Die Schwäche für das Komische als Stärke: Das also ist Faszination: Susanna fesselt den Grafen. Sie führt ihn sogar an der Leine spazieren. Eben noch hat er ihr mit einer Intrige den Hochzeitstermin verpatzt, und schon spinnt sie ihn in eine andere ein. Ahnungslos spielt er der koketten Kammerzofe ein rotes Kissenherz zu, da bricht Regisseur Rainer Pudenz die Probe ab: Mittagspause. Johannes Kösters atmet auf. Als Almaviva hat er wenigstens bei Mozart das Sagen, bevor er von den Frauen übertölpelt wird, aber im Palmengarten machen ihm in der letzen Woche vor den großen Ferien nicht nur der Baulärm nebenan, sondern auch die vielen Schülergruppen zu schaffen. Wenige Tage vor der Premiere liegen die Nerven des Ensembles bloß. Am 17.Juli um 19 Uhr soll "Die Hochzeit des Figaro" über die Bühne der Konzertmuschel gehen, und dies hier ist noch nicht einmal eine Durchlaufprobe. Kein Wunder, daß so mancher Palmengarten-Besucher en passant rätselt, um welche Oper es sich überhaupt handelt. Jedenfalls ist auf der Bühne gerade mächtig was los. Eine Entenmutter läßt sich jedoch nicht so leicht schrecken und führt ihre Jungen durch den blauen Storchschnabel an eine Pfütze. Ein Eichhörnchen huscht dagegen verstört über die Zuschauersitze unter den Kastanien, als es im endlosen Finale des zweiten Aktes immer lauter wird. Im Westen zieht die unvermeidliche Regenfront auf. Es ist kühl, aber nur die ungebetenen Zuschauer frösteln, denn die Sänger sind momentan fast alle in Aktion und beweisen, wie genial Mozart und sein Librettist Lorenzo da Ponte die Spannung mittels retardierender Momente immer wieder lösen und bis ins Unerträgliche steigern konnten. Prestissimo! - Dann läßt Anton Zapf den Dirigentenstab sinken: Die Hälfte ist geschafft. Mehr als die Hälfte sogar. Aber insgesamt dauert die Aufführung drei Stunden und zehn Minuten, schätzt Pudenz. Der Gründer und Leiter der Frankfurter Kammeroper läßt nämlich auch die beiden Arien von Marcellina (Dzuna Kalnina) und Don Basilio aussingen, die sonst als unliebsame Verzögerungen im vierten Akt gelten und meist gestrichen werden. Heute hat er als Regisseur nicht viel zu sagen, denn dies ist eine Orchester-Bühnenprobe. Die freischaffenden Musiker im Orchester sind noch sehr jung. Einige waren allerdings schon im vorigen Jahr beim "Don Giovanni" dabei. Die meisten jungen Sänger und Dirigenten lassen sich nicht lange halten: Sie nutzen die Kammeroper als Sprungbrett für ihre Karriere. Pudenz bedauert das, doch ist er auch stolz darauf, daß manche seiner Nachwuchskünstler heute in Covent Garden und an der Metropolitan Opera singen. Nur Bernd Kaiser, sein Bartolo und Antonio, und Peer-Martin Sturm, der den Basilio und den Don Curzio singt, halten ihm seit 20 Jahren die Treue. Kösters ist seit zwölf, Bühnenbildner Joao Malheiro seit zehn Jahren und die Kostümbildnerin Margarete Berghoff sogar seit 1982, dem Gründungsjahr der Kammeroper, mit von der Partie. Damals hatte Pudenz, der sein Handwerk vom Felsenstein-Schüler Siegfried Schoenbohm gelernt hat, mit Georg Philipp Telemanns "Pimpinone" eine neue Tradition in Frankfurt gestiftet: Lange Zeit hat er Opern inszeniert, um die sich die etablierten Häuser nicht kümmerten, Werke unter anderem von Cocteau und Poulenc. Seine Schwäche fürs Komische, die sich als Stärke seiner Inszenierungen erwies, läßt sich diesmal schon an den skurrilen Kostümen ablesen: dem wippenden Minireifrock Susannas (Jana Degebrodt), dem gigantischen Stehkragen der Gräfin (Irene Naegelin/Michaela Friedrich) und den bizarren Zipfeln des transparenten Grafenrocks. Ganz zu schweigen von dem Reifrockgerippe des entflammten Pagen Cherubino (Susanne Jäckh/Judith Ritter). Das ist aber auch schon alles, was die Inszenierung mit der abgelaufenen Zeit des Ancien Regime gemein hat, über die sich Pierre Augustin Caron de Beaumarchais am Vorabend der Französischen Revolution in seiner Komödie "Der tolle Tag oder Die Hochzeit des Figaro" lustig machte. Mozart und da Ponte haben aus dem rebellischen fünfaktigen Stück, dessen Druck in Wien zwar erlaubt, dessen Aufführung aber verboten war, eine kongeniale Opera buffa in vier Akten geschaffen. Kaiser Joseph II. war zwar der Ansicht, daß sie "zu viele Noten" habe, aber die Uraufführung fand trotzdem am 1. Mai 1786 im Wiener Hoftheater statt. Der italienische Librettist hatte alles moralisch Anstößige für die Zensur geglättet, der Komponist hatte es für feinsinnige Ohren wieder hineinkomponiert. Im Palmengarten ist die deutsche Übersetzung von Nicolas Brieger und Friedemann Layer zu hören. Doch Pudenz wartet nicht mit einer politischen Botschaft auf. "Das wäre vielleicht 1968 spannend gewesen", winkt er ab und fährt fort: "In diesem Stück ist alles Beobachtung." Deshalb hat er ein Bild des spanischen Malers Mateo Vilagrasa in die Rückwand des abstrakten himmelblauen Bühnenbilds eingelassen: zwei Menschenaugen, die mit sezierendem Blick auf der Szene ruhen. Jeder taxiert jeden im Grafenschloß, sonst ließen sich ja keine Intrigen einfädeln. Diese verkommenen Aristokraten und Emporkömmlinge interessieren den Regisseur. Er will nichts als Menschentheater zeigen, einzelne Charaktere wie den Grafen als klassischen Fremdgeher ausloten oder der koketten Susanna auf den Zahn fühlen, die sich trotz ihrer Liebe zu Figaro alle Möglichkeiten offenhält. Auf einen Chor verpflichtet ihn die Partitur allerdings auch: Zwölf Sänger des Frankfurter "Orfeo"-Laienchores werden Figaro (Jürgen Orelly) moralisch unterstützen. Seit 1994 führt die Kammeroper die größte ihrer drei Jahresproduktionen im Palmengarten auf. Früher waren Pudenz und die Seinen auch in der Loge zur Einigkeit, im Gallustheater und im Finkenhof zu Gast. Anfang der neunziger Jahre hatten sie sogar die Kastanienallee im Nordend bespielt. Erst seit kurzem ist die Kammeroper im Besitz einer stillgelegten Fabrik in Sachsenhausen, die sie vorerst als Werkstätte nutzt. Gefördert von Stadt und Land, von der FAZIT-Stiftung, der Hertie-Stiftung und der Sponholz-Stiftung sowie gesponsert von der Fraport AG, scheint die Zukunft der Kammeroper gesichert. Pudenz, mittlerweile 48 Jahre alt, möchte seine Arbeit als Teamchef und als Einzelkämpfer im Büro jedenfalls nicht mehr missen. Aber ob er im nächsten Jahr mit "Cosi fan tutte" die dritte Mozart/da-Ponte-Oper inszenieren oder nicht vielleicht doch lieber mit Rossinis "Barbier von Sevilla" Beaumarchais' Vorgeschichte zum "Figaro" erzählen will, muß er sich noch überlegen. CLAUDIA SCHÜLKE |