WIESBADENER KURIER
05.02.2005

"Ein wirkliches Drama"
Dietrich Hilsdorf inszeniert Johann Sebastian Bachs "Johannes-Passion" am Staatstheater

Von Volker Milch


"Dogmatisch" soll diese "Johannes-Passion" nicht werden: Der Regisseur Dietrich Hilsdorf (links im im Hintergrund) probt im Staatstheater Bach.
Kaufhold

Die Gretchenfrage beantwortet der Regisseur Dietrich Hilsdorf nach kurzem Schweigen mit einem "Nein", das nicht hart klingt: "Nein, ich glaube nicht an Gott. Bis zum 16. Lebensjahr war ich sehr gläubig und auch in einem kirchlichen Internat in Laubach. Ich habe Andachten gehalten. Das hat mit einem Text von Sartre aufgehört." Ein religiöses Bekenntnis wird man

von ihm in seiner Inszenierung der "Johannes-Passion" nicht erwarten dürfen, sicher aber das ganze Engagement eines leidenschaftlichen Theatermannes: "Es geht nicht darum, nachzuweisen, dass Christus Gottes Sohn ist. Es geht um den reinen Vorgang, und dieser Vorgang ist ungeheuer stark. Man kann an ihm so viel lernen wie an kaum einer anderen der alten Tragödien."

Hilsdorf also inszeniert Bachs "Johannes-Passion". Als das bekannt wurde, ging ein Raunen durchs Wiesbadener Musikleben. Wackere Kirchenmusiker runzelten die Stirn, sahen womöglich das Staatstheater am Tag der Premiere, dem 19. Februar, vom himmlischen Strafgericht getroffen. Ist das nicht der Mann, der. . .

Genau. Das ist der, der immer mal wieder über die Stränge schlägt, der es gerne drastisch mag, das Staatsorchester 1993 "Kurkapelle Sylt" schimpfte und daraufhin für Jahre am Warmen Damm unerwünscht war. Er spart nicht am Theaterblut und hatte in seiner Inszenierung von Verdis "Macbeth" auch schon einen Überraschungs-Auftritt als nackte Hexe ("Das war ´ne Wette, das hab´ ich wohl im Suff versprochen"). Sein kreativer Umgang mit den Originalen ist nicht immer unumstritten. In Wiesbaden etwa hat er 1993 "Cavalleria rusticana" und "I Pagliacci" zu einem Opernabend mit dem Titel "Blutige Ostern" verbunden. Wobei wir ja fast wieder beim Thema wären. Vor allem aber ist Hilsdorf ein Regisseur, dem das Wiesbadener Publikum neben ein paar Skandälchen von regionalem Unterhaltungswert eine ganze Reihe fantasievoller, fesselnder Inszenierungen zu verdanken hat. Mit dem Intendanten Manfred Beilharz ist der 1948 in Darmstadt geborene Hilsdorf vor zweieinhalb Jahren zurück nach Wiesbaden gekommen und gehört in Schauspiel und Oper zu den prägenden Regisseuren des Hauses.

Diesmal also keine säkularen Passionen, sondern eine eindeutig sakrale. Ja geht das denn überhaupt? Und ist eine szenische Aufbereitung der "Johannes-Passion" nicht ohnehin ein arg gewagtes Unterfangen? Aber Hilsdorf - dem es ursprünglich nicht ganz geheuer war, dass seine Inszenierung auch am Karfreitag gegeben werden soll - entdeckt in der "Johannes-Passion" die "Urform europäischen Theaters", die antike Tragödie mit dem Chor als Protagonisten: Er hat die Passion als "großes szenisches Ereignis" empfunden. Beim Hören vor allem der Gardiner-Einspielung.

Freilich musste man eine "Spielform" finden, denn im Gegensatz zu Händel-Oratorien sei diese Bach-Passion "nun eindeutig keine Oper". Sehr gut, sagt Hilsdorf, kenne er das Werk, habe es in seiner Jugend mit der Laubacher Kantorei selbst gesungen. Auch aus dieser Perspektive kann Hilsdorf die Leistungen von Opern- und Extrachor würdigen. In der szenischen Fassung müssen die Sänger ihre Partien auswendig lernen und werden "individualisiert". Über die Zusammenarbeit ist Hilsdorf glücklich: "Ich habe schon lange nicht mehr so froh inszeniert." Überhaupt seien die Verdi-Erfahrungen die Basis für das Bach-Projekt gewesen: "Wir machen dieses Stück hier, weil die Arbeit mit dem Chor und seinem Leiter Thomas Lang bei ,Macbeth´ so gut war."

Zur Vorbereitung seiner Inszenierung hat Hilsdorf nicht nur viel theologische Literatur gewälzt, sondern auch 48 Stunden Jesus-Filme gesammelt, von Pasolini bis zum Musical "Jesus Christ Superstar". Bei aller Drastik, die dem Regisseur Hilsdorf eigen ist, hat er "Die Passion Christi", Mel Gibsons vor einem Jahr in die Kinos gekommenen Jesus-Film, "entschieden abgelehnt": "Das fand ich pornographisch, das war dreist und dumm. Ich habe abgeschaltet, wenn die Geißelungen kommen, das wollte ich mir weder im Kino noch alleine zuhause angucken."

Blut wird auch bei Hilsdorf fließen, "aber ich hoffe, dass man mir zugute halten kann, dass ich das nicht in den Vordergrund rücke". Die Grausamkeiten der Passion könne man ja eigentlich gar nicht darstellen. Statt einer platten "Bebilderung" strebt Hilsdorf "ein wirkliches Drama" mit Parteien, Gruppen und Gegensätzen an: "Wir werden hoffentlich einen ungeheuren Realismus erleben", sagt der Regisseur und denkt sogar an den mediterranen Duft von Thymian und Rosmarin: Der von Martinu als Opernstoff genutzte Roman "Griechische Passion" von Nikos Kazantzakis inspirierte ihn nachhaltig. Die "Johannes-Passion" wird in einem griechischen Dorf spielen.

"Dogmatisch" soll die Aufführung auch im Musikalischen nicht werden. Dafür wird der junge französische Dirigent Sébastien Rouland sorgen. Die Zusammenarbeit scheint spannend zu sein: "Er springt wie ich auf Stühle und ist unglaublich engagiert", sagt Hilsdorf. Ihre unterschiedlichen Positionen und kulturellen Prägungen würden keinesfalls "zu einer Soße verrührt": "Es bleibt gestochen scharf".

 

Wiesbadener Tagblatt
29.01.2005

In dem griechischen Dorf bestimmt der Chor
Gespräch mit Dietrich Hilsdorf über seine Inszenierung von Bachs Johannes-Passion als Musiktheater im Großen Haus

Von Gabriele C. Jung


Dieses für die Produktion des Staatstheaters werbende Wunschmotiv von Dietrich Hilsdorf ist zweifelsohne plakativ, spart allerdings den zentralen Chor aus.
Foto: Martin Kaufhold

"Bach hat die szenischen Räume bereits eröffnet. Ich bin der Meinung, wenn er Opern geschrieben hätte, wäre er ein erstklassiger Opernkomponist gewesen. Nicht als fetten alten Mann stelle ich mir Bach vor, sondern so wie auf seinen Jugendbildnissen als jungen blitzenden Italiener". Dies sagt Regisseur Dietrich Hilsdorf, der am Staatstheater Wiesbaden für die Premiere am 19. Februar im Großen Haus die szenische Aufführung von Johann Sebastian Bachs Johannes-Passion probt.

Kühne Kombination Die musikalische Leitung bei diesem Barock-Projekt hat Sébastien Rouland, den man in Wiesbaden als Spezialist für die historisch informierte Aufführungspraxis bereits von Rameaus "Platée" und Glucks "Armide" kennt. Über die Zusammenarbeit sagt Hilsdorf in unserem Gespräch: "Diese Entscheidung war von der Theaterleitung sehr kühn. Ich glaube, die haben nicht bedacht, dass da unglaubliche chemische Reaktionen mit einer gewissen Knallgas-Entwicklung stattfinden. Wir haben unsere unterschiedlichen Sichtweisen sehr produktiv nebeneinander stehen lassen. Wir können nichts harmonisieren, wir müssen uns akzeptieren." Beglückend für Hilsdorf ist die erneute Zusammenarbeit mit Chordirektor Thomas Lang, den er bereits durch Verdis "Macbeth" gut kennt. Diese nun tatsächliche Harmonie ist um so entscheidender, als der Chor in der Johannes-Passion die Hauptrolle spielt. In allen Publikationen zu diesem Werk entdeckt Hilsdorf das Wort "betrachtend", das gilt für Arien und Choräle. Er sieht jedes einzelne Teil des Werks als szenische Aktion. Wesentlich ist für ihn, dass der historische Ursprung des europäischen Theaters im Chor liegt. Deshalb versteht er die Aufführung auch als Versuch über diese archaische Form.

Zu Probenbeginn sagte der in Musiktheater und Schauspiel gleichermaßen gefragte Regisseur dem Chor: "In neun Wochen werden wir eine richtige Dorfgemeinschaft sein, 105 Mitwirkende mit Solisten." Das Stück spielt bei ihm in einem griechischen Dorf. Rund um einen Platz sitzt das Kollektiv, das sich einen Herrscher (Anführer) und einen Sündenbock sucht. Der Theatermann möchte, dass bemerkt wird, wie alle Musikinterpreten das Werk verfehlt haben - "außer John Eliot Gardiner vielleicht". In diesem Zusammenhang berichtet er von einem kürzlichen Gespräch mit Gruppenleitern des Rhein-Mainischen Besucherrings. Seine Beobachtung ist: "Da stellte sich heraus, dass wir durchaus gewisse Reibungen erwarten können. Weniger mit Pfarrern oder anderen Christen. Aber es wurden plötzlich Stimmen laut, wonach einige Kantoren meinten ,das geht nicht´. Ich fand das insofern schön, weil gewisse Traditionen der Bach-Rezeption durchbrochen werden. Denn die Musik ist zum Teil ideologisch so festgeklopft."

Hilsdorf möchte Zuschauer erreichen, die sich für Texte, Musik und Zusammenhänge, kurz für Prozesse interessieren. Er liest die Johannes-Passion wie jedes andere Stück und geht an die Musik wie an jede Oper heran. Sein Vorteil ist freilich, dass er als Junge die Johannes-Passion schon selbst in wechselnden Stimmlagen mit der Laubacher Kantorei sang.

Episch und dramatischDie Stationen der Passion Christi empfindet er als ungeheuer stark "inszeniert", so dass sie auch in der Bildenden Kunst "unglaublich darstellbar" sind. Ihm zufolge schreit die Passion nach einer Theateraufführung. Allerdings räumt er ein: "Für mich ist Jesus nur darstellbar, wenn man auf bestimme Attribute wie Dornenkrone und Kreuz verzichtet. Das wäre geschmacklos." So empfand er Mel Gibsons viel diskutierten Film "Die Passion Christi" als "religiöse Pornografie, Kitsch und total langweilig".

Ihm geht es um einen völlig anderen Zugriff, um episches und zugleich hochdramatisches Theater. Nicht umsonst habe Brecht auf die Frage hin, welches Buch ihn am meisten beeindrucke, geantwortet: "Sie werden lachen, die Bibel".