Der gelbe Klang VON BERNHARD USKE
Ein Libretto wie frisch in der Yellow Press gekeltert, mit ein bisschen homophiler und bisexueller Romantik, ehegattiger Rachsucht und femininen Giftattacken. Lucrezia Borgia ist eine erstklassige Yellow Opera, der allein das Talent ihres musikalischen Schöpfers das Schicksal einer operalen Seifenkiste erspart hat. Raffiniert ist Gaetano Donizettis Einsatz der orchestralen Mittel, die um so effektiver kommen als sie genau und schaumbremsend dosiert sind. Höchst eingängig die vokalen Melodiebögen, die zur ganz großen Gemüts-Massage nur auflaufen, wo sie sich in doppel-vokaler Verschränkung durch den instrumentalen Schürhaken zu ohrenberückenden Klanggirlanden emporranken. Helmut Polixa, der Regisseur der Neuinszenierung des Schauerstreifens am Stadttheater Gießen tat gut daran, die Portion Psycho-Drama, die mittlerweile von jedermann in- und auswendig herauf- und herunterinterpretiert werden kann, auf sich beruhen zu lassen. Auf der Bühne also Konzentration auf das eigentliche Potenzial dieser Oper, den Gesang. Dem Namen Borgia im Wappen des herzoglichen Geschlechts den Anfangsbuchstaben zu rauben und damit eine Orgia zu offenbaren - das ist der Hoheitsfrevel des jungen Mannes Gennaro, der seine Mutter über alles liebt und nicht weiß, dass er sie in der ihn liebenden, berüchtigten Giftmischerin Lucrezia Borgia vor sich hat. Was auf der Bühne der Beginn des Unheils ist, das ist für das Auditorium das Glück dieses Abends, denn in Gießen übersetzt man B-Orgia mit Belcanto Orgia und das ist das Beste was man machen kann. Atmosphärische Anhaltspunkte Ein paar bühnenbegrenzende Stoffbahnen mit projizierten Fotografien eines zeitgenössischen Frauengesichts, eines Renaissance-Stilllebens und -Treppenhauses, von Wasseroberflächen und ausgedörrtem Erdboden geben atmosphärische Anhaltspunkte. Auf der Bühne selber kaum mehr als eine große rote Treppe, ein großes weißes Podest als Bett und Gelage-Tafel, zwei dominante Farbwerte in den Kostümen (Bühne und Kostüme: Stefan Rieckhoff) - genug, um einen passenden Rahmen für das zweidreiviertelstündige Vokal-Drama zu haben. Ganz in Rot mit pavianesker Lockenmähne schießt Paolo Ruggiero als Herzog von Ferrara den vokalen Vogel ab: eine bassbaritonale Röhre, die Feuergarben mit maximalem emotivem Heizwert ausstößt, strahlend und herrlich timbriert. Kaum ihm nachstehend die Lucrezia Giuseppina Piuntis, mit rundem, festen Sopran, der alle Höhenflüge großartig meistert. Die Hosenrolle des Maffio Orsini wird von Alina Gurina sowohl gestisch als auch stimmlich perfekt gemeistert, den jungen Gennaro gibt Johan Weigel mit schmelzendem Tenor... Die Liste ließe sich bis zum letzten Posten des Programmzettels fortsetzen: ein Sängerfest. Gabriele Bellini machte mit dem bestens aufgelegten Philharmonischen Orchester Gießen seinem Namen alle Ehre und auch Jan Hoffmann, der Leiter des makellos agierenden Chors und Extrachors des Stadttheaters Gießens wurde zu Recht vom begeisterten Publikum mit Jubel bedacht. [ document info ] Dokument erstellt am 01.12.2004 um 17:09:11 Uhr Erscheinungsdatum 02.12.2004 |
Starkes Stück Musiktheater Von Claus Ambrosius Blutschande mit Vater und Brüdern, der Gifttod, den ihre Hand so gern und oft gereicht haben soll - Lucrezia Borgia ist gerichtet von zahllosen Geschichtsschreibern. Und wenn auch aus Historikersicht wohl an all dem nichts dran ist, so lebt das Ungeheuer Lucrezia Borgia doch fort in unseren Köpfen, kolportiert auch von Victor Hugos Schauspiel und Gaetano Donizettis Oper auf diese Vorlage. Dieser Schocker von 1833 hat alles, was ein starkes Stück Musiktheater braucht: Großartige Wechsel zwischen poetischer Gefühligkeit der Mutterliebe und Rachsucht, prächtige Ensembles (großartig etwa der erste Aktschluss) und zwei raumgreifende Szenen für die Protagonistin. Dass das bis zum Ende des 19. Jahrhunderts überaus populäre Werke heute nur noch selten auf den Spielplänen anzutreffen ist, könnte dabei neben der allfälligen Belcanto-Unlust vieler Regisseure auch und vielleicht vor allem an Besetzungsproblemen liegen. Denn man braucht einen höhensicheren Belcanto-Tenor nach Art des unvergessenen Alfredo Kraus, einen mittenstarken Bass-Bariton als Lucrezias Ehemann Nummer drei - und schließlich eine dramatische Koloratursopranistin, die die hybriden verzierten und dramatischen Anforderungen der Titelpartie erfüllt. Für Montserrat Caballé war es 1965 der Durchbruch, als sie für die hochschwangere Marilyn Horne (damals noch Sopran) einsprang, unter den berühmten Sängerinnen haben sich Beverly Sills, Leyla Gencer und Joan Sutherland der Partie angenommen. Doch man muss nicht so große Vergleiche anstellen, um der aktuellen Gießener Produktion großen Mut, aber auch gehöriges Premierenpech in stimmlicher Hinsicht zu bescheinigen: Lediglich Paolo Ruggiero konnte dem Herzog mit kraftstrotzender Mittellage großes Formats abgewinnen, während man dem jungen Tenor Johan Weigel als Gennaro - sollte er nicht völlig indisponiert gewesen sein - noch eine Zeit des Reifens uns Schulens seines gewiss großen Potenzials wünscht. Schließlich Giuseppina Piunti in der Titelpartie: Eine junge, bildschöne Lucrezia mit einer alt klingenden Stimme. Sie benötigt fast die ganze Oper, um ihr oft unfokussiertes Vibrato zu zügeln. Ausgerechnet das brillante "Era desso" am Ende gelingt ihr mit großer Geste und packenden Läufen. Helmut Polixa (Regie) und Stefan Rieckhoff (Bühne und Kostüme) knüpfen mit einer auf wenigen Stoffvorhängen und schlauer Lichtregie fußenden Inszenierung an den Vorsaisonerfolg mit Giordanos "Fedora" an, auch Gabriele Bellini zeigt mit flüssigen Tempi und bravouröser Begleitung durch das motivierte Orchester und den homogenen, kleinen Chor, was in einem Stadttheater in Sachen Belcanto möglich ist. Trotz der Einschränkungen ein Opernschmankerl, das die Fahrt nach Gießen allemal lohnt. |
Neue Sternstunde am Musentempel Donizettis "Lucrezia Borgia" hatte gefeierte Premiere - Regie: Helmut Polixa, am Pult Gabriele Bellini Von Olga Lappo-Danilewski Lucrezia Borgia (1480-1519) ist auf Grund einer ihrerzeit wohl machtpolitisch bestimmten Verleumdungskampagne zum Inbegriff des Bösartigen geworden: eine Giftmörderin, die ein ausschweifendes Leben führt und vor keinem Verbrechen zurückschreckt. Historisch ist allerdings nichts von alledem über die in vierter Ehe mit Herzog Alfonso d'Este verheiratetete Tochter von Papst Alexander VI. erwiesen; sie hielt wie andere Fürstinnen der Renaissance Hof und zählte gebildete Leute wie den Dichter Ariosto zu ihren Gästen in Ferrara. Victor Hugos (literarisch wenig bedeutende) Textvorlage für Gießens neuesten Opern-Event, Donizettis "Lucrezia Borgia" spart allerdings auch nicht mit Drastik inbezug auf schlimme Eigenschaften der Borgia. Politische Spannungen, Inzest- und Ödipusthematik, Homosexualität - das waren Gründe genug, warum Donizettis 1833 in Mailand uraufgeführte Oper zu den meistzensierten der Musikgeschichte gehört und fast 100 Jahre in Vergessenheit geraten war. Immerhin haben in neuerer Zeit Montserrat Caballé und Joan Sutherland der Belcanto-Oper den Weg auf die Bühne wieder geebnet, und 1995 hat es in Berlin eine vielbeachtete Aufführung in der Regie von Pierre Badan gegeben. Das Gießener Stadttheater hat sich nun mit der Produktion von "Lucrezia Borgia" - Premiere war am Samstag - wiederum eine gewagte Aufgabe gestellt und für die selten gespielte Oper aus Prolog und zwei Akten eine kompakte, gut verständliche Interpretation mit Spitzenbesetzung erarbeitet. Sie stellt in jeder Beziehung Anforderungen an alle Mitwirkenden - die Bühnentechnik samt Beleuchtung und Soffitten nicht ausgenommen. Da wurden Möglichkeiten der Bühne eindrucksvoll demonstriert (und wie zu hören war, auch an ihre Grenzen gebracht). Ein Prolog spielt in Venedig: Lucrezia beobachtet einen jungen Mann, es ist ihr Sohn aus einer frühen Beziehung, er weiß aber nicht, dass sie seine Mutter ist - und verliebt sich. Sie wird jedoch in der Stadt erkannt und Gennaro ist entsetzt. Er schändet das Wappen und macht aus dem Schriftzug "Borgia" Orgia, ein provokantes Wortspiel. Lucrezias herzoglicher Ehemann hält den Jüngling für einen Liebhaber seiner Frau, sie weiß nicht, dass Gennaro es war, der das stolze Wappen geschändet hat; das Schicksal wendet sich also aus verschiedenen Richtungen gegen Gennaro. Lucrezia ist schockiert, als sie erkennt, dass er den Namen besudelt hat, bittet aber um Gnade für ihn. Alfonso zwingt sie, ihm vergifteten Wein zu geben (eine hochspannend gespielte Szene im Ferrareser Palast!). Sie verabreicht Gennaro ein Gegengift und verhilft ihm zur Flucht. Die wird jedoch vereitelt - aus wiederum sehr persönlichen Gründen: Gennaros Freund Orsini (die Beziehung hat neben allen Treueschwüren homoerotischen Charakter) überredet ihn zu bleiben... Auf einem wilden Fest bei der Fürstin Negroni wird sich amüsiert, aber Lucrezia wähnt auch hier alle Fäden in ihrer Hand und lässt wiederum vergifteten Trank bringen - nicht wissend, dass ihr Sohn sich unter den Gästen befindet. Diesmal reicht das Gegengift nicht, und er zieht den Tod in der Männerrunde seiner Freunde vor ...In der Schlussszene mit Lucrezia erfährt er seine wahre Identität und stirbt in den Armen seiner Mutter. Ein Regie-Kunstgriff ist hier, dass die tragische Heldin nicht zusammenbricht, sondern sich lediglich voller Verzweiflung die Haarpracht rauft. Ein Bild, dass dem Schluss die Gefahr zu dick aufgetragener Melodramatik nimmt und offen lässt, was weiter passiert, denn im Hintergrund steht wartend der Herzog ... Zur Realisierung dieser Horrorstory hatte man sich eine hochkarätige Sängerriege zusammengestellt und ein am Hause bereits bewährtes Team für Regie und Musik herangezogen. Helmut Polixa, der sich hier schon mehrfach als Opernregisseur Lorbeeren durch schlüssige, assoziationsreiche und fantasieanregende Interpretationen geholt hat, bleibt diesem Stil treu, einem Stil, der die Zuschauer nicht bevormunden will und durchaus interessante Ansätze bietet. So stellt seine Gestaltung der Titelfigur die Frage: wie ist Lucrezia zu solch zerstörerischen Handlungen fähig geworden? Eine Frau, die in einer ihr feindlichen Umwelt auf der Suche nach wahrer Liebe ist und ständig enttäuscht wird? So etwa könnte ein Ansatz lauten. Die Sängerdarstellerin Giuseppina Piunti - sie hat seit ihrer "Norma" hier vor zwei Jahren noch an stimmlicher Dramatik hinzugewonnen - gab dieser Vorstellung von Zwiespalt und Tragik überzeugendes Profil und machte große Gefühle glaubhaft. Ihr Partner und Landsmann Paolo Ruggiero beeindruckte in Erscheinung und kraftvollem Bassbariton als Machtmensch und Principe von Ferrara auf adäquatem Niveau; besonders intensiv die Kammerspiel-artige Szene der beiden im Palast ("Soli noi siamo"). Hier ist alles rot wie die Macht oder das Blut, und eine raffinierte Kulisse mit Pilastern und Wänden voller Gemälde machen Raumillusion perfekt. Der Schwede Johan Weigel (Staatsoper Stuttgart) gibt den Gennaro sehr jugendlich; sein strahlkräftiger Tenor trägt ausgewogen in allen Lagen und wird mit den Jahren gewiss noch an Nuanciertheit des Ausdrucks hinzugewinnen, ebenso wie sein etwas unsicherer Bewegungsgestus. Gennaros Intimfreund Maffio Orsini ist Alina Gurina (hier vor kurzem in "Samson und Dalila" und "Carmen"). Sie gibt dem Jüngling mit kapriziösem Spiel und extravaganter, kehliger Tiefe ihres Alts schillernde Facetten - eine auch optisch perfekte Besetzung der Hosenrolle. Die Personenführung verlieh der homoerotischen Seite des Freundespaares sogar ein gewisses Knistern. Auch die Nebenrollen ließen keine Wünsche offen: Stephan Boving als Jeppo Liverotto, Arthur Pirvo als Gazella, Holger Falk als Petrucci, Sven Väth als Vitellozzo, Sebastian Geyer als Gubetta. David-Erich Fankhauser als Rustighello, Kommandant der "Schutztruppe" des Hauses Este in Ferrara, sang und spielte in bester Form; Siegfried Lenkl gab dem Astolfo tragikomische Züge. Wie einem Bild Carpaccios entsprungen erschien Mary Lazar im verlebten, geschminkten Outfit der Fürstin Negroni. Der auf die drei Farbklänge Blau, Rot und Schwarz-Weiß reduzierten, eindrucksvollen Bühne von Stefan Riekhoff boten die Klänge aus dem Orchestergraben unter Maestro Gabriele Bellini (hier in "Norma" und Fedora" am Pult) in blühender musikalischer Substanz Paroli: In einer Musik, die meist in schwelgerischem Belcanto verharrt und damit sogar den Text konterkariert, aber durchaus bereits Verdi ahnen lässt - etwa im bedeutungsträchtigen funebren Vorspiel oder in der Trinklied-Szene des Orsini im Schlussakt, die in ihren maurischen Melismen an die Eboli im "Carlos" erinnert und mit dem Chor aus dem Off zur Kirchenglocke mahnenden Gesang als Kontrast erhält. Grandios zu dieser choreografierten Szene auf einem riesigen weißen Tisch (oder ist es ein Bett, ein Laufsteg?) die opulenten Festmahl-Transparente, eine Kulisse wie das Todesmahl des "Don Giovanni" - nur, dass hier nicht der Komtur, sondern Lucrezia wie eine Todesgöttin in Schwarz eintritt. Bei aller Emotionsgeladenheit und tragischer Dimension blitzen aber doch dosiert rührende, träumerische Momente ironisierend durch; so funkeln manchmal Sternchen durch die blauen Wasser der Lagune, oder ein Riesen-Reisekoffer unterstreicht die Absicht Gennaros. Wieder eine Sternstunde am Musentempel. Das Publikum war zu Recht begeistert und feierte die vier Protagonisten sowie das Leitungsteam und die von Jan Hoffmann zu souveräner Leistung einstudierten Chöre ausgiebig. |
Beifallsstürme für fast vergessene "Lucrezia Borgia" Von Thomas Schmitz-Albohn GIESSEN. Wie konnten die Musiktheater im Lande nur ein so bühnenwirksames Stück wie Gaetano Donizettis Oper "Lucrezia Borgia" lange Zeit unbeachtet in der Schublade schmachten lassen? Drei Jahrzehnte, nachdem das Werk zuletzt auf einer deutschen Bühne zu sehen und zu hören war, ist es im Gießener Stadttheater wieder zum Leben erweckt worden. Das Wagnis, die fast vergessene Oper wieder ins Rampenlicht zu rücken, mündete für alle Beteiligten in einen triumphalen Erfolg: So wollten die Beifallsstürme bei der Premiere am Samstagabend nach fast dreistündiger Aufführung kein Ende nehmen. Pünktlich zur Weihnachtszeit hat Gießen seine große Oper. Donizettis 1833 uraufgeführtes Werk über die berüchtigte Giftmörderin der Renaissance enthält all das, was die Herzen der Opernliebhaber aufgehen lässt: Schauerdramatik, Leidenschaften, Melodienreichtum und über allem Belcanto - also jene hochvirtuose Gesangskunst der Italiener, die das Melos bei vollendeter Beherrschung wunderschön frei strömen lässt. Die Arien und vor allem die bald durch spärliche Akkorde, bald durch orchestrale Finessen gestützten Ensembles sind meisterhaft gearbeitet und werden zu dramatischer Gesamtwirkung gebracht. Die Partitur verzichtet zwar auf romantische Genremalerei, arbeitet aber mit Stimmungen, um das Bühnengeschehen zu gliedern und zusammenfassen. Es ist das große Verdienst der Gießener Produktion, dass sie die unzweifelhaft schlagkräftigen Qualitäten des Werks geschickt herauszustreichen versteht und die Schwächen - vor allem in der teils abstrusen Handlung - beiseite drängt. Überhaupt hat das Stadttheater für diese aufwändige Inszenierung weder Kosten noch Mühen gescheut und ist dabei an seine sowohl künstlerischen als bühnentechnisch und finanziell machbaren Grenzen gegangen. So konnte eine ganze Reihe erstklassiger Künstler verpflichtet werden, die in ihrem Zusammenwirken eine ästhetisch ansprechende "Lucrezia Borgia" wie aus einem Guss präsentieren. Am Pult agiert, wie schon bei Bellinis "Norma", der Mailänder Belcanto-Spezialist Gabriele Bellini, der auch bei diesem Donizetti ganz in der Partitur aufzugehen scheint. Mit Esprit und Sinn für die melodische Inspiration dirigiert er das Philharmonische Orchester Gießen, zelebriert die Stimmungen und stellt eine große dynamische Flexibilität unter Beweis. Als Fachmann für Belcanto hat er natürlich eine glückliche Hand für die gleichmäßig strömende Musik und die unverzichtbare Feinheit des Tones. Und wie er den Sängern genügend Freiraum und oft genug Vorrang einräumt, das beweist seine Klasse. Gastregisseur Helmut Polixa, der mit dem Dirigenten schon bei "Norma" zusammen gearbeitet hat, lässt sich diesmal ganz von den starken Gefühlen leiten. Gemeinsam mit Bühnen- und Kostümbildner Stefan Rieckhoff findet er für den jeweiligen emotionalen Gehalt einer Szene einprägsame, auf eine bestimmte Farbe reduzierte Bilder, die den Zuschauer sofort ansprechen und in die Gefühlswelt der Protagonisten hineinziehen: Venedig zu Beginn ist ganz in Blau getaucht. Auf großen, transparenten Tüllbahnen sind Wasserspiegelungen zu sehen. Es gibt keine Gondeln, keine bunten Kostüme, und der Trubel eines Maskenfestes spielt sich nur in der Musik ab. Der Akzent liegt auf den finsteren Gedanken und anklingenden Todesahnungen. So fällt fahles, düsteres Licht auf die Festgesellschaft in monotonem Graublau. Alles ist dem Farbklang untergeordnet. Noch deutlicher wird dies im Palast von Ferrara mit einer feuerroten Treppe in tiefschwarzer Umgebung. Genau wie der heute weitgehend vergessene, expressionistische Theaterregisseur Leopold Jeßner, der im Berlin der Weimarer Republik die Treppe als Gestaltungsmittel auf der Bühne einführte und starke Farben als Bedeutungsschwerpunkte einsetzte, lässt auch Polixa auf einer solchen Treppe spielen. Auf den Stufen der Treppe erteilen die rot gekleideten Höflinge des Herzogs einem Spion eine blutige Lektion, und wenn das rot gekleidete Herzogspaar darauf wieder einmal einen seiner Ehekriege ausficht, blitzen in dieser "Orgie in Rot" verletzte Liebe, Eitelkeit und Machtgier auf. Das Gelingen einer Belcanto-Oper hängt natürlich entscheidend von den Protagonisten auf der Bühne ab - und auch da weist die Gießener Inszenierung eine hervorragende Besetzung auf. In der Titelrolle der Lucrezia Borgia bietet Donizetti einer jeden Primadonna schier unbegrenzte Entfaltungsmöglichkeiten für ihre Stimme. Und diese Möglichkeiten lässt sich die bildhübsche, italienische Sängerin Giuseppina Piunti nicht entgehen, um sich nach ihrer bejubelten Norma-Interpretation in Gießen erneut als große, ausdrucksstarke Darstellerin ausweisen. Die überreiche Ausstattung ihres Gesangsparts mit etlichen Koloraturen stellen sie nicht einen Augenblick vor Probleme. Sie verfügt über eine brillante Technik, über Feuer des Temperaments und nimmt scheinbar mühelos jede Klippe. Aber was ihre Darstellung der rachsüchtigen, aber auch liebenden und verzweifelten Frau so echt wirken lässt, das ist ihre enorme sinnliche Ausstrahlung. Als ihr jugendlicher Liebhaber Gennaro glänzt Johan Weigel mit einem überwältigenden Tenor, wie man ihn sich für eine Belcanto-Oper nur wünschen kann. Die lyrische, samtig-schöne Stimme strahlt weit aus und schmeichelt sich dem Hörer ins Ohr. Einen solchen Gegenspieler muss der Herzog zu Recht fürchten. Diesen Fürsten singt Paolo Ruggiero, der in der besten Tradition der italienischen Baritone steht: Agil, leicht in der Tongebung, fähig zu kräftigen Akzenten und mit rhythmischem Schwung ist er ein Herzog wie aus dem Bilderbuch. Mit Temperament und großer Ausdruckskraft verkörpert die ukrainische Mezzzosopranistin Alina Gurina in einer Hosenrolle Gennaros Freund Orsini. In konzertanten Aufführungen hat sie schon als Dalila und Carmen bewiesen, was für eine prächtige Stimme sie hat. In der Rolle des Jünglings, der sich nicht nur in Freundschaft, sondern in Liebe zu Gennaro hingezogen fühlt, zeigt sie erneut ihre stimmliche Eleganz, Fülle und Steigerungsfähigkeit. Hinzu kommt die erotische Komponente. Als Handlanger und Berater des Herzogs macht Haustenor David-Erich Fankhauser eine gute Figur. In weiteren Rollen singen Stephan Boving, Arthur Pirvu, Holger Falk, Sven Väth, Sebstian Geyer, Siegfried Lenkl und Mary Lazar. Erwartungsgemäß gut ist wieder der Chor des Stadttheaters von Chordirektor Jan Hoffmann auf seinen Einsatz vorbereitet. |
Mitleid mit "Lucretia Borgia" Seit der letzten Spielzeit scheint sich Gießen zum Geheimtipp der Belcanto-Freunde zu entwickeln. Worum größere Häuser eher einen großen Bogen schlagen, Gießen hievt sie auf die Bretter seines Stadttheaters. Nach dem letzt jährigen Erfolg mit der Wiederentdeckung von Giordanos „Fedora" für die deutschen Bühnen wagte sich das Erfolgsteam []Helmut Polixa, Regie, Stefan Rieckhoff, Ausstattung und Gabriele Bellini am Pult des Philharmonischen Orchesters Gießen nun an ein Werk der Hoch-Zeit der Belcanto-Oper: Donizettis Lucrezia Borgia. Dieses schön-schaurige Werk aus der Feder Victor Hugos um versteckte Mutterliebe, Eifersucht, Gift und Gegengift ist mit Sicherheit nicht so ganz einfach szenisch umzusetzen ohne gleich zu einer Renaissanceklamotte abzurutschen. Helmut Polixa und sein Team deuten die szenische Handlung eher an und konzentrieren sich auf die psychischen Verstrickungen der Personen um die blutrünstige, giftmordende Herrscherin Ferraras und ihren verschollen geglaubten Sohn Gennaro, den sie zufällig in Venedig schlafend vorfindet und sofort innige Gefühle äußert. Gennaro ergeht es nicht anders und voller Vertrauen offenbart er die Geschichte seines Lebens dieser fremden Frau. Er hat seine Mutter nie gesehen, die er von einem Tyrannen gefangen gehalten glaubt und über alles liebt. Jetzt ist es klar, Lucrezia erkennt ihren verlorenen Sohn. Der ist entsetzt, dass er Gefühle für diese Frau hegt, die ihm und seinen Freunden ob ihrer Gräueltaten zutiefst verhasst ist. Diese feierwütige „Jeunesse d’orée" eilt zu einer Feier nach Ferrara und dort begeht Gennaro vor seinen Freunden ein „Verbrechen", indem er das „B" an der Villa der Borgias abschlägt und das Wort „Orgia" hinterlässt. Natürlich muss das Verbrechen gesühnt werden und Gennaro soll durch einen Gifttrunk sterben. Hier zeigt sich die tiefenpsychologische Stärke dieser Produktion; die Auseinandersetzung Lucrezias mit ihrem Mann Alfonso um die Strafe für Gennaro lässt hinter der harten Schale den weichen Kern dieser Frau erkennen, die zum ersten Mal in ihrem Leben Liebe und Zuneigung zu fühlen scheint. Für die Gespaltenheit dieser Person zwischen Furie und Grazie (um mit Kleist zu sprechen), findet das Regieteam eine plausible Lösung im Schlussbild, wo die Gespaltenheit der Borgia in einem geborstenem Portrait wiederspiegelt. Hier findet tragische Größe statt, die Mutter hält den sterbenden Sohn in den Armen und offenbart sich. Giuseppina Piunti findet in diesen dramatischen Szenen zu imposanter Größe und kann hier ihren warmen Sopran strömen lassen. Sie setzt nicht nur, wie manch namhaftere Kollegin, auf die perfekte Koloratur, sondern formt einen Mensch aus Fleisch und Blut. Ihr zur Seite der blutjunge Tenor und James King Schüler Johan Weigel als Gennaro, der mit jugendlicher Frische und tenoralem Glanz überzeugt. Wenn er sich nicht mit zu großen Rollen übernimmt und seiner Stimme den letzten Feinschliff angedeihen lässt, könnte mit Weigel einer der seltenen Vertreter des „lirico spinto" heranwachsen. Paolo Ruggiero als unerbittlicher Gatte Alfonso mit kernig-virilem Bass-Bariton formte eine ausgefeilte Charakterstudie des macchiavellistischen Herrschaftsprinzips. Eigenartig blass blieb die saft- und kraftstrotzende Partie des Orsini in der Interpretation von Alina Gurina, die zwar über die geläufige Koloratur verfügte, aber leider mit ihrem matt-gaumigen Mezzo keine Funken aus dieser Partie zu schlagen wusste. Aus den Nebenpartien ragte der Gubetta von Sebastian Geyer mit samtenen Kavaliersbariton heraus. Gabriele Bellini leitete das ausgezeichnete Philharmonische Orchester Gießen mit Schwung und Verve durch den durchaus gelungenen Abend. Dirk Altenaer |