Darmstädter Echo
1.6.2006

Muttersöhnchen ade
Ausblick: William Relton inszeniert Brittens Oper „Albert Herring" – Premiere ist am Samstag

DARMSTADT. Nein, Albert Herring sei nicht einfältig, sondern typisch englisch, meint der Regisseur William Relton, der Benjamin Brittens Komische Oper „Albert Herring" inszeniert, die am kommenden Samstag (3.) im Kleinen Haus des Staatstheaters Darmstadt Premiere hat. Denn was der Komponist in seiner 1947 uraufgeführten Oper aufs Korn nimmt, das ist das englische Klassensystem. Selbst heute noch bestehe in England diese soziale Hierarchie, meint Relton. Er selbst habe erlebt wie ein Mann von Adel es ablehnte, einen Nichtadeligen zu sprechen.

„Albert Herring" zähle zu seinen Lieblingsopern, berichtet der Regisseur, der mit dieser Kammeroper erstmals an einer deutschen Bühne inszeniert. Vor sieben Jahren hat er dieses Werk an einem College in Glasgow auf die Bühne gebracht. Gesungen wird in Darmstadt auf Deutsch, damit der Zuschauer den Witz besser mitbekomme, denn das Stück basiere auf viel Text und sei ein Konversationsstück, wie die Dramaturgin Karin Dietrich anmerkt.

Worum geht es? In dem kleinen Städtchen Loxford suchen die Honoratioren nach einer tugendhaften Maikönigin. Doch kein Mädchen passt so recht ins Konzept; mal ist der Rock zu kurz, mal sitzt der Ausschnitt zu tief oder die junge Dame hat zu viele Männerbekanntschaften. Da sich keine findet, muss ein junger Mann als Maikönig her. Albert Herring, der schüchterne Sohn der Gemüsehändlerin, ist der ideale Maikönig: Er trinkt, spielt und tanzt nicht und hat sich auch noch keinem Mädchen genähert. Bei der Feier schütten junge Leute Alkohol in seine Limonade. Darauf wird er so angeheitert, dass er noch in der selbigen Nacht sein Maikönigsgeld zum Entsetzen seiner Mutter und der Honoratioren verjubelt.

Hatte noch Britten die Geschichte gegen Ende des 19. Jahrhunderts spielen lassen, so sieht man in Darmstadt die fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts auf der Bühne, die der Ausstatter Simon Higlett entsprechend ausstaffiert hat. Ein sehr realistisches Bühnenbild, bemerkt Relton.

Albert Herring ist für Relton ein Außenseiter – wie überhaupt die meisten Opernhelden bei Britten Außenseiter der Gesellschaft sind. Am Ende befreit sich Albert, das brave Muttersöhnchen, aus der ach so tugendhaften Enge der ihn umgebenden Gesellschaft, nutzt die Zeit und nimmt sein Leben als sich selbst bestimmendes Individuum in die Hand. Das ist die Quintessenz dieser parodistisch angelegten Oper, die Relton leicht und flüssig inszenieren will. (hz)

 

Frankfurter Allgemeine Zeitung
1. Juni 2006

OPER
Ständig ticken und klingeln Uhren

Von Ellen Kohlhaas

William Relton
Deutschlanddebut: der Londoner Opernregisseur William Relton

„Eine Komödie ist eine sehr ernste Angelegenheit", stöhnt der Regisseur William Relton im Hinblick auf Benjamin Brittens Dreiakter „Albert Herring", der am Pfingstsamstag im Kleinen Haus des Darmstädter Staatstheaters Premiere haben wird. Das beginnt schon beim Text, denn die Charakterkomödie vom scheinbar einfältigen Muttersöhnchen, das bei einer nächtlichen Zechtour nach dem Maikönigs-Fest endlich erwachsen wird, ist „ein vom Text bestimmtes Stück in feinziseliertem Konversationsstil".

Dies bezieht sich auf die klavierbegleiteten Rezitative, auf kunstvolle kontrapunktische Ensembles, auf realistisches Durcheinandersprechen in natürlichem Sprachfluß ohne Rücksicht auf Takt und Tempo. Relton, der selbst Schauspieler und Sänger war, hat die schwierigen Parts für die auf deutsch gesungene Produktion mit den zehn Sängern und drei Kindern erst einmal musiklos als Sprechtexte eingeübt - mit dem Ziel, „daß die Musik sehr wahrhaftig gespielt, gesprochen und gesungen wird, als würden die Darsteller die Musik im Augenblick ganz spontan selber erfinden".

„Kick ins Leben"

Relton, der mit seiner Darmstädter Britten-Inszenierung in Deutschland als Regisseur debütiert, hält „Albert Herring" für „ein sehr englisches Stück"; es könnte aber in jeder muffigen Spießbürgergesellschaft spielen, in der engstirnige Moralnormen das Leben knebeln. Skurrile, scharf umrissene Charaktere repräsentieren die gesamte gesellschaftliche Hierarchie im fiktiven Städtchen Loxford in der Grafschaft East Suffolk - von der herrischen, altjüngferlichen Sittenwächterin und Maifest-Organisatorin Lady Billows bis hinab zu dem Außenseiter Albert Herring, der seine Krönung zum Maikönig lediglich dem angeblichen Mangel an tugendsamen Mädchen verdankt. Doch das Fest verhilft ihm - wie Relton sich ausdrückt - zum „Kick ins Leben".

Denn enthemmt vom Rum, den ihm der Metzgerbursche Sid heimlich in die Limonade gegossen hat, und angeregt von Sids Liebesspiel mit der Bäckerstochter Nancy, ringt er sich durch, sich aus den Fesseln der leblosen Stadtgesellschaft zu befreien. Zwar landet er volltrunken in der Gosse, und die Loxforder, die ihn gestorben wähnen, beweinen ihn in einem kunstvollen neunstimmigen Lamento. Doch diesem „surrealen Tod" (Relton) folgt die Auferstehung zu einem lebenswerten, selbstbestimmten Dasein außerhalb des Gefängnis-Kokons im mütterlichen Gemüseladen und der dumpfen Loxforder Gesellschaft, die sich mit Grausen vom freiheitsdurstigen Abtrünnigen abwendet. Doch die Liebenden und die Kinder, die das Leben noch nicht verlernt haben, halten zu ihm. Herring erkennt, daß der Himmel dem hilft, der sich selbst hilft.

Satire auf den englischen Puritanismus

Britten hat jede Figur und jede Situation musikalisch individuell bedacht. Dies sei „grundlegend für die Regieeinfälle". Dabei persifliert der Komponist ohne direkte Zitate geistreich bekannte Stile. Lady Billows etwa ergeht sich pompös im Tonfall Händels, Edward Elgars („Pomp and Circumstance", „Land of Hope and Glory") oder Thomas Augustine Arnes („Rule Britannia" aus der Masque „Alfred", 1740). Solche ironischen Klischees veranschaulichen die Versteinerung einer Gesellschaft, die zu keinem eigenen Ausdruck fähig ist. Sids Pfiffe dagegen, die Albert schließlich aufgreift, und die fröhlichen Kinderlieder stehen für Freiheit und ungezwungenes Leben. Ein besonders unwiderstehlicher Einfall ist die an das Liebestrankmotiv aus Wagners „Tristan" erinnernde chromatische Figur, als Albert die folgenreiche Rum-Limonade genießt.

Die am 20. Juni 1947 in Glyndebourne uraufgeführte Musikkomödie, für die der englische Schriftsteller und Regisseur Eric John Crozier das Libretto nach Guy de Maupassants Novelle „Le rosier de Madame Husson" schrieb, kann also auch als Satire auf den englischen Puritanismus verstanden werden. Britten siedelte Albert Herrings Selbstbefreiungsakt im April und Mai 1900 an. William Relton und sein Ausstatter Simon Higlitt dagegen wählten das Jahr 1959, weil sie die Oper nicht „als romantische Komödie aus spätviktorianischer Zeit" erlebbar machen wollen. „Im Jahr 1959", versichert der Regisseur, „bestand die soziale Hierarchie noch genau so wie knapp 50 Jahre früher." Reste davon seien auch heute noch erkennbar. Relton muß es wissen, denn er stammt aus dem County Norfolk direkt nördlich von Suffolk.

Die realistische, „sehr englische" Ausstattung der Darmstädter Neuinszenierung spiegele die stickige Atmosphäre dieser Gesellschaft. Halle, Salon und Garten der Lady, der Obst- und Gemüseladen von Alberts ihn tyrannisierender Mutter, die Straße davor - alles sei peinlich geordnet. Und ständig ticken und klingeln Uhren: Nicht allein das Leben, sogar auch die Zeit wird des freien Flusses beraubt und so zur Maßeinheit der Unterdrückung.

 

probenfoto


Katrin Gerstenberger (3. von links) als Lady Billows und die Spitzen der Gesellschaft (von links: Inna Kalinina, Werner Volker Meyer,Andreas Daum, Andreas Wagner und Sonja Gerlach) haben Albert Herring (Sven Ehrke) zum Maikönig gekrönt


Sven Ehrke in der Rolle des Albert wird von seiner resoluten Mutter (Elisabeth Hornung) bedrängt


Regisseur William Relton achtet genau auf die Zwischentöne