Frankfurter Rundschau
21. Februar 2005

Herr, unser Herrscher
Eine monumentale Aufgabe bravourös gelöst: Das einstige enfant terrible Dietrich Hilsdorf bringt in Wiesbaden Bachs "Johannes-Passion" auf die Opernbühne

VON TIM GORBAUCH

Spät, sehr spät kommt Dietrich Hilsdorf auf die Bühne. Ausgiebig darf sich der Chor verbeugen, das Kollektiv, das auf der Opernbühne selten eine so tragende Rolle spielt. Immer wieder lässt Hilsdorf die Sänger an den Bühnenrand treten, den Applaus empfangen, den sie verdienen. Und als er dann selbst fast zögerlich aus dem großen Ensemble heraustritt und sich dem Publikum stellt, geht er ungewisser denn je an die Rampe. Er hat nicht irgendeiner Oper eine neue Sicht hinzugefügt, sondern Johann Sebastian Bachs Johannes-Passion, ein für die Kirche bestimmtes, die Größe Gottes bezeugendes Werk, auf die Opernbühne gebracht. Aber Hilsdorf wird warm empfangen. Wiesbaden hat mit ihm, dem ehemaligen enfant terrible, der in den frühen 90er Jahren die Premierenabonnenten in die nackte Verzweiflung trieb, längst Frieden geschlossen.

Der Skandal bleibt aus

Wer den Skandal erwartet hat, geht leer aus. Hilsdorf ist kein Häretiker, kein Religionsphilosoph, sondern ein Vollblutdramatiker. Er erzählt die Leidensgeschichte Jesu als die Tragödie eines Tischlersohns, der von sich behauptet, König zu sein. Manche glauben das, andere nicht. Die Anmaßung endet in der Hinrichtung, weil es zu wenige sind, die ihm folgen. Das ist der Kern der Handlung. Spät tastet sich noch ein blinder Mann über die Bühne, es könnte Ödipus sein, zu dessen Drama Hilsdorf die Johannes-Passion analog begreift. Als vom Chor, vom Kollektiv getragenes Ur-Theater.

Und es funktioniert. Die Johannes-Passion lässt sich dramatisch erzählen, ohne dass man sie verbiegen müsste - das ist Hilsdorfs eigentliche Leistung. Anders als Achim Freyer etwa, der vor kurzem Verdis Requiem als einen opulenten Bilderreigen auf die Bühne brachte, untersucht Hilsdorf Bachs Musik szenisch und macht so die vielgestaltige, aus Bibeltext, Chorälen und freien Nachdichtungen kompilierte Passion als Einheit begreifbar. Gerade die weitläufigen Dacapo-Arien fügt er konsequent in den dramatischen Ablauf ein, sie sind nichts Äußerliches, Betrachtendes, sondern notwendige, zwingende Äußerungen seiner Protagonisten. Die freilich hat Bach so nicht definiert, Hilsdorf musste den neutral als Sopran-, Alt-, Tenor- und Bass-Partien gekennzeichneten Arien Personen zuweisen: Martha, Maria Magdalena, Petrus und Pilatus. Selbst die epische Figur des Evangelisten zieht er in den Bann des Dramas: Judas übernimmt seine Rolle, deutet sie dabei um vom nüchternen, distanzierten Chronisten zum hämischen Akteur, der Jesus schließlich verrät.

"Herr, unser Herrscher", das ist die fundamentale Sehnsucht, die die Geschichte antreibt. "Herr, unser Herrscher", singt der Chor gleich zu Beginn. Es ist wie eine Aufforderung, die nicht bittend, sondern drohend daherkommt. Judas bietet sich als erster an, doch als er ahnt, dass er dem Volk auch seine Leidensgeschichte zeigen müsse, schreckt er zurück. Jesus ist der nächste, der wie zufällig das karge griechische Bergdorf (Bühne: Dieter Richter) betritt, in dem Hilsdorf, Nikos Kazantzakis Griechischer Passion folgend, das Drama verortet. Nun eben er: "Herr, unser Herrscher". Lange hält die Sehnsucht nicht. Bald bricht sie um in Skepsis, in Ablehnung, in Hass. Und zum Schluss deutet Hilsdorf auch das Irrationale der posthumen Verehrung an: Wie Vampire giert das Volk nach dem Blut Jesu, beschmiert sich Gesicht, Leib, Kleider. Von heute an wird das Erbe verwaltet.

Der von Thomas Lang einstudierte Chor sieht sich mit der Johannes-Passion einer geradezu monumentalen Aufgabe gegenüber - und schlägt sich von Anbeginn an prächtig, gerade auch weil er seine theatrale Herkunft nicht verleugnet und auf Wirkung setzt. Sébastien Rouland denkt als Orchesterchef ähnlich. Mit oft großen, theatralen Gesten, die kein Sakralbau vertragen könnte, nähert er die Johannes-Passion der frühen italienischen Oper an, getragen von einem exzellenten Continuo, das Bachs Musik gleichermaßen festigt und belebt.

Hilsdorf Szene freilich hätte auch eine strengere Musikauffassung vertragen. Doch auch er selbst ist gegen die Versuchung nicht immun, manches zu deutlich anzulegen. Gerade Judas (Christopher Lincoln) erlaubt Hildorf übergroße Gesten, er wirkt wie ausgestellt im Epizentrum eines Spiels, das er, Shakespeares Jago ähnlich, lenken soll. Mit seinem Gott lästernden Credo, das Hilsdorf ihm nach dem ersten Teil der Johannes-Passion in den Mund legt, ist er dann endgültig überfordert: Als Sprechtheater hat Oper noch nie funktioniert.

Stimmlich aber ist in Wiesbaden alles in bester Ordnung. Christopher Lincoln als Judas, Sharon Kempton als Martha, Sandra Firrincieli als geläuterte Sünderin Maria Magdalena, Carsten Süss als Petrus, Guido Jentjens als Pilatus und Thomas de Vries als Jesus, ihnen allen gelingt der Spagat, Bach als Bühnendrama zu behaupten, ohne die musikalische Substanz zu gefährden.

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Dokument erstellt am 20.02.2005 um 17:40:16 Uhr
Erscheinungsdatum 21.02.2005

 

Wiesbadener Tagblatt
21.02.2005

Emotional bezwingende archaische Tragödie
Dietrich Hilsdorf inszeniert Bachs "Johannespassion" als szenisches Musiktheater im Großen Haus des Staatstheaters

Von Richard Hörnicke


Glanzleistung des Chores in Johann Sebastian Bachs nach Griechenland verlagerter "Johannespassion".
Foto: Martin Kaufhold

Am Rande des Geschehens - - Kartenspiel der Kinder und Alkoholgenuss der Dorfältesten. Zur gleichen Zeit führt eine fanatisierte Menge den Opfertod eines von ihr erwählten Königs herbei: Regisseur Dietrich Hilsdorf lässt Johann Sebastian Bachs "Johannespassion" als szenisches Musiktheater auf dem von weißen Mauern gerahmten Dorfplatz (Bühnenbild: Dieter Richter) des kleinen griechischen Dorfes Lias in den Kostümen Renate Schmitzers packende Gestalt annehmen.

Die Anregung zur Rahmengeschichte fand er in Nikos Kazantzakis Roman "Die griechische Passion". Aus der Mitte der Dorfgemeinschaft wird in der Passionszeit ein Erlöser erwählt, der an Jesu Stelle das Passionsgeschehen mit Krönung, Verurteilung, Folterung und Kreuzestod nachvollziehen soll. Doch wird aus diesem "mythischen Ritual" bald grausame Wirklichkeit, die mit dem Tod des Stellvertreters endet.

Hilsdorf lässt in akribischer Feinarbeit (so ist jedem Chormitglied eine bestimmte Rolle zugewiesen) eine archaische Tragödie erstehen, die in der Emotionalität der Aussage unmittelbar bezwingt.

Es ist dem ehemaligen Sänger der Laubacher Kantorei gelungen, die betrachtende Funktion der Arien in dramaturgisch sinngemäßes szenisches Handeln umzusetzen - eine beachtliche Leistung.

Die Rolle des Evangelisten hat er dem Judas überantwortet, der hier als Spielführer fast shakespearischen Formats in oft changierender Art agiert und mit einem eingefügten Credo á la Verdis Jago seine Distanz zum Glauben artikuliert. Eine Glanzrolle für den australischen Tenor Christopher Lincoln.

Auch bei der Zuordnung der Arien zu den Personen der Handlung beweist Hilsdorf Fingerspitzengefühl. Hervorragend Guido Jentjens als Pilatus mit ehern geschwärztem, kernigem Bass. Von gleichem darstellerischem und gesanglichem Format der Petrus von Carsten Süß, hoheitsvoll und von ruhigem Ernst getragen Thomas de Vries als Jesus. Nicht minder präsent Sandra Firrincieli als Maria aus Magdala mit warmem, ausdrucksvollem Alt. Sharon Kempton verlieh der Partie der Martha in sensibler Stimmführung lyrische Kontur.

Ausgezeichnet die Leistung des Chors. Seit bereits einem Jahr hatte sich Chordirektor Thomas Lang der Anforderung gestellt, die anspruchsvollen und differenzierten Chöre der Passion mit dem Haus- und Extrachor des Staatstheaters zu erarbeiten. Die Vorzüglichkeit der Diktion, die Intensität und Sicherheit, mit der die Sängerinnen und Sänger ihre Partien schauspielerisch und stimmlich gestalteten, lässt erkennen, wie sehr sie diese für sie neue Aufgabe unter Mitarbeit des Regisseurs und des Dirigenten angenommen haben. Hervorzuheben auch die Formation der zwölf Gerechten aus Mitgliedern des Extrachors.

Am Pult des Orchesters stand der in Wiesbaden bereits durch die Dirigate von Rameaus "Platée" und Glucks "Armide" bekannte und sehr geschätzte Sébastian Rouland. Dank seiner präzisen und fordernden Zeichengebung erhielt die Partitur nerviges und nuanciertes Gewicht, auch dramatischen Zugriff.

Exzellent die Besetzung des basso continuo mit Stephan Breith (Violoncello), Rudolf Merkel (Laute) und Yvon Repérant (Cembalo und Orgel). Auf der Szene agierte als goldglänzend gewandete Versuchung Flötistin Cornelia Thorspecken, Roswitha Bruggaier ließ als Frau Musica den silbrigen Klang ihrer Gambe ertönen.

Die Zuschauer wurden zu Beginn und Ende durch das volle Licht im Großen Haus in das Geschehen direkt einbezogen, feierten Ensemble, Orchester, Dirigent und Regisseur mit begeistertem Beifall.

 

WIESBADENER KURIER
21.02.2005

Jesus unter den Griechen
Johann Sebastian Bachs Johannes-Passion szenisch am Staatstheater Wiesbaden

Von Volker Milch


Auf dem griechischen Dorfplatz spielen sich dramatische Szenen ab.
Kaufhold

Vorweg: Kein himmlisches Strafgericht trifft das Staatstheater am Premieren-Abend, und die Ausrufung Wiesbadens zum hessischen Opern-Oberammergau läge angesichts der szenischen Aufführung von Johann Sebastian Bachs Johannes-Passion immer noch näher als der Bannfluch wegen Blasphemie. Auch das Premieren-Publikum, dem man sicher eine gewisse Skepsis gegenüber dem nicht alltäglichen Unterfangen unterstellen darf, klatscht sich am Ende warm und will die Interpreten gar nicht gehen lassen, den von Thomas Lang einstudierten Chor, die Solisten, den Regisseur Dietrich Hilsdorf und den Dirigenten Sébastien Rouland.

Die Passion auf der Opernbühne: Warum sollte man ein Werk nicht einmal zurück an den Ort holen, dem die Gattung ästhetisch ohnehin verpflichtet ist? Weltliche und sakrale Sphären ließen sich musikhistorisch ohnehin nicht säuberlich trennen. Das Inszenieren von Händel-Oratorien gehört fast zum guten Ton an den Bühnen. Bachs Matthäus-Passion musste schon für einige Experimente herhalten; Neumeier hat sie bekanntlich vertanzt. Die Johannes-Passion ging in den 80er Jahren über italienische Bühnen. Nach unzähligen Jesus-Verfilmungen würde eine gute Portion Fundamentalismus dazugehören, um einen solchen Versuch grundsätzlich abzulehnen.

Auf der anderen Seite wird die Passion, wenn sie wie in Wiesbaden als "archaische" Dorfgeschichte inszeniert wird, in einer Weise verengt, die das Fehlen der heilsgeschichtlichen Dimension selbst für den zum Defizit werden lässt, der diese Dimension in einer "normalen" Aufführung im kirchlichen Rahmen vielleicht gar nicht mehr erwarten würde. Zum Beispiel: Die Bass-Arie "Mein teurer Heiland, laß dich fragen" ist von rhetorischen Fragen durchdrungen ("Ist aller Welt Erlösung da?"), die das lyrische Ich für sich gewiss mit "Ja" beantworten würde, wenn es dieses Faktum denn fassen könnte. Hilsdorf legt diese Arie der Figur des Pilatus in den Mund und macht angesichts des Gekreuzigten eine einigermaßen hämische Nummer daraus, die vielleicht in seine Geschichte passt, aber doch nur die Ferne deutlich macht, von der Hans Blumenberg in seinen Überlegungen zur Matthäus-Passion spricht: vom "Hörer der unaufholbaren Verspätung, unter dessen Horizont die Bilder und Gleichnisse, die heiligen Geschichten und Reden, die Sprüche und Choräle der Bachgemeinde entschwunden sind". Ähnlich die Verkürzung des Sünden-Begriffs aufs Erotische in der Alt-Arie "Von den Stricken meiner Sünden", die Hilsdorf der offenbar von allerlei Judas- und Jesus-Begehrlichkeiten gebeutelten Figur der "Maria aus Magdala" in den schönen Mund legt. Das Bewusstsein der Defizite ist stets stärker als der Spaß daran, dass die Geschichte immer irgendwie "aufgeht". Aber solche Umbaumaßnahmen der Regie haben ohnehin keine Chance gegenüber der Kraft, die dem Wort durch Bachs Musik zuwächst: Spätestens mit dem "Es ist vollbracht!" zerbröseln alle Geschichtchen um die Geschichte, und das griechische Dorf Lias ist nur noch eine Bastelarbeit. Nein, man muss kein gläubiger Christ sein, um zu spüren, dass sich die Passions-Geschichte zu stark in der kollektiven Erfahrung sedimentiert hat, um auf der Opernbühne umgebogen zu werden. Ich jedenfalls mag das nicht sehen.

Dabei ist es in sich erstaunlich schlüssig und gewiss mit Herzblut auf die Bühne gebracht. Hilsdorf ist ein Mann der starken Bilder, und wenn man ein paar seiner Arbeiten kennt, muss man diese aktuelle geradezu dezent nennen. Immerhin: Die blutverschmierten Münder an der Bahre spielen auf den Umgang mit dem Leib des Herrn an. Den Rahmen für die Dorfgeschichte gibt die "Griechische Passion" von Nikos Kazantzakis, die bei Martinu zur Oper wurde. Dieter Richter hat einen weiten Dorfplatz auf die Bühne gebaut, und die archaische Atmosphäre im gleichwohl neuzeitlichen Rahmen eines besetzten Dorfs wird von Renate Schmitzers überwiegend schwarzen Kostümen unterstrichen. Den Arien weist Hilsdorf im Gegensatz zu Bach Rollen zu: Neben Maria aus Magdala (Sandra Firrincieli) kommen Martha (Sharon Kempton), Petrus (Carsten Süss), Pilatus (Guido Jentjens) und Jesus (Thomas de Vries) ins Spiel. Die Partie des Evangelisten wird in weiten Teilen von Judas okkupiert (Christopher Lincoln), der offenbar eine Wandlung erfährt und sich schließlich betroffen mit einem Kreuz davonstiehlt. Statt der Predigt, die ursprünglich zwischen den beiden Passions-Hälften ihren Platz hatte, bringt Hilsdorf eine trotzige Text-Collage, in der Judas etwa das grimmige Credo des Jago aus Verdis "Otello" spricht: "Der Himmel ist ein Ammenmärchen". Ein apartes Kontrastprogramm, für das Christopher Lincoln (bei allen vokalen Qualitäten) die rhetorische Überzeugungskraft fehlt. Das hört sich an wie ein überlanger Singspiel-Monolog.

Auf der anderen Seite färbt das szenische Espressivo gerade der Chorpartie oft eindrucksvoll auf die musikalische Deutung ab - und es ist fraglos eine Glanzleistung, wie Opernchor und Extrachor in dieser Situation heikle kontrapunktische Passagen meistern. Die Frömmigkeit der Choräle dagegen wird ausgelagert in einen Kammerchor der "12 Gerechten". Herausragend im Solisten-Ensemble der Pilatus des Guido Jentjens und der würdevolle Jesus von Thomas de Vries. Orchestral wünscht man sich im Eingangschor eine stärkere Durchhörbarkeit der Oboen gegenüber dem Streicher-Apparat, wobei man bei einem solchen szenischen Versuch die Maßstäbe historischer Aufführungspraxis nicht anlegen wird. Insgesamt gelingt Rouland und seinen Solisten eine lebendige, vom Szenischen inspirierte Deutung. 2:1 also für Bach. Eine Oper bleibt er uns indes noch schuldig.

 

Frankfurter Neue Presse
21.2.2005

Verleugnet, verspottet, getötet
Im Wiesbadener Staatstheater gab’s reichlich Applaus für Dietrich Hilsdorfs Inszenierung der "Johannes-Passion" von Bach.

Von Claudia Arthen

Die Idee, Bachs "Johannes-Passion" von der Kirche auf die Opernbühne zu verlegen, ist keinesfalls abwegig. Haben die Leipziger Ratsoberen den Thomaskantor doch angeblich kritisiert, seine 1824 uraufgeführte Komposition sei zu "theatralisch" für die Kirche. Ob’s wirklich Schelte gab für die "opernszenisch" gestaltete Erstfassung der "Johannes-Passion" oder nicht: Bach strich unter anderem den von dramatischem Impetus gezeichneten Eröffnungschor "Herr, unser Herrscher" und ersetzte ihn in einer zweiten Fassung durch den Chor "O Mensch, bewein’ deine Sünde groß". Für Regisseur Dietrich Hilsdorf gab es keine Schelte vom Premierenpublikum. Im Gegenteil: Ensemble und Spielleitung erhielten Applaus und Bravorufe.

Hilsdorf setzt die Leidensgeschichte des Jesus von Nazareth anhand der Urfassung Bachs in Szene, lässt sich dabei von Nikos Kazantzakis’ Roman "Die griechische Passion" inspirieren und verlegt das Königsdrama aus dem biblischen Judäa in das kleine griechische Dorf Lias der heutigen Zeit . Die Dorfbewohner suchen einen Erlöser, und als sich einer anbietet, ist der Jubel groß. Doch das Blatt wendet sich: Jesus wird angefeindet, verleugnet, verurteilt, gefoltert und getötet – so wie in der Bibel.

Bisweilen artet Hilsdorfs Interpretation in allzu freches Unterhaltungstheater aus. Etwa, wenn das Volk bei der Begrüßung des "Judenkönigs" buntes Konfetti wirft, sich eine Dorfbewohnerin in der "Kreuzige"-Szene selbst befriedigt oder Salome am Schluss auf einem Tablett den Kopf von Johannes dem Täufer serviert. Überzeugend gelingt es Hilsdorf dagegen zu zeigen, wie leicht die "Masse Mensch" manövrierbar wird und wie der Einzelne den Schmerz durchlebt. Am eindringlichsten kommt das beim Begräbnis zum Ausdruck, bei dem sich die Trauernden mit blutverschmierten Mündern am Leib Christi laben, wie religiöse Kannibalen.

Den Erfolg seiner Passion verdankt Hilsdorf in erster Linie den Solisten. Allen voran der australische Tenor Christopher Lincoln. Er stellt Judas als Getriebenen dar, der dem Alkohol und den Frauen verfallen ist und die Verurteilung Jesu mit Schadenfreude und facettenreicher Stimme auskostet – bis er selbst keinen Sinn mehr in seinem Leben sieht und es mit einem Pistolenschuss beendet. Auch das übrige Ensemble überzeugt: Sandra Firrincieli gibt den fulminanten Mittelteil "Der Held aus Juda" aus der Alt-Arie der Maria Magdalena mit atemberaubender Intensität, wobei ihr Timbre geradezu verschmilzt mit dem warmen und doch klar fokussierten Ton der barocken Gambe (Roswitha Bruggaier). Sharon Kemptons koloraturwendiger Sopran, der bei den "freudigen Schritten" von virtuosen Flötentönen (Cornelia Thorspecken) begleitet wird, erweist sich als ideal ein für Bachs Arienanforderungen. Guido Jentjens (Pilatus), Thomas de Vries (Jesus) und Carsten Süss (Petrus) haben ebenfalls starke sängerische und darstellerische Auftritte.

Die Chorsänger (Leitung: Thomas Lang) artikulieren bestens und sparen nicht mit drastischen Textauslegungen in den großen Chorszenen . Sébastian Rouland, Spezialist für historische Aufführungspraxis, verhalf der komplexen barocken Klangrede zu natürlichem Ausdruck – und zwar auf höchstem musikalischen Niveau.