang die zwei Seelen in seiner Brust - strenger König und liebender Vater - so ist Charles Workman als rächender Lurcanio für Frankfurt eine Entdeckung: Sein stabiler wie ausdrucksfähiger Tenor scheint allmählich für Wagner prädestiniert. Gegen seine ewig grinsenden Masken singt das Ensemble samt Tenor Peter Marsh als Odoardo zielstrebig an. Beim finalen Chor wirken sie allerdings wie an die Wand genagelt, Versuchsexemplare aus Achim Freyers Frankfurter Puppenkiste. KLAUS ACKERMANN |
Glaube, Liebe, Puppe Von Götz Thieme Vor zehn Jahren brachen gewaltige Haifische durch den Bühnenboden der Bayerischen Staatsoper. Danach war die deutsche Bretterlandschaft verändert: Handel leads the way. In München hatte Richard Jones "Giulio Cesare" so inszeniert, dass Georg Friedrich Händel auf dem Kontinent wieder interessierte. Die anschließende Münchner Händel-Renaissance war von märchenhafter Wirkung, Barockrausch in Stadt- und Staatstheatern und kein Ende in Sicht. Dirigenten aus der Szene der historischen Aufführungspraxis modellierten Wagner- und Straußorchester zu Vibratoverächtern und Phrasierungskünstlern um - nur taktschlagenden Kapellmeistern wurde der Zutritt zum Graben verwehrt. Bernd Loebe, im zweiten Jahr Intendant der Oper Frankfurt, der er nach Jahren des Niedergangs einen beispiellosen Aufschwung bescherte und die er in seiner ersten Spielzeit zum Opernhaus des Jahres machte, stellte sich jetzt dem Händel-Wettbewerb mit Händels 33. Oper "Ariodante", die 1735, ein Vierteljahr vor dem "Alcina"-Erfolg, entstanden war. Loebes Arbeit unterscheidet sich von der vieler Intendanten heutzutage, ihn kümmert zuerst die Musik. Erster Coup: für "Ariodante" engagierte er den Cembalisten und Dirigenten Andrea Marcon. Der Barockexperte hat mit dem von ihm gegründeten Venice Baroque Orchestra in den vergangenen Jahren Furore gemacht. Zweiter Coup: Loebe hat ein Ensemble versammelt, das in der Gleichwertigkeit der Stimmen kaum zu toppen ist. Dritter Coup: er hat einen Regisseur gewonnen, der sich nicht dem bei Händelaufführungen vorherrschenden ironischen Realismus anschließt. Achim Freyer, der heute siebzig Jahre alt wird, folgt der musikalischen Stilisierung mit einer szenischen Abkehr vom Realismus. Freyers Figuren sind - nicht das erste Mal - Puppen, als ob der Seelen(bühnen)bildner Kleists Umdeutung der Marionette als Symbol "natürlicher Grazie" folge. Im Aufsatz "Über das Marionettentheater" schrieb Kleist, die Grazie erscheine am reinsten "in demjenigen menschlichen Körperbau, der entweder gar keins oder ein unendliches Bewusstsein hat, das heißt in dem Gliedermann, oder in dem Gott". Händels antiveristische Musiksprache, ihre Affektwelt befestigt Freyer im barocken Bühnenrahmen, in der nach hinten sich verengenden Proszeniumsstaffelung. Vier Stufen mit hüfthohen Stellwänden, dahinter stehen die Sänger in historisierenden Kostümen (entworfen von Freyers Tochter Amanda), die kurzen Puppenbeine baumeln über der Brüstung, mit weiß grundierter Puppenmaske, stark schwarz konturierten Brauen, die Augen wie von Kinderhand groß umrundet, aufgemalten Wimpern, rot überzeichneten Mündern. In der szenischen Überhöhung hebt sich die Stilisierung, stört nicht, dass die zwei zentralen Kastratenrollen Ariodante und Polinesso musikalisch richtig nach der Stimmlage mit Frauen besetzt werden - ein steter Konflikt realistischer Inszenierungen. So bestimmt die musikalische Zeit die Bühnenhandlung. Statt die musikalische Zeit zu zerschlagen, sie zu gegenläufig zu gliedern, sie durch Aktionismus vergessen zu lassen, öffnen Freyer und seine Koregisseurin Friederike Rinne-Wolf den Raum für den Affekt: eine fallende Sekunde, ein Augenaufschlag, eine weggestoßene Hand, das variierte Dacapo einer Arie. Die Handlung wird aus dem Geist der Musik geboren. Untreue, Verrat, Vaterliebe, selbstloser Verzicht - die Handlung gerinnt zu momenthaften Befindlichkeiten von explosiver Kraft. Die Geschichte, wie Ginevra, die Tochter des Königs von Schottland, ihren geliebten Ritter Ariodante durch eine Intrige des Herzogs Polinesso erst verliert, dann wieder gewinnt, erhält so ohne vordergründige politische, zeitgeschichtliche Konkretisierung oder psychologische Finesse eine simple Schärfe. Und wenn man nach einem Moment der Irritation bemerkt, dass im Schlussbild, den huldvoll ins Publikum winkenden aufgereihten Figuren, zwei fehlen, Ginevra und ihre unschuldig in das Komplott des Herzogs verwickelte Vertraute Dalinda, dann erhält das der Konvention des Dramma per musica geschuldete glückliche Ende eine Verstörung - wieder einmal sind die Frauen auf der Strecke geblieben. Und das ist gegen alle Puppenniedlichkeit ziemlich aktuell. Ein großartiges Experiment, das dem einen zu karg, mit zu langer Weile operierend wirken mag, den anderen bewegen wird. Scheiden sich am Ergebnis die Herzen, über die Umsetzung und Durchführung dieses Theaterexperiments kann es keine zwei Meinungen geben. Musikalisch ist das phänomenal gelungen. Andrea Marcon inspiriert das Frankfurter Museumsorchester - keine Namenswitze - zu einem Musizieren von musealer Kundigkeit, Delikatesse und Farbigkeit, rasch reagierend im Wechsel der Lautstärken, virtuos im Furor, zart im Lamento, tänzerisch kräftig im Balletto. Durch Barockgitarre und Laute wird der Klang auch über die Rezitative hinaus warm grundiert, Marcon leistet sich eine fast florale Romantik im retardierenden Ausschwingen der Schlussfloskeln. Bühne und hochgefahrenen Graben trennt kein Blatt, so akkurat zusammen agieren die Sänger und das Orchester. Nur im dritten Akt fehlt der Schliff, man merkt, dass die Probenzeit ein wenig knapp wurde bei über 210 Minuten Musik. Von sieben Sängern gehören fünf zum Ensemble der Frankfurter Oper, und sie singen genauso vorzüglich wie die Gäste, die georgische Mezzosopranistin Nino Surguladze als koketter, samtschwarzer Bösewicht Polinesso und der Tenor Charles Workman als Ariodantes Bruder Lurcanio. Workman fesselt mit dem Klageton seiner ersten Arie "Del mio sol vezzosi rai" wie den gestochenen Koloraturen im zweiten Akt. Aus dem Haus besetzt wurden der Schlechte-Nachrichten-Überbringer Odoardo mit Peter Marsh, der König mit der beweglichen Bassstimme Soon-Won Kangs, die Dalinda mit der hell-quicken Britta Stallmeister und der Titelheld mit der warm timbrierten Nidia Palacios. Ob in der Raserei des Betrugs oder in der extrem langsam genommenen Marternarie "Il mio crudel martero", die hier zum Wahnsinnsstück wird, triumphiert Maria Fontosh als Ginevra. Ovationen. |
Händels "Ariodante" von Freyer/Rinne-Wolf in Frankfurt Tri, tra, trullala, der Kasperle ist wieder da. Hängt seine Schlackerbeine über die Balustrade, hat darüber einen menschlichen Kopf und Oberkörper, heißt Ariodante und muss, weil er ein Opernheld ist, auch singen. VON SUSANNE BENDA Achim Freyer hat, unterstützt von seiner Assistentin Friederike Rinne-Wolf als Co-Regisseurin, Händels Oper "Ariodante" an der Frankfurter Oper im eigenen Bühnenbild als Puppenspiel inszeniert: Sänger ohne Unterleib, mit clownesk überschminkten Gesichtern, schieben sich auf vier Ebenen langsam und ruckartig von rechts nach links und umgekehrt, zücken die Schwerter, werfen sich in die Brust, recken die Arme, fallen in sich zusammen, reiten mit Papp-Pferdchen an die Brüstung, stoßen einander mit Lanzen aus dem Sattel. Das ist nicht viel. Oder, anders gesagt: Es ist so wenig, dass man im ersten Akt noch ernsthaft fürchtet, das Puppenspiel sei doch weiter nichts als eine nette Verkleidung für bloßes Rampensingen: eine sicherlich gekonnt inszenierte Travestie, die sich während der langen Zeit, die "Ariodante" braucht, zwangsläufig abnutzen muss. Weit gefehlt. In seiner Frankfurter Inszenierung wird das Stück von Akt zu Akt besser, zwingender, erhellender; entsprechend verblasst zunehmend der Einwand, der einen noch zu Beginn beschäftigte: dass man nämlich eine Barockoper wie diese wohl stilisierend darbieten kann (weil sie ja selbst ein Sammelsurium von Stereotypen und Künstlichkeiten darstellt), nicht jedoch in einer derartigen Verengung der menschlichen Emotionen. Barockoper, ja Barockmusik überhaupt ist eine Kunst der extremen Gefühle - klar, dass man diese bei den lustigen Puppen nicht entdecken kann. Die leiden tatsächlich nicht so an der Liebe, wie es die aus Ariosts viel geplündertem "Orlando furioso" entliehene Opernhandlung will. Eine große Qualität der Inszenierung wiegt dies aber auf: Die Puppen sind bloßes Material. Sie sind leer. Akzeptiert man sie als neutrale Schablonen oder Projektionsflächen, dann dienen sie der hörenden Fantasie als Spiegel der eigenen Gefühle, die von Händels Musik leidenschaftlich angesprochen und befeuert werden. Jenseits aller erzählenden Logik und jenseits auch aller psychologischen Glaubwürdigkeit fassen die Regisseure die Gefühls-Situationen von Händels Oper in abstrakte Bilder, deren Qualität vor allem außerhalb ihrer selbst liegt: weil sie emotionale Aussagen treffen, ohne dabei den Zuschauern die Freiheit eigener Assoziationen zu nehmen. Kleine Gesten tragen die Szene: zarte, bescheidene Bewegungen, auf die man sich ebenso einlassen muss wie auf die kleinen Nuancen im wuchernden Koloratur-Reservoir der Gesangspartien, die in Frankfurt vor allem von Maria Fantosh (Ginevra), Nidia Palacios (Ariodante), Britta Stallmeister (als Dalinda mit immer wieder berückend lupenreinen Piani in der Höhe) und meist auch von Charles Workman (Lurcanio) und Nino Surguladze (Polinesso) beherrscht und mit viel eigenem Ausdruck angereichert werden. Mit Andrea Marcon steht ein Mann der historischen Aufführungspraxis am Pult des Frankfurter Museumsorchesters, der die Musiker zu vibratoarmem, sehr durchsichtigem, temperamentvollem und vor allem bei den Holzbläsern ausgesprochen klangschönem Spiel anleitet. Dass manches rhythmische Detail (noch) nicht ganz auf den Punkt kommt, sieht man Marcon nach. Schließlich ist er maßgeblich mit dafür verantwortlich, dass man das Opernhaus nach dem Ende der Oper rundum beglückt verlässt: Nicht weil Ariodante nach dreieinhalb Stunden die Prinzession bekommt, die er am Anfang schon hatte, und weil sogar der Seppel, der hier Lurcanio heißt und Tenor singt, am Ende nicht leer ausgeht; nicht weil der Böse schließlich mausetot ist, der König weiterhin König und der Bote weiterhin Bote. Dies wäre an sich wenig bemerkenswert - eignete dem Opern-Puppenspiel nicht ebenjene Grazie, die schon Heinrich von Kleist ehedem am Marionettentheater faszinierte: jene mechanische Leichtigkeit des Seins, deren Unbeseeltheit Raum schafft für Kunst und ihre gefühlvolle Interpretation. Mit Tri-tra-trullala hat das rein gar nichts zu tun. |
Gefühls-Mathematik: Freyers "Ariodante" von Händel Da das Hofzeremoniell alle Figuren in Händels "Ariodante" einschließlich des Königs wie in Fesseln schlägt, schickt Achim Freyer die Sänger in Frankfurt als Marionetten auf die Szene, die an unsichtbaren Fäden zappeln. Auf vier übereinander gestaffelten Kasperle-Bühnen schiebt er sie, während sie von Ekstasen des Hasses und der Liebe künden, behutsam hin und her wie auf einem Abakus: Gefühls-Mathematik. Achim Freyer lässt das prästabilisierte, gott- und herrschergläubige Weltbild des Barock auf diese Weise so fremd aussehen, wie es uns heute ist. Der einzelne ist hier nur Teil der Ordnung und die Ordnung alles. Händels musikalische Pracht reimt sich bei Freyer auf allumfassende Macht. In der Beschränkung, meinte einst ein Frankfurter Autor, zeigt sich erst der Meister. Bei Freyer zum Beispiel. Sein Konzept erlaubt ihm nur minimale Spielräume, doch schöpft er aus ihnen erstaunliche Ausdruckskraft, vor allem im Umgang mit Licht etwa, der Neigung zum Dekorativen und dem Sinn für Selbstironie: Freyer scheut sich nicht, den Traum der Heldin Ginevra als Mix aus Augsburger Puppenkiste und Tabaluga zu inszenieren. Obwohl vier Stunden lang fast nichts auf der Bühne passiert, ist jede Minute unterhaltsam. Das Frankfurter Orchester unter Andrea Marcon spielt präzise, gibt Händels Oper ebenfalls Assoziation an Minimal Music mit. Die Arien in "Ariodante" zählen nicht zu den Smash-Hits des Barock, sie sind gediegene Standardware. Doch die Sänger verleihen ihnen Glanz. Vor allem Nidia Palacios (Ariodante), Nino Surguladze (Polinesso), Maria Fontosh (Ginerva) und Charles Workman ragen hervor. |
hr Musik-News 29.03.2004 Händel-Oper als Puppenspiel auf der Bühne Der Regisseur und Bühnenbildner Achim Freyer hat in Frankfurt die Händel-Oper "Ariodante" als Puppenspiel auf die Bühne gebracht. Er inszenierte das Werk aus dem Jahr 1735 in einem Einheitsbühnenbild, das Dank Freyers Lichtregie jedoch alles andere als eintönig war. Musikalisch präsentierte sich am Sonntagabend das Orchester unter Andrea Marcon auf höchstem Niveau. Alle Sänger bewältigten ihre Partien problemlos, besonders die Frauen in den Männerrollen begeisterten das Publikum mit ihren Koloraturen. |
FINANCIAL TIMES April 6, 2004 Opera: Ariodante By Shirley Apthorp At 70, Achim Freyer remains the odd man out. His Ariodante for the Frankfurt Opera marks his birthday, adds a note of contrast to the house's colourful repertoire, and reminds us that there are other theatrical worlds out there. In an age where deconstruction, tracksuit tops and street-life sets are all the rage, Freyer's painstakingly stylised form of beauty comes as a shock. Once a student of Bertolt Brecht, Freyer made his name as a painter and set designer before returning to direction. His work, seminal in the German-speaking world but barely known in the UK, centres on haunting images and fanatical control of fine detail. Realism doesn't feature. His is the enigmatic language of the subconscious. This production sees him teamed with emerging young German director Friederike Rinne-Wolf, who adds a subtle note of feminist critique to Freyer's childish wonder. It looks deceptively simple: Handel's kings, knights and lovers are a Punch-and-Judy show, the singers glove puppets shunted stiffly to left and right behind four terraced shelves. Faces, starkly painted, look only forwards, arms move in jerky, standard gestures, little cloth legs dangle from living torsos. With such profound physical limitations, we're left to listen to the music and watch for detail to find the opera's grand emotions. And they're there, thanks not least to Freyer's sumptuous lighting and Andrea Marcon's well-paced conducting. It's a fiendish challenge for singers to observe the rigidity of movement and still express the wild passion of Handel's arias. Tellingly, Lynn Dawson, singing from the side of the stage while an indisposed Maria Fontosh mimed the part of Ginevra, provided some of the evening's most communicative singing. Nidia Palacios was note-perfect but bland in the title role, Soon-Won Kang made an underpowered King, Nino Surguladze a restrained though compelling Polinesso. Charles Workman, with his aristocratic timbre and smudged runs, was curiously affecting as good brother Lurcanio, pining for Dalinda (Britta Stallmeister, clear and agile, with a pleasantly musky tone). Nimble, articulate playing from the Frankfurt Museum Orchestra. |