FRANKFURT NEUE PRESSE
19.03.2005

Kollektiver Selbstmord auf dem Scheiterhaufen
Am 27. März hat Mussorgskis Volksdrama "Chowanschtschina" an der Oper Frankfurt Premiere. Es inszeniert Christian Pade.

Als Mussorgski 1881 mit nur 42 Jahren starb, blieb seine Oper "Chowanschtschina", die den Aufstand der konservativen Strelitzen gegen den westlich orientierten Zaren Peter den Großen zum Thema hat, unvollendet. Berühmte Komponisten stellten Fassungen des Torsos her, darunter Rimski-Korsakow (1886) sowie Ravel und Strawinsky (1913). Die letzte tief greifende Rekonstruktion des Materials stammt von Schostakowitsch (1960). Sie liegt der Frankfurter Neuproduktion zu Grunde, während die Inszenierung beim Finale jedoch die Strawinsky-Fassung (Selbstmord der Altgläubigen) berücksichtigt.

Zum Inhalt: Die Anhänger Peter des Großen wollen eine angebliche Verschwörung der Strelitzen – eines von Iwan dem Schrecklichen geschaffenen Korps des Zaren – als Grund für deren Beseitigung benutzen. Während der Unruhen nimmt der auf der Seite der Strelitzen stehende Fürst Chowanski Zuflucht zu seinem vor den Toren Moskaus gelegenen Landsitz, wird dort aber von den Getreuen des Zaren ermordet. Die Aufrührer werden niedergeworfen, der Mitverschwörer Golizyn ins Exil geschickt. Eine dritte Macht in dieser Oper sind die fundamentalistischen Altgläubigen, darunter der Mönch Dosifej und die Wahrsagerin Marfa. Am Ende des Werks steht der kollektive Selbstmord der Altgläubigen auf dem Scheiterhaufen.

Die musikalische Leitung der Frankfurter Produktion liegt bei Kirill Petrenko, der seit der Saison 2002/03 Generalmusikdirektor an der Komischen Oper Berlin ist. Regisseur Christian Pade inszenierte nach seinem Frankfurt-Debüt mit Brittens "Turn of the screw" 2002 unter anderem Henzes "Elegie für junge Liebende" in Berlin und Beethovens "Fidelio" in Dortmund. Zu den Sängergästen dieser Produktion gehört der Schwede Göran Eliasson (Andrej), der in jüngster Vergangenheit an den Opernhäusern von Köln und Stockholm sowie beim Festival von Aix-en-Provence aufgetreten ist. Sein Landsmann Lars Erik Jonsson (Golizyn) sang in Frankfurt bereits den Quint in Brittens "Turn of the screw" und Tichon in Janáceks "Katja Kabanová". Ein viel gefragter Gast an internationalen Opernhäusern und bei bedeutenden Festivals ist der ukrainische Bassist Anatoli Kotscherga; gerade verkörpert er an der Bayerischen Staatsoper in München Sparafucile in Verdis "Rigoletto". Die Russin Elena Cassian (Marfa) sang in Frankfurt während der vergangenen Saison bereits Suzuki in "Madame Butterfly", eine Partie, die sie auch nach Berlin und Mailand führte. Die deutsche Sopranistin Sonja Mühleck (Susanna) wird von der nächsten Spielzeit an das Frankfurter Ensemble verstärken. Alle weiteren Partien sind mit Ensemblemitgliedern und Chorsolisten besetzt, darunter Simon Bailey als Bojar Schaklowity. (md)

 

Frankfurter Rundschau
27. März 2005

CHOWANSCHTSCHINA
Viel Sterben für den Zaren

"Morgendämmerung über der Moskwa" - so beginnt Modest Mussorgskij Oper "Chowanschtschina", doch so friedlich bleibt sie nicht lange. Anhänger von Peter dem Großen möchten das Zarenheer der Strelitzen zerschlagen, und Fürst Chowanski wird auf der Flucht ermordet. Die dritte Macht im Lande sind die fundamentalistischen Altgläubigen, ihr kollektiver Selbstmord steht am Schluss der Oper, die nicht umsonst ein "Musikalisches Volksdrama" heißt. Denn Mussorgskij hält hier eine - wenn auch recht frei nacherzählte - Geschichtsstunde zum Russland des 17. Jahrhunderts ab.

Die Oper Frankfurt hat sich für ihre Neuproduktion einen jungen, doch schon sehr erfahrenen Russen ans Pult geholt, Kirill Petrenko, den Generalmusikdirektor der Komischen Oper Berlin. Elena Cassian singt die Partie der Marfa, die Inszenierung stammt von Christian Pade, der in Frankfurt 2002 Brittens "Turn of the screw" auf die Bühne gebrachte hatte. ick

 

Frankfurter Rundschau
24. März 2005

"Mein Blut fließt schneller, wenn ich Mussorgskij höre"
Dreieinhalb Stunden für 50 Jahre russischer Geschichte - Kirill Petrenko, GMD der Komischen Oper in Berlin, dirigiert die Frankfurter "Chowanschtschina"

Kirill Petrenko
Kirill Petrenko lässt sein Publikum gerne staunen (FR)

Frankfurter Rundschau: Herr Petrenko, bitte geben Sie uns eine kleine Nachhilfestunde in russischer Geschichte: Wer sind die Strelitzen, die Bojaren und die Raskolniki, die da einen Parteienkrieg führen in Modest Mussorgskijs Oper "Chowanschtschina"?

Kirill Petrenko: Ja, das ist die Grundfrage in dieser Oper: Wer sind diese Kräfte, und warum können sie sich nicht einigen. Selbst für mich als Russen war es schwierig, die geschichtlichen Hintergründe alle zu verstehen. Mussorgskij hat die Mammutaufgabe in Angriff genommen, an einem Opernabend etwa 50 Jahre russische Geschichte zusammenzupressen. Die Bewegung der Raskolniki ist entstanden als Folge einer Kirchenspaltung, sie leben nach der alten Lesart der Bücher. Für Mussorgskij sind sie Symbol für das Althergebrachte, die sich gegen alle Neue, Westliche wehren. Mussorgskij fusioniert hier das, was ursprünglich rein kirchlich war, mit dem Politischen. Das Westlich-Zivilisierte gegen das Ursprünglich-Russische, so hat es Mussorgskij ausgelegt. Im Grunde war das ja auch die Frage seines 19. Jahrhunderts: Wie soll es mit uns weitergehen, westlich orientiert oder weiter auf dem russischen Weg. Die Bojaren als zweite Gruppe waren die Minister der Duma, des russischen Parlaments, von Iwan dem Schrecklichen entmachtet und brüskiert. Um sich vor ihnen zu schützen, hat Iwan das Heer der Strelitzen aufgestellt, so wie Hitler seine SS eingerichtet hat. Nach Iwans Tod waren die Strelitzen eine unkontrollierte Macht, die von Peter I. niedergeschlagen wurde. All das kommt in Mussorgskijs Oper zusammen.

Lernt man dieses Kapitel russischer Geschichte in der Schule? Ist es allgemein bekannt?

Nein, in der Schule wird allenfalls die Kirchenspaltung einmal gestreift. Es ist zwar ein wichtiger Teil der russischen Historie, doch man ging zu meiner Schulzeit nicht sehr objektiv damit um.

50 Jahre Geschichte in dreieinhalb Stunden Oper - ist das überhaupt ein geeigneter Stoff?

Ja, unbedingt. Mussorgskij wollte ja ursprünglich ein Triptychon komponieren: Boris Godunow, Chowanschtschina und dann noch Pugatschowtschina, über den Aufstand des Pugatschow 100 Jahre später. Doch Mussorgskij ist zuvor gestorben. Ich persönlich bin der Meinung, ihm ist das Unmögliche gelungen, diese komplexen Vorgänge in eine Oper zu bringen. Die Erzählweise ist natürlich eine epische, die Szenen ergeben keine einheitliche Geschichte, jede Szene hat ganz andere Darsteller. Aber wie ein guter Drehbuchautor hat Mussorgskij das an einem Abend zusammengebracht, wofür Wagner vier Abende gebraucht hat.

"Musikalisches Volksdrama" ist die Gattungsbezeichnung - erkennen Sie die russische Volks- und Kirchenmusik wieder, mit der Mussorgskij hier gearbeitet hat?

Ich glaube, auch zu Mussorgskijs Zeit waren diese Volkslieder nicht mehr wirklich präsent, es sind ganz spezielle Melodien. Er greift auch auf sehr alte modale Kirchenmusik zurück, die im 19. Jahrhundert schon sehr exotisch war.

Finden Sie als Russe zu dieser Musik einen direkteren Zugang als etwa zu der eines Richard Wagner?

Ja, ganz ohne Frage! Auch wenn ich mich im Deutschen sehr wohl fühle, ist mir diese Musik alleine schon durch die Sprache unendlich viel näher. Wagner liebe ich wie eine schöne Fremde, die man kennen lernen und erobern möchte, und Mussorgskij liebe ich wie mein eigenes Hemd. Mein Blut fließt schon ein bisschen schneller, wenn ich Mussorgskij höre.

In "Chowanschtschina" gibt es ja verschiedene Tonsprachen. Die Oper wurde 1880 komponiert, blieb aber Fragment. Sie entschieden sich für die Instrumentierung von Schostakowitsch aus dem Jahr 1960. Da liegen immerhin 80 Jahre dazwischen.

Das ist eine kantige Sache. Schostakowitsch hat den originalen Klavierauszug genommen und ihn mit größtmöglicher Schlichtheit orchestriert. Hat weder verschönert noch geglättet oder volumisiert. Er hat also Mussorgskijs Konzept einer Musik der reinen Wahrheit, ohne Arabesken, absolut mitgetragen. Auf der anderen Seite war Schostakowitsch ein Mensch des 20. Jahrhunderts, und das hört man. Manche Klangfarben sind uns zeitlich einfach sehr nahe. Damit hat er, sicher unbewusst, den Wendegedanken dieser Oper noch zusätzlich aktualisiert, man fühlt sich an die Vorgänge vor zehn Jahren in Jugoslawien oder jetzt in Tschetschenien erinnert.

Sie spielen die Fassung von Dimitrij Schostakowitsch, nehmen aber für den Schluss eine Lösung von Igor Strawinsky. Warum?

Der Schluss, wie er bei Schostakowitsch vorgesehen ist, stammt nicht von Mussorgskij. Wir spielen also die komplette Schostakowitsch-Fassung ohne einen einzigen Strich - was schon etwas Besonderes ist - und nehmen dann den letzten fünfminütigen Chorsatz, den Strawinsky aus Mussorgskijs Schlussskizzen angefertigt hat. Das scheint uns näher an Mussorgskij zu sein als das frei hinzukomponierte Ende Schostakowitschs.

Dieser Schluss beinhaltet eine Selbstverbrennung der altgläubigen Raskolniki. Historisch korrekt war es aber eine Verbrennung, eine Ermordung. Warum war Mussorgskij da so ungenau?

Auch bei den Strelitzen weicht die Oper von der Historie ab. In der Oper werden sie verschont, in Wahrheit wurden sie hingerichtet. Es gibt vieles, was Mussorgskij absichtlich und bewusst verändert hat, weil es ihm nicht um die historische Wahrheit ging, sondern um ein anderes Kaliber von Wahrheit; eine menschliche Wahrheit vielleicht. Um die Aussage zu verstärken.

Eine Massenselbstverbrennung als Opernfinale: Lässt sich das heute guten Gewissens auf einer Bühne darstellen?

Nein. Es kann nur kitschig werden oder peinlich. Das ist es, woran ein Regiekonzept letzten Endes scheitert oder wodurch es gewinnt.

Interview: Stefan Schickhaus

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Copyright © Frankfurter Rundschau online 2005
Dokument erstellt am 23.03.2005 um 15:44:16 Uhr
Erscheinungsdatum 24.03.2005

Interview

Den russischen Dirigenten Kirill Petrenko konnte man Ende 2004 in Frankfurt bereits in einer konzertanten "Walküre" in der Alten Oper erleben, wo er sein Publikum staunen ließ. Jetzt leitet er an der Oper Frankfurt die Neuproduktion von Modest Mussorgskijs musikalischem Volksdrama Chowanschtschina, in einer Inszenierung von Christian Pade

Petrenko, 1972 im sibirischen Omsk geboren, übersiedelte 1990 nach Österreich und debütierte dort 1995 als Operndirigent. Von 1999 bis 2002 war er dann Generalmusikdirektor in Meiningen und machte dort nicht zuletzt dadurch auf sich aufmerksam, dass er - ohne jemals zuvor eine Wagner-Oper dirigiert zu haben - den kompletten "Ring" an vier aufeinander folgenden Tagen realisierte. Seit 2002 ist Petrenko nun GMD an der Komischen Oper in Berlin. ick