Frankfurter Allgemeine Zeitung
07.06.2006

OPER
Liebestrank im Tugendland

Von Benedikt Stegemann

Benjamin Britten hatte keine besondere Achtung für die gesellschaftlichen Strukturen und das scheinheilige Moralkorsett seiner englischen Heimat. In der Oper „Peter Grimes" zieht er dabei noch ein pessimistisches Fazit: Begabte Außenseiter gehen zugrunde. Dies hindert Britten drei Jahre später nicht, seinen prüden Landsleuten mit „Albert Herring" auf ganz andere Art und Weise den Spiegel vorzuhalten. William Relton hat diese komische Oper jetzt für seine eingedeutschte Inszenierung im Kleinen Haus des Staatstheaters Darmstadt zu einem funkelnden Kaleidoskop geschliffen.

Albert arbeitet Tag für Tag brav im Gemüseladen von Mama Herring (Elisabeth Hornung). Mädchen, Alkohol und Vergnügungen liegen in seinem rigide reglementierten Dasein außer Reichweite. Nun ist ein Tugendkomitee unter der diktatorischen Leitung von Lady Billows (Katrin Gerstenberger) auf der alljährlichen Suche nach einer Maikönigin für die Kleinstadt Loxford. Der spießige Bürgermeister Upfold (Andreas Wagner), Pfarrer Gedge (Werner Volker Meyer) und die naive Lehrerin Miss Wordsworth (Sonja Gerlach) haben einige Vorschläge mitgebracht. Leider ist ihrer Lady Haushälterin (Diane Pilcher) mit dem aktuellen Klatsch gewappnet und versichert glaubhaft, keine Kandidatin entspreche den Anforderungen an Tugend und Moral. Da bringt Polzeichef Budd (Andreas Daum) Albert Herring als männliche Alternative ins Spiel. Nach anfänglicher Ablehnung begeistert sich das Komitee für diese außergewöhnliche Idee.

Gespür für musikalische Pointen

Reltons Inszenierung besticht bereits in diesen Eingangsszenen mit Esprit und einer sich auch auf Bühnenbild und Kostüme (Simon Higlett) erstreckenden Detailgenauigkeit. Britten macht sich einen Spaß daraus, Personengruppen durch musikalische Stilparodien zu charakterisieren. Die Regie überträgt vorgefundene Satzmuster und Abläufe von der Partitur auf die Personenführung, entwickelt daraus eine Bewegungssprache, die sich mit den musikalischen Vorgaben äußerst wirkungsvoll verbindet. Selbst das Straßenfegertrio Emmy (Stephanie Maria Ott), Siss (Hyeon Kyoo Lee) und Harry (Susanne Serfling) kann so eine erfrischende Bühnenpräsenz entfalten, ohne sich in den Vordergrund zu spielen.

Bei der Inthronisationsfeier des Maikönigs mischt der physisch wie vokal beeindruckende Metzgerbursche Sid (Reuben Willcox) dem armen Albert Rum in die Limonade. Derart beflügelt, setzt sich der frischgebackene Maikönig ab und verwendet einen ordentlichen Teil seines Preisgeldes auf die Erkundung des ihm bis dato unbekannten städtischen Nachtlebens. Die Tugendwächter haben sich ihr Trojanisches Pferd selber herangezogen, und als der junge Mann nach durchzechter Nacht heimkehrt, weist er der verlogenen Gesellschaft selbstbewußt die Tür. Sven Ehrke meistert diese Metamorphose darstellerisch souverän, während sein Tenor hier eine Spur zu spröde bleibt.

Eine fabelhafte Leistung zeigt das Orchester unter der Leitung von Timor Oliver Chadik. Mit einem bezwingenden Gespür für musikalische Pointen, klangliche und instrumentale Effekte machen die Musiker das Vergnügen perfekt. Angesteckt vom Emanzipationsvirus erklatscht sich das restlos begeisterte Premierenpublikum die doppelte Anzahl der von der Technik vorgesehenen Vorhänge.

 

Frankfurter Rundschau
7. Juni 2006

Benjamin Brittens "Albert Herring"
Loxforder Verhältnisse

VON STEFAN SCHICKHAUS

Es soll die letzte Opernpremiere sein, bei der man vor den verschlossenen Türen des Großen Hauses steht; bei der man umgeleitet wird rechts hinüber, nach nebenan, durch enge, niedrige Gänge, hinter deren Wänden noch gebaut wird für die Wiedereröffnung im Herbst. Das Staatstheater in Darmstadt hat eine Spielzeit länger als geplant seine Opern im Kleinen statt im Großen Haus spielen müssen, hat also notgedrungen die Schwergewichte des Repertoires links liegen gelassen und sich auf das kleinere Format konzentriert.

Und, das kann man spätestens jetzt nach der letzten Premiere der Baustellenspielzeit sagen, die Darmstädter haben ihre Not zur Tugend gemacht. Denn die Monteverdi- und Gluck-Opern, die Intendant John Dew so recht als für den intimeren Rahmen zugeschnitten erkannt hatte, waren ebenso reizvoll wie jetzt Benjamin Brittens Komische Oper Albert Herring - angeblich eine seiner meistgespielten, dennoch wenig gängig auf Spielplänen großer Bühnen.

Wissen Sie noch, ob Sie auch gen Frankfurter Himmel gestarrt haben am 5. Januar 2003? Im Programmheft zur Britten-Oper wird an diese Geschichte erinnert: Ein 31-jähriger Darmstädter hatte damals ein Flugzeug entführt und gedroht, es in eines der Frankfurter Hochhäuser zu lenken. Er war das, was man ein Muttersöhnchen nennt, seine Mutter hatte ihn stets abgeschirmt vor der schlechten Welt, er musste sich brachial befreien.

Die Peinlichkeit der Tugend

Albert Herring, Brittens durchaus autobiografisch angehauchter Opernheld, ist ähnlich strukturiert. Seine Bravheit bringt ihn sogar in eine Situation, die peinlicher und erniedrigender kaum sein kann für einen jungen Mann: Er wird vom Kleinstadtkomitee für Tugendhaftigkeit zum "Maienkönig" ernannt - weil es im Ort keine junge Frau gibt, die den moralischen Maßstäben entsprechen würde.

Aus dieser (ursprünglich von Guy de Maupassant erdachten) Geschichte machte Benjamin Britten 1947 eine "Comic Opera", die 1959 (!) in einem britischen Vorzeigestädtchen namens Loxford spielt. In Darmstadt schien man sich in dieses fiktive Loxford regelrecht verliebt zu haben: Das britische Regieteam mit William Relton (Inszenierung) und Simon Higlett (Bühne und Kostüme) entwarf dafür eine 1950er-Jahre-Spießbürgerwelt, wie sie britischer nicht sein könnte. Dinner for one wirkt dagegen geradezu globalisiert.

In diesem Musterstädtchen geht es zwar beklemmend eng, aber auch brüllend komisch zu. Denn Britten ist es gelungen, trotz mancher Sprödigkeit in seiner Musik extrem witzige Ensembles zu kreieren: Herren, die sich über die Pünktlichkeit ihrer Chronometer verständigen, Tugendkomitees, die in strengen Fugen singen, oder eine Trauergesellschaft, die den platt gefahrenen Ehrenkranz ihres Maienkönigs mit geradezu musicalhafter Inbrunst anbeten. Regisseur William Relton, der hier zum ersten Mal in Deutschland inszenierte, spielte Brittens Witz detailverliebt mit und überzüchtete die Eigenheiten seiner Landsleute bis ins Pathetische.

Volle Bühne, leerer Graben

So klein diese Oper im - von Kapellmeister Timor Oliver Chadik engagiert beherrschten - Orchestergraben auch besetzt ist: Auf der Bühne selbst agieren 13 Solisten, größtenteils aus dem eigenen Ensemble gewonnen. Katrin Gerstenberg gibt eine stimmresolute Tugend-Lady Billow, Sonja Gerlach das Schulfräulein, von ihr herrlich backfischig ausgespielt. Werner Volker Meyer als verkniffener Pfarrer präsentiert einen Bariton mit großem Ambitus und ebensolcher Klarheit, Elisabeth Hornung als Mutter Herring schickt ihren Mezzosopran in überraschend volltönende Tiefe. Carine Séchehaye und Reuben Willcox, die als Gäste das Ensemble verstärkten, sorgten als Nancy und Sid für besondere sängerische Kraftzentren, wobei Idyllen-Ausbrecher Sid sein Rebellentum mit markigem Bariton fast überreizte.

Einzig Sven Ehrke in der Titelpartie konnte stimmlich nicht ganz das bieten, was er darstellerisch aus seinem Albert Herring machte: Eine großartige Charakterstudie, eine fremdgesteuerte, leidende, gebückte Kreatur. Ehrke, der erst vor vier Jahren vom Bariton- ins Tenorfach gewechselt war, klang in der Höhe recht flach, deutlich eingeengt - geradezu Loxforder Verhältnisse also. Albert Herring selbst allerdings befreite sich; nicht so seine Stimme.

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Dokument erstellt am 06.06.2006 um 16:48:19 Uhr
Erscheinungsdatum 07.06.2006

 

Darmstädter Echo
6.6.2006

„Albert Herring" von Benjamin Britten
Darmstadt: Sehr britisch und etwas betulich – Inszenierung von William Relton

Von Albrecht Schmidt


WER IST DER TUGENDSCHÖNSTE IM STÄDTCHEN?
Szene mit (hinten von links) Werner Volker Meyer als Mr. Gedge,
Sven Ehrke als Albert Herring, Katrin Gerstenberger als Lady Billows
und Diane Pilcher als Florence Pike. (Foto: Barbara Aumüller)

„Zeit ist ein Vielfraß, Zeit ist ein Dieb, nimm dir drum, was heut’ noch verblieb." Nancy und Sid wissen als junges, verliebtes Pärchen um die Zwänge der Zeit, die als Symbol des Gefangenseins in Benjamin Brittens Oper „Albert Herring" immer wieder mahnend in Erscheinung tritt, sei es als Glockenschlag oder Fahrrad- und Ladenklingel.

Dies verdeutlicht William Relton in seiner Darmstädter Neuinszenierung mit einer schmucken roten Standuhr. Seitlich auf der Bühne postiert, schlägt sie den Takt für ein Stück, das mit zugespitzter musikalischer Ironie die Muffigkeit und hohle Moral einer sich besser dünkenden Spießergesellschaft aufs Korn nimmt.

Bei Brittens „Albert Herring", der vierten von 15 Opern des englischen Komponisten, 1947 durch die English Opera Group in Glyndebourne uraufgeführt, handelt es sich um die Bearbeitung einer Novelle von Guy de Maupassant, um die gelungene Verpflanzung eines französischen Stoffes ins viktorianische England, wo Prüderie und Verklemmtheit zu Hause waren.

Die Geschichte vom unterdrückten Muttersöhnchen spielt in Loxford, einer imaginären Kleinstadt in Suffolk. Hier küren die tugendstrengen Honoratioren und die herrschsüchtige Lady Billows notgedrungen Albert Herring, Gehilfe in einem Gemüseladen, zum Maikönig, weil unter den Dorfschönen keine makellose Viktorianerin zu finden ist. Durch einen heimlich beigemischten Schuss Rum in der Limonade jedoch entpuppt sich der harmlose Jüngling als Rauf- und Saufbold und kommt dergestalt rauschhaft endlich auf eigenen Beinen zu stehen.

Der englische Regisseur William Relton hält sich bei seinem Deutschland-Debüt eng an die Geschichte, die – ablesbar an Bühne und charaktertypischen Kostümen (Simon Higlett) – in die fünfziger Jahre verlegt ist. Die Drehbühne ermöglicht rasche Einblicke in eine realistisch gezeichnete Alltagswelt: Nilpferd, Nashorn und Panther zieren als exotische Jagdtrophäen das edle, holzgetäfelte Treppenhaus der sittenstrengen, rabiaten Lady Billows (Katrin Gerstenberger), die als puritanischer Dragoner mit Stock und Reitgerte fuchtelt und die Kleinstadtbürger terrorisiert.

Im Raum nebenan empfängt sie die Repräsentanten des Dorfes an einem riesigen Tisch. Der salbungsvoll nölende, biedere Pfarrer (wohlklingend und ausdrucksvoll: Werner Volker Meyer) zieht sich erst einmal die Fahrradklammern von den Hosenbeinen, der smarte Bürgermeister (tenoral durchschlagskräftig: Andreas Wagner), standesgemäß in feinem Zwirn mit Uhrenkette, drischt politische Phrasen, der Chef der Ortspolizei (mit kernigem Bass: Andreas Daum) hüstelt sich verlegen an allen Problemen vorbei und schmaucht sein Pfeifchen, und die zickige, fahrige Lehrerin (mit hellem, koloraturfreudigem Sopran: Sonja Gerlach) knuddelt nervös an ihrem Handtäschchen.

Die Vorschläge dieses skurrilen Quartetts zur Maikönigin werden auf Zettelchen abgegeben, die – köstlicher Regie-Gag – mit einer Modell-Eisenbahn zu Lady Billows am anderen Tischende befördert werden. An der Antriebskurbel regiert die Haushälterin Florence (Diane Pilcher), die in puncto Resolutheit und hysterischem Gequake bereits tüchtig von ihrer Chefin infiziert ist.

Eine andere, freiere Welt wird gezeigt auf der Straße und im Gemüseladen, der liebevoll, mit vielen Details wie aus dem Bilderbuch, ausgestattet ist. Da tollen Kinder (spielfreudig und mit permanenten Angriffen auf die Lachmuskeln: Stephanie Maria Ott, Hyeon Kyoo Lee, Susanne Serfling), dort schmusen Nancy und Sid unterm Sternenhimmel, ein Liebespaar, erinnernd an Tony und Maria in Bernsteins „West Side Story" (eine Idealbesetzung: Carine Séchehaye und Reuben Willcox, beide als Gäste).

Albert schließlich, brav und blass, unter der Knute der rigorosen Mutter (eine Paraderolle für Elisabeth Hornung), muss als Projektionsfläche herhalten für die bigotte Moral der Kleinstadtgesellschaft. Den Wandel vom verklemmten Jüngling und Tugendapostel wider Willen zu einem selbstbewussten, in seinen Gefühlen befreiten jungen Mann spielt Sven Ehrke überzeugend, wenn auch sein Tenor spröde, angestrengt und wenig wandlungsfähig erscheint.

Vieles ist sehr britisch bei dieser Inszenierung, sogar der Regen prasselt typisch englisch von der Bühnendecke herab. Und neben der zwingenden Personencharakteristik ist Reltons Regie erfreulich dicht an der Musik, vor allem im aristokratisch steifen Kontrapunktik-Getue der ersten und im mitreißenden Lamento der letzten Szene.

Timor Oliver Chadik am Dirigentenpult und die von ihm betreuten zwölf Instrumentalisten im überbauten Graben erschlossen mit leichter Hand, was Britten an Lockerheit, spaßigen Geistesblitzen (Tristan-Motiv bei Alberts Erstbegegnung mit dem Alkohol) und Kunstfertigkeiten in seine Partitur investiert hat, setzten tonmalerische Klangreize und musizierten mit kammermusikalischer Gelenkigkeit. Dabei bewiesen die Instrumentalisten weniger Gespür für die leiseren Töne als eher viel Sinn für schrille Effekte, wobei das Schlagwerk oft zuviel des Guten hören ließ.

Am Ende der (mit zwei Pausen) dreistündigen, in deutscher Sprache gesungenen Aufführung gab es lang anhaltenden, von vielen Bravos begleiteten Applaus, der – eine Seltenheit – beim Erscheinen des Regisseurs William Relton die stärksten Dezibelwerte erreichte. Dass dessen Sicht, von Simon Higletts putziger Bühnen- und Kostümschau unterstützt, Gefahr läuft, allzu betulich und verstaubt zu wirken und an aktueller Gesellschaftsschelte vorbeizuschrammen, wurde vom Premierenpublikum so wohl nicht empfunden.

 

WIESBADENER KURIER
6.5.2006

Wie ein kostbar aquarelliertes Bilderbuch
Premiere in Darmstadt: Benjamin Brittens Kammeroper "Albert Herring" in der Inszenierung von William Relton

Von Siegfried Kienzle

DARMSTADT Viel zu tun hat die Drehbühne, denn der Bühnenbildner Simon Higlett blättert die Geschichte vom überangepassten Tugendbold Albert Herring auf wie ein kostbar aquarelliertes Bilderbuch. Eng wie ein Käfig ist der Gemüseladen, worin Albert unter der Fuchtel seiner Mutter (Elisabeth Hornung urkomisch als Hausdrache in Kittelschürze)als gefügiges Bübchen gehalten wird. Feudal in edlem Holz die Halle, in der Lady Billows als gestrenge Sittenwächterin den Tugendpreis eines Maienkönigs verleiht, der in diesem Jahr dem braven Albert zufällt. Von den Wänden grüßen die ausgestopften Köpfe von Nilpferd, Tiger und Zebra als Jagdtrophäen aus dem damals weltumspannenden Empire. Wie Katrin Gerstenberger als Lady mit dem Krückstock auch vokal dominierend ihre Dienstboten scheucht, um gleich darauf flott im Reitdress aufzutrumpfen, zeigt erfrischend komödiantisch die Maskerade dieser Gesellschaft.

Die Regie von William Relton attackiert das Kleinstadtpanorama nie aggressiv zugespitzt, sondern vertieft sich in dieser deutschsprachigen Aufführung lieber in die angelsächsischen Spleens. Wenn das Preiskomitee am großen Konferenztisch tagt, besteht zwischen Ihrer hochgeborenen Ladyschaft und den Honoratioren ein so großer Abstand, dass eine Spielzeugeisenbahn die Stimmzettel über die Standesschranken hinweg transportieren muss.

Gegenfigur zum überbraven Albert ist der lebenslustige Hallodri Sid. Er vertauscht beim Festbankett Alberts Limonade mit Rum - und ironisch lässt Britten aus dem Orchester das Trank-Motiv aus dem "Tristan" herauftönen. Volltrunken hat Albert den Mut, auszubrechen aus seiner Angepasstheit. Er macht einen Zug durch die Kneipen, prügelt sich, verbringt eine Nacht in der Gosse. Aufgeregt wird nach ihm gesucht und ein gefühlvolles Lamento angestimmt auf seinen angeblichen Tod. Da taucht Albert wieder auf - putzmunter, verdreckt und lebensfroh. Er übernimmt die Herrschaft im Gemüseladen, verbannt Mutter ins Hinterzimmer und hat seinen Platz im Leben gefunden.

Der Tenor Sven Ehrke als Albert zeigt in seinem großen Monolog die rechte Balance zwischen Parlando und ariosen Aufschwüngen. Weil er angekommen ist im richtigen Leben, wird ihm zuletzt eine Elvis-Platte überreicht. Sid, der Störenfried im Kreis der Moralapostel, wird von Reuben Willcox (baritonal prachtvoll bei Stimme) als Rocklegende in Schmalz-Tolle gezeichnet. Carine Séchehaye als Nancy ist ein schmachtendes Girl in Petticoat, Diane Pilcher dragonerhaft einschüchternd als Haushälterin. Sonja Gerlach (Lehrerin), Werner Volker Meyer (Pfarrer), Andreas Wagner (Bürgermeister) und Andreas Daum (Polizeichef) ergänzen mit komödiantischem Schwung den Typenreigen. Britten hat diese Kammeroper für nur zwölf Instrumente 1947 für Glyndbourne nach einer Novelle von Guy de Maupassant geschrieben. Die stockkonservativen Provinzler ironisiert er mit pointierten Zitaten von Händel-Koloraturen bis zu Puccini-Kantilenen und National-Pomp. Der Dirigent Timor Oliver Chadik lässt die instrumentalen Pointen dieser Stil-Camouflage funkeln, dass es ein wahrer Spaß ist. Großer Beifall.

 

egotrip.de
5. Juni 2006

Leichte Unterhaltung zum Saisonabschluss
Benjamin Brittens Kammeroper "Albert Herring" im Staatstheater Darmstadt

Etwas zu Lachen sollte es geben an diesem Abend. Die Dramaturgin gab in der Einführung vor der Premiere sozusagen offiziell das Lachen frei. Dass es dann mit dieser menschlichen Äußerung doch nicht soweit her war während der fast dreistündigen Aufführung, lag neben einer eher gebremsten Komik auch an der eingeschränkten Verständlichkeit des Textes. Das seit Wagner übliche künstlerische Konzept, auch verbindende und die Handlung erläuternde Gespräche in einem stilisierten Sprechgesang zu präsentieren, dient zwar der musikalischen Einheit und Spannung, jedoch nicht gerade der Verständlichkeit. Da gerade der englische Humor viel vom Wortwitz lebt, ging hier einiger Anlass zum Lachen verloren. Vielleicht hätten Übertitel - trotz der Aufführungssprache Deutsch - ein wenig geholfen.


Katrin Gerstenberger(Lady Billowss), Werner Volker Meyer (Mr.Gedge), Andreas Wagner (Mr.Upfold), Andreas Daum (Mr.Budd), Sonja Gerlach (Miss Wordsworth)

Doch zur Sache: Benjamin Brittens (1913 -1976) Oper "Albert Herring" entstand im Jahre 1947, als England noch unter dem Kater des viktorianischen Empire-Rausches litt und die Ständegesellschaft sich noch nicht endgültig von den Sitten und Gebräuchen des 19. Jahrhunderts gelöst hatte. Den gesellschaftlichen Dünkel der Oberschicht und die anbiedernde Eilfertigkeit des aufkommenden Mittelstandes und dessen vorauseilenden Gehorsam wollte Britten ebenso aufspießen wie die knochentrockene und verstaubte Moral des vergangenen Zeitalters. Da kam Guy de Maupassants (ausgerechnet ein Franzose!) Novelle "Der Rosenjüngling der Madame Husson" gerade recht als Vorlage. So bauten Britten und sein Librettist Crozier die Geschichte von dem einfältigen und verklemmten Muttersöhnchen Albert Herring zusammen, der plötzlich zur Ehre des "Maikönigs" kommt, da die örtliche Moralinstanz Lady Billows keine moralisch vollwertige Kandidatin für den Titel der Maikönigin finden konnte. Alle hatten irgendwelche voreheliche Beziehungen oder zeigten andere Anzeichen eines fragwürdigen Lebenswandels. Albert jedoch hilft seiner Mutter im Gemüseladen und widerspricht der herrschsüchtigen Frau nie. Und die Mädchen hat er eh nie angesehen. Um diese Kernpersonen herum gruppierten Britten und Crozier die - im Zweifelsfall entrüstet- kopfnickenden örtlichen Honoratioren mit Pfarrer, Lehrerin, Bürgermeister und Polizeichef sowie als Gegenpol den kraftvollen Metzgergesellen Cid und seine frische Freundin Nancy. Drei unbekümmerte Kinder verweisen auf die hoffentlich freiere und weniger von Vorurteilen eingeschränkte nächste Generation.

Die Handlung selbst kann man mit Fug und Recht als schlicht bezeichnen. Beim "Maikönigsfest" mischt Cid dem frischgebackenen Titelträger Albert heimlich Rum in sein Getränk, um ihn einmal "aufzumischen". Daraufhin erfährt Albert zum ersten Mal so etwas wie Freiheit (des Rausches) und verlässt heimlich den Ort. Als ihn die aufgeregte Gesellschaft - voran seine verzweifelte Mutter - schon als Leiche im Dorfteich sehen und seinen Tod herzzerreißend beklagen, erscheint er in zerlumptem Aufzug nach einer mehrtägigen Sauftour, erklärt sein altes Leben für beendet, verbietet seiner keifenden Mutter den Mund und wirft die ganze Bagage hinaus. Nur Cid und Nancy dürfen bei ihm bleiben, und den Kindern schenkt er zum ersten Mal Obst und Süßigkeiten.


Sven Ehrke (Albert Herring), Reuben Willcox (Sid)

Man sieht also, dass elementare Konflikte Mangelware sind in diesem Libretto. Sowohl der Druck vor dem Ausbruch als auch derselbe sind eher englisch-gemäßigt als südländisch-eruptiv. Selbst die herrische Lady Billows, die immer noch die Deutungshoheit über die Moral für sich in Anspruch nimmt, wirkt eher wie eine in ihrer alttestamentarischen Strenge rührende ältere Dame denn als eine echte Bedrohung für die freie Entfaltung der jungen Leute. Gerade Nancy und Cid sind ironischerweise das lebende Beispiel dafür, dass es sich im Umkreis der alten Lady gut leben und lieben lässt. Und all die abgelehnten Titelanwärterinnen kommen gar nur in Gestalt gelber Zettel der sie vorschlagenden Bürger auf die Bühne. Die Anbiederung der örtlichen Würdenträger lässt sich zwar als kleinbürgerliche Bewunderung des Adels erklären, doch gibt dass Libretto in dem Spannungsverhältnis zwischen altem Adel und aufstrebendem Bürgertum wenig Anlässe zu scharfer Satire. Es gibt überhaupt keine echten Gegensätze, von den Kandidatinnen für die Königswürde einmal abgesehen. So muss der extra aus England eingeflogene Regisseur William Relton schon eine kleine Modelleisenbahn auf dem Konferenztisch aufbauen, in der die gelben Vorschlagszettel zu Lady Billows gelangen, um so etwas wie Situationskomik zu erzeugen. Nur hat diese Eisenbahn - wenn sie auch die Technik des 19. Jahrhunderts widerspiegelt - eben mit der Logik der Handlung nichts zu tun. Da sind die drei Kinder, die bei jeder Gelegenheit versuchen, Obst zu stiebitzen oder die Erwachsenen lange Nasen zu drehen, schon ein wenig näher am Kern der Komik.


Sonja Gerlach (Miss Wordsworth), Hyeon Kyoo Lee (Siss); Stephanie Maria Ott (Emmy), Susanne Serfling (Harry)

Wenn also sich das Lachen am Premierenabend dann doch ziemlich im Rahmen hielt, lag das wohl auch an dem mageren Handlungsgerüst. Doch dem hätte die Regie mit einer harten Bürste gegen den Strich zu Leibe rücken müssen und der originellen und witzigen Musik Brittens entsprechende inszenatorische Einfälle zur Seite stellen müssen. Doch schon mit dem Bühnenbild fängt es an: Simon Higlett hat das England von Edgar Wallace wieder aufleben lassen. Ein holzgetäfelter Empfangsraum bei Lady Billows mit Freitreppe zur Galerie oder eine Backsteinstraße mit vernagelten Fenstern und einem richtig gemütlichen Gemüseladen prägen das Bild. "Merry old England" lässt grüßen, und das mit kaum erkennbarer Ironie. Deren Wert bemisst sich zwar bekanntlich an ihrer Nähe zu einer überhöhten Realität, doch sie kann in dieser auch verschwinden. Für die Kostüme gilt Ähnliches. Obwohl die Oper die Zeit um 1947 reflektiert, hat die Regie das Geschehen in die späten Fünfziger verlegt, wohl, um Cid als Elvis-Verschnitt und Nancy als junge Doris Day präsentieren zu können. Doch dazu ist anzumerken, dass dem heutigen Publikum die späten 50er fast genauso fern sind wie die mittleren 40er. Sei's drum, diese zeitliche Verschiebung marginalisiert sich selbst und lässt sich daher hinnehmen. Doch die grundsätzliche Verlagerung in die Zeit der Großeltern vermittelt den Eindruck einer musikalischen Reise in die "gute, alte Zeit", als alles noch so putzig und altertümlich war. Anders gesagt: Dünkel, moralische Deutungshoheit und gesellschaftliche Anbiederung in die Vergangenheit zu verlegen heißt, diese Untugenden zu bagatellisieren und aus dem eigenen Kontext herauszuhalten.

Die Musik Brittens konterkariert das eher beschauliche Treiben auf der Bühne mit schrägen und immer wieder verblüffenden Einfällen. Um jeglichen Eindruck von imperialer Größe zu vermeiden, wählt er ein kleines Orchester und lässt in diesem Ensemble immer wieder einzelne Instrumente in den Vordergrund treten, mal einzelne Bläser, mal das Schlagzeug und sehr oft das Klavier, das die Rezitative begleitet. Durch diese Sparsamkeit der Musik erhält die Oper ein Weillsches Flair, fast meint man bisweilen, sich in der "Dreigroschenoper" zu befinden. Dazu karikiert er die einzelnen gesellschaftlichen Gruppen musikalisch, will sagen, er ordnet jeder Gruppe den Stil zu, der ihrer Geistesverfassung entspricht. Lady Billows kommt immer im majestätisch schreitenden Klangrausch daher, der ihre Worte überdecken würde, hätte Katrin Gerstenberger nicht so eine volltönende Stimme. Der Bürgermeister tritt im Stil eines italienischen Heldentenors auf - im Hintergrund winkt Verdi aus dem Graben -, den Polizeichef begleitet gleich eine ganze Brassband mit schmetternder Marschmusik, und Pfarrer wie Lehrerin lieben eher die heimelige Hausmusik. Die jungen Leute jedoch - außer dem verklemmten Albert - kommen mit unkonventioneller, teils ein wenig chaotischer Musik daher, die für Freiheit und eigenständiger Sinnsuche steht. Dazu liefert Britten immer wieder augenzwinkernd Zitate aus der Musikliteratur, so das Liebestrank-Motiv aus Wagners "Tristan", wenn Cid den Rum in Alberts Wasserglas mischt. Die Musik also versucht durchaus und mit Erfolg, das Thema unkonventionell und originell anzugehen, und da wäre es schön gewesen, wenn die Regie diesem Fingerzeig gefolgt wäre.


Sonja Gerlach (Miss Wordsworth), Werner Volker Meyer (Mr. Gedge), Elisabeth Hornung (Mrs. Herring), Carine Séchehaye (Nancy Waters)

Das Ensemble holt aus dem kargen Konzept dabei noch erstaunlich viel heraus, vor allem durch hervorragende gesangliche Leistungen. Katrin Gerstenberger dominiert mit ihrer Stimme bei jedem ihrer Auftritte wie eine "Lady" die Bühne und setzt sich ohne Probleme gegen das Orchester durch, Reuben Wilcox erinnert nicht nur äußerlich an Elvis Presley, sondern steht diesem "Vorbild" auch stimmlich in nichts nach (auch ohne Rock'n Roll), Carine Séchehaye spielt seine Freundin Nancy als so gschamiges wie liebessüchtiges Mädchen der fünfziger Jahre mit Frische und Witz. Werner Volker Meyer hätte seine darstellerischen und stimmlichen Möglichkeiten sicher gerne noch deutlicher eingesetzt, muss sich jedoch - wie der berühmte Panther im Käfig - mit der säuselnden Seele des Pfarrers zufrieden geben. Sonja Gerlach gibt mit klarem Sopran eine liebreizende junge Lehrerin mit dem ewigen Handtäschchen am Arm und viel gutem Willen im Herzen, Andreas Wagner spielt den Bürgermeister stimmlich und darstellerisch als "geschmeidigen" Politiker und Andreas Daum schiebt in Polizeiuniform immer die Brust heraus und schmettert seine quasi-militärischen Ansichten in den Raum. Sven Ehrke hat als einziger Darsteller eine Rolle mit Entwicklung zu absolvieren und meistert diese Aufgabe mit Bravour. Man nimmt ihm sowohl das ängstliche, verklemmte Muttersöhnchen zu Beginn als auch den aufmüpfigen und selbstbewussten jungen Man am Ende ab, der alle in ihre Schranken verweist. Elisabeth Hornung kann als Alberts Mutter sowohl ihre gesanglichen wie auch schauspielerischen Qualitäten zur Geltung bringen und erarbeitet sich mit ihren profilierten Auftritten eine zentrale Stellung. Die anderen Mitglieder des Ensembles - Diane Pilcher als Haushälterin sowie Stephanie Maria Ott, Hyeon Kyoo Lee und Susanne Scherfling als drei freche Kinder - erfüllen ihre Aufgaben ebenfalls souverän. Der Chor des Staatstheaters tritt diesmal eher als - optische und akustische - Hintergrundbelebung auf. Das Orchester modelliert unter der Leitung von Timor Oliver Chadik die Musik Brittens geradezu Ton für Ton und genießt es offensichtlich, einmal nicht im großen "tutti"-Gewand sondern im feinen kammermusikalischen Kleid aufzutreten. Es machte Spaß, den skurrilen musikalischen Einfällen nachzuspüren und die Querverweise und Zitate zu identifizieren.

Das Publikum war trotz gebremster Witz und Satire begeistert und bedachte alle Mitwirkenden ausnahmslos mit lang anhaltendem Beifall.

Frank Raudszus