Frankfurter Allgemeine Zeitung
22. Oktober 2006

OPER
Schmeckt aufgewärmt nicht besser

Puccinis Oper „Tosca" verweist auf ein konkretes historisches Datum: die Schlacht von Marengo am 14. Juni 1800. Sie spielt auch an einem konkreten Ort: Rom. Dort hat die Königin ein Fest ausgerichtet, um den vermeintlichen Sieg über die Truppen Napoleons zu feiern. Der österreichische Oberkommandierende Melas hatte mittags voreilig seinen Sieg verkündet.

Am späten Nachmittag kommt es durch einen Überraschungsangriff der französischen Kavallerie zu einer überraschenden Wende, die - militärstrategisch ohne dessen Verdienst - zu Napoleons Triumph führt. Diese Nachricht erreicht den römischen Polizeichef Scarpia in der Oper kurz nach der Folterung des Malers Mario Cavaradossi, der lauthals jubelt und sich endgültig um Kopf und Kragen redet. Seine Geliebte Floria Tosca versucht, ihn an dieser Torheit zu hindern, denn die Stunden des bestehenden Regimes sind nun gezählt, und es wäre möglich, ohne Gesichtsverlust die Zeit für sich arbeiten zu lassen.

Hauptsache, die Regie hat Ideen

Für den Regisseur Philipp Kochheim spielt alles das keine Rolle. Er hat im Theater Augsburg 2005 eine Inszenierung herausgebracht, die das Geschehen ins Chile des Jahres 1973 verpflanzt. Diese Inszenierung hat er nun samt der bühnenbildnerischen Bemühungen von Uta Fink und unter Mitnahme des Tenors Zurab Zurabishvilli als Cavarodossi im Großen Haus des Staatstheaters Darmstadt noch einmal aufgewärmt. Die Redlichkeit, eine faktische Übernahme auch als solche zu kennzeichnen, besitzt das Staatstheater nicht. Da 1973 der Diktator Pinochet in Chile nach der Macht griff, sie dem Folterer Scarpia jedoch gerade entgleitet, funktioniert vieles in dieser Inszenierung nicht.

Aber das macht ja nichts. Hauptsache, die Regie hat Ideen. Etwa die, den Maler zu einem Fotografen zu machen und den Eingangsakt aus der Kirche St. Andrea della Valle in ein Fotoatelier zu verlegen. Daß Puccini die Handlungsorte akribisch ausgesucht und mit Bedeutung aufgeladen hat, braucht nicht zu interessieren. Daß die herausgesungenen Gewaltphantasien Scarpias (Tito You) für ihre Wirkung auf den sakralen Raum und die Atmosphäre des zeitgleich zelebrierten Te Deum angewiesen sind, interessiert offenbar auch nicht.

Puccinis Floria Tosca ist eine seelisch hochkomplexe, zugleich sehr emotionale, dann aber auch intelligent und kühl kalkulierende Frau. Mit der Erdolchung Scarpias (die in Darmstadt zum Erwürgen mutiert) stellt sie die persönliche Integrität über ihre physische Existenz. Eine letztlich vergebliche, aber großartige Handlung, der auch eine entsprechende Arie zugeordnet ist. Unter Kochheim darf die Sopranistin Anja Vincken die Diva als Allerweltsfrau aus dem Vorstadt-Reihenhaus geben. Sie hat auf dem Wühltisch ein bißchen billige Reizwäsche zusammengerafft, um ihren Mario am Abend so richtig heiß zu machen. Später singt sie dann ihr „Vissi d'arte" in einer Haltung, als seien ihr die häuslichen Wäsche- und Geschirrberge über den Kopf gewachsen.

Halluzinationen unter sternklarem Himmel

Der Fotograf landet nach dem - durch das Gerümpel auf der Bühne und eine verfehlte Personenführung - entwerteten Folterakt im „Estadio di Chile". In der irrtümlich als Vorlage verwendeten Puccini-Oper sitzt Cavaradossi auf der Engelsburg fest und halluziniert unter sternklarem Himmel mit erotischer Intensität die Gegenwart seiner Geliebten herbei.

Hart gesetzt gegen die irrwitzige Schönheit solcher Momente ist die Brutalität der anschließenden Exekution. Diese dramatische Fallhöhe ist im „Estadio" eliminiert. Unter grellem Scheinwerferlicht, in Anwesenheit von allen möglichen Mitgefangenen und angesichts dauernder Schikanen der Wachen erstarrt der Finalakt im Dauerterror. Die abwegige Personenführung wird in der letzten Opernminute besonders deutlich: Floria Tosca wird von den Schergen Scarpias gestellt, deren Maschinengewehre auf sie gerichtet sind, als sie losläuft. Aber keiner schießt, damit sie wirkungsvoll in einem wild blitzenden Elektrozaun landen kann.

So ist der ganze Abend: Dem Wunsch, ein paar kräftige Bilder zu liefern, wird sinnlos alles geopfert, was diese Oper ausmacht. Weil die Musik ihre Aufgabe, durch den Verweisungscharakter der Motivarbeit eine weitere Handlungsebene zu konstituieren und die komplexe seelische Struktur der Hauptdarsteller zu erhellen, in dieser Inszenierung nicht wahrnehmen kann, erübrigt sich eine konkrete Besprechung. Rein handwerklich erreichte das Staatsorchester unter der Leitung von Martin Lukas Meister nicht sein gewöhnliches Niveau. Der Schlußapplaus für die drei Hauptdarsteller erschien angemessen. Das konnte allerdings das Ausmaß an handwerklicher und musikalischer Unbedarftheit der Regieleistung in keiner Weise kompensieren.

BENEDIKT STEGEMANN

 

Frankfurter Rundschau
23. Oktober 2006

STAATSTHEATER DARMSTADT
Und es verkrusten die Augen

Von STEFAN SCHICKHAUS

[...] Zu seinen Inszenierungsprinzipen gehört die möglichst bruchlose Übersetzung eines historischen Opernstoffes in aktuelle Bilder. Also verlässt Kochheim den etablierten Tosca-Spielort Rom und die Zeit 1800 und siedelt sie um ins Chile des 11. Septembers 1973: General Pinochet putscht, errichtet ein Terrorregime, missbraucht Macht - wie Scarpia in Puccinis Oper, nur eben nicht historisch entrückt, sondern handfest. Kochheim sucht - und findet - hier "eine Art Verismo neuer Prägung", wie er es nennt. Die Parallelen stimmen: Auch der Putsch Pinochets fand ganz konzentriert auf wenige Stunden statt, mit sich widersprechenden Nachrichten, wie sie auch bei Puccini zur Sprache kommen [...]

Der erste Akt mit seinem Heroinspritzen-Kinderchor und seiner unpassenden Kirchenmusik wirkt zwar etwas mutwillig transplantiert, doch schon hier wird das Personal klar und präzise gezeichnet. Machtmenschen öffnen keine fremden Türen, sie treten sie ein, und Killer wirken umso kälter, je grüner die Äpfel sind, die sie fortwährend essen. Zum Ende dieses ersten Bildes, wenn die Musik sich weitet, fahren die Appartementwände nach oben in den Schnürboden und geben den Blick frei in die Welt dahinter: die Machtzentrale Pinochets/Scarpias, ein unpersönlich protziger Neobarock-Schreibtisch und eine Kontrollanlage mit Kameras auf ganz Santiago/Rom. Das Bühnenbild von Uta Fink ist mindestens ebenso prägnant wie Kochheims Personenführung.

Und noch ein Dritter stellt seinen überaus hellsichtigen Blick auf die Materie unter Beweis: Martin Lukas Meister ist seit dieser Saison Erster Kapellmeister und Stellvertreter des Generalmusikdirektors am Staatstheater Darmstadt, und seine erste eigene Produktion hier absolvierte er mit überragendem Sinn für Klang und theatralen Effekt. Ob Blech oder Holz, ob Tempo oder Phrasierung, der Schweizer Dirigent hatte alles überzeugend im Griff, ein umfassend gelungener Einstand.

Auch die Protagonisten auf der Bühne verfügten über das nötige Format, allen voran der Koreaner Tito You als Scarpia, das Böse in Baritonperson. Die Holländerin Anja Vincken gab mit der Tosca nun ihr Rollendebüt, ohne Schärfe, dennoch eindringlich, eine angenehm lyrische Variante eines dramatischen Soprans. Im ersten Akt problematisch wirkte der Tenor des jungen Georgiers Zurab Zurabishvilis, einem Neuzugang des Darmstädter Ensembles [...] Doch entspannte sich seine Stimme mit jedem Akt mehr, sein "E lucevan le stelle" zeigte er dann mit durchaus ergreifender Intensität.

Diese Sterne leuchteten dem Maler-Fotografen Maria Cavaradossi nicht auf dem Plateau der Engelsburg, sondern im Estadio de Chile: Ort zahlloser Erschießungen in der Pinochet-Diktatur, hier ein betonharter Rang mit Blutspuren, in graue Decken gehüllte Gefangene lagern auf den Tribünenbänken. Die Bedrohung, das Ausgeliefertsein sind greifbar.

Mit diesem letzten Bild gewinnt Kochheims Inszenierung noch einmal an direkter Ansprache, eine Inszenierung, die im Laufe der zweieinhalb Stunden sich von plakativ zu intensiv entwickelt, die stringent ist und minutiös [...]

 

Darmstaedter Echo
23.10.2006

Gewalt verbindet die Zeiten
Musiktheater: Mit der Verlegung von „Tosca" in die chilenische Diktatur gelingt Philipp Kochheim ein packender Abend

Albrecht Schmidt

DARMSTADT. Puccinis „Tosca" – das ist Blut und Bravour, Schrecken und Schönheit, Leidenschaft und Leid. Der Komponist wollte an das Gerechtigkeitsgefühl des Publikums appellieren. Damit liefert er ambitionierten Regisseuren eine Steilvorlage für Aktualisierungen. Der Darmstädter Oberspielleiter Philipp Kochheim nutzt diese Chance in seiner Inszenierung, die zuvor bereits für Augsburg erarbeitet wurde, im Staatstheater konsequent. Er verlegt die Handlung, die bei Puccini im Jahr 1800 in Rom spielt, in die chilenische Juntazeit nach dem Putsch vom 11. September 1973.

Die Verfolgung politischer Gegner, begleitet von grausamen Folterungen verbindet die Zeiten: In packender, unmittelbar berührender Weise hebt Kochheims Inszenierung die historische Distanz zum Stück auf. Der Regisseur hätte sich auch anderer geschichtlicher Parallelen bedienen können. Im Falle Chile freilich gelingt die Aktualisierung schlüssig: Der römische Polizeichef Scarpia mutiert zum General eines Militärstaates, dessen Schreibtisch inmitten seiner Machtzentrale von Überwachungsbildschirmen und Folterwerkzeugen umgeben ist (Bühnenbild und Kostüme: Uta Fink). Aus dem Maler Cavaradossi wird ein regimekritischer Fotograf. Brutale Gewalt dringt in sein dürftiges Atelier in einem Appartementhaus ein: Bewaffnete Soldaten flankieren die Geheimdienstler Spoletta und Sciarrone (treffliche Charakterstudien: Jeffrey Treganza, Wiktor Czerniawski). Kochheim schreckt vor schockierender Härte nicht zurück. Der Hausmeister (bei Puccini der Kirchendiener), von Thomas Mehnert als exzellente Studie angelegt, wird willkürlich eliminiert, Cavaradossi verliert bei Folterungen sein Augenlicht. Im Schlussbild, das die Betonränge des zum Konzentrationslager umfunktionierten „Estadio di Chile" zeigt, in dem tausende von Regimegegnern ermordet wurden, wird er von Spoletta erschossen. Tosca, im Opern-Original von der Plattform der Engelsburg in den Tod springend, rennt gegen einen elektrisch geladenen Absprerrungszaun.

Mit solcher Drastik trifft Kochheim den Kern des Stückes. Differenzen zwischen dem gesungenen italienischen Originaltext und den eingeblendeten deutschen Übertitelungen, die sich der geänderten Situation anpassen, mindern die Stimmigkeit der Produktion kaum. Allenfalls die radikale Profanisierung und damit die strikte Ausschaltung des Klerikalen, das bei Puccini als typische Ingredienz einbezogen und musikalisch mit Orgel- und Glockenklängen akzentuiert ist, irritiert, zumindest beim „Tedeum", das sich – anstelle seiner originalen Exponierung im Kirchenraum – zu einem makabren, Gewalt verherrlichenden Spektakel vor der Kulisse der Junta-Amtszentrale aufplustert.

Nur mit hervorragenden Gesangssolisten lebt eine solche Inszenierung. Das Darmstädter Staatstheater kann für die drei tragenden Hauptpartien aus dem eigenen Ensemble Idealbesetzungen aufbieten. Tito You: Als Scarpia ein baritonal prächtiger, satanisch-brutaler Machterotiker und perfider Taktiker, der stimmlich jedoch nie überzeichnet und betörenden Belcantoglanz aufleuchten lässt. Zurab Zurabshvili: Ein Cavaradossi mit weich geführtem, schön gefärbtem Tenor, an der Rampe grandios auftrumpfend als geblendeter Freigeist mit seinen schmerzlich eindringlichen „Vittoria"-Rufen. Anja Vincken: In ihrem Rollendebüt darstellerisch wie sängerisch eine glutvolle Tosca; bei herrlich timbrierter mittlerer und tieferer Lage („Vissi d’arte") fehlte es lediglich in der Höhe gelegentlich an Durchschlagskraft. Hans-Joachim Porcher gab dem flüchtenden Angelotti kerniges Bass-Profil; in kleineren Rollen bewährten sich Christopher Ryan (Schließer) und Christian Fischer (Junge). Zuverlässig agierten Chor und Kinderchor des Staatstheaters (Choreinstudierung: André Weiss).

Martin Lukas Meisters musikalische Leitung korrespondierte mit wuchtigen, messerscharfen, fast martialischen Ausbrüchen mit der Zugespitztheit der Kochheimschen Inszenierung. Der neue Erste Kapellmeister kehrte die kühnen Modernismen der Partitur hervor und ließ gleichzeitig Raum für verweilende, lyrische Momente. Das Premierenpublikum bejubelte am Freitag nach der über zweieinhalbstündigen Aufführung die musikalischen Leistungen; protestierende Buhrufe und zustimmende Bravos waren Indizien für Kochheims polarisierende Regiearbeit.

 

Frankfurter Neue Presse
23.10.2006

Tosca stirbt am Elektro-Zaun
Philipp Kochheim inszeniert Puccinis „Tosca" in Darmstadt mit verstörender Direktheit.

Von Daniel Honsack

Am gefährlichsten bei einer Operninszenierung ist es, ein Stück aus seinem historischen Kontext herauszubrechen und in eine andere, dem Publikum womöglich noch recht präsente Zeit zu verlegen. Unabhängig vom Textverständnis drohen damit eine Reihe dramaturgischer Stolperfallen. Eine besondere Herausforderung ist es, dies bei einem ausgesprochenen Publikumsliebling zu wagen. Philipp Kochheim hat das nun mit Puccinis „Tosca" getan und ist beim Publikum gnadenlos durchgefallen. Entrüstung schlug dem Ensemble schon nach dem ersten Akt entgegen.

Zu Unrecht. Denn Kochheim ist mit Mut und Konsequenz eine ausgezeichnete Übersetzung des Stoffes in die Zeit der chilenischen Militärdiktatur von General Pinochet gelungen. Die Konfliktlinien ähneln sich. Bei Puccini lehnen sich Anhänger Napoleons gegen die Restauratoren der Monarchie auf, Kochheim skizziert den Freiheitskampf gegen die Militärdiktatur. Alles beginnt bei ihm am schicksalhaften 11. September 1973, als Pinochet gegen die demokratisch gewählte Regierung Allendes putschte. Der gestürzte Konsul Angelotti ist nun ein widerständiger Gewerkschafter, Cavaradossi kein Kirchenmaler, sondern ein Fotograf.

Im Mittelpunkt steht in dieser Inszenierung die Brutalität eines Regimes, das sich in seiner besonders gefährlichen Mischung aus persönlicher Perversion und Eitelkeit sowie politischem Fanatismus in der Gestalt des Scarpia widerspiegelt. In dem Bariton Tito You hat Kochheim einen sängerisch wie schauspielerisch überaus präsenten Darsteller gefunden, der die Rolle bis zur bizarren Dämonie zuspitzt.

Unbekümmert lässt er Anja Vinckens eindringlich formulierte Tosca-Arie „Vissi d’arte, vissi d’amore" an sich abprallen, ihr vorgebliches Selbstopfer nimmt er freilich an.

Kochheim und Uta Fink, die für Bühnenbild und Kostüme verantwortlich ist, lassen dem Zuschauer nur wenig Zeit zum Durchatmen. Sie arbeiten mit deutlichen Bildern. Cavaradossi (ausdauernd und wendig: Zurab Zurabishvili) werden die Augen ausgestochen, die Erschießungs-Szene findet im berüchtigten Nationalstadion in Santiago statt – dort, wo seinerzeit Tausende von Menschen unter brutalen Bedingungen zusammengetrieben und ermordet wurden. Auch in diesem Bühnenbild erkennt man deutlich, dass hier bereits gestorben wurde, Toscas finaler Selbstmord am elektrisch geladenen Zaun ist da nur konsequent. Und der Vorhang trieft schon nach dem ersten Akt vor Blut. Unter der Leitung des stellvertretenden Generalmusikdirektors Martin Lukas Meister illustriert das Orchester das Bühnengeschehen mit ausgesuchter Schärfe und Präzision.

Kochheims Inszenierung ist direkt und verstörend. Hier kommt niemand heraus, ohne sich über die Wiederkehr historischer Ereignisse Gedanken gemacht zu haben. Die Distanz von 200 Jahren ist kein Vorwand mehr, um sich an üppigen Melodien zu erfreuen und damit den Inhalt aus den Augen zu verlieren. Dass das nicht jedem gefallen kann, ist freilich verständlich.

 

WIESBADENER KURIER
23.10.2006

"Tosca" - von Pinochet verführt
Darmstadt: Regisseur Kochheim bricht aus kulinarischer Konvention aus

Von Siegfried Kienzle


Tito You (Scarpia) und Anja Vincken (Tosca) sind die Protagonisten in einer radikalisierten Version der Puccini-Oper.
Aumülle

DARMSTADT Mit den pompösen Schauplätzen - die Kirche Sant´ Andrea, dem Palazzo Farnese und der Engelsburg - bietet "Tosca" auch eine Augenweide für Rom-Enthusiasten. Dass es bei all der schwelgerischen Musik auch um ein Terror-Regime, um Flucht und Folter geht, kann bei all der Opulenz zur Nebensache werden: halt ein grausamer Historienschinken aus der fernen Zeit Napoleons.

Bereits der Stand von amnesty international im Foyer und der blutgetränkte Vorhang signalisieren, dass der Regisseur Philipp Kochheim ausbricht aus der kulinarischen Konvention.

Er siedelt die Oper in Santiago de Chile an, wo 1973 General Pinochet mit seinen Todesschwadronen regiert. Scarpia ist diesmal Generalissimo Pinochet höchstpersönlich, der in weißer Uniform und Reitgerte in seinem Befehlsbunker residiert: an der Seite Pritschen, wo Klinikpersonal mit Injektionen die Gefangenen malträtiert, daneben eine Batterie von Abhöranlagen, eine Wand aus Monitoren zur Überwachung. Befremdlich, doch konsequent ist es, dass das Te Deum nicht mehr in der Kirche, sondern hier in der Kathedrale der Macht von den Schergen angestimmt wird.

Tito You, vor zwei Jahren ein imponierender Rigoletto in Wiesbaden, hat als Scarpia nicht die dröhnende Stimmgewalt des Wüterichs. Er überzeugt mit Zwischentönen des Zynismus, der lauernden Brutalität. Seine Verführung Toscas geht der Neuzeit entsprechend fast bis zur Vergewaltigung. Tosca erdrosselt ihn mit der Telefonschnur.

Die politische Radikalisierung führt zu einem bewegenden Schlussbild, misslingt aber im ersten Akt. Die Morgenstimmung im dritten Akt zeigt das Stadion von Chile, wo unter Pinochet die politischen Häftlinge interniert waren. Uta Fink hat einen Kolossalbau aus Beton errichtet. Einzelne Jammergestalten frösteln in den Sitzreihen. Das Hirtenlied wird von einem kleinen Jungen gesungen, der hier mit der Mutter eingesperrt ist. Cavaradossi wird mit Genickschuss liquidiert. Tosca stirbt auf der Flucht am Elektrozaun.

Im ersten Akt verpufft Kochheims Methode der Vergegenwärtigung in einer Polit-Kolportage, die alles banalisiert. Statt der Kirche sehen wir den Arbeitsraum des Fotografen Cavaradossi. Zurab Zurabishvili singt mit lyrischem Schmelz sein "Recondita harmonia" beim Retouchieren der Fotos. Angelotti (Hans-Joachim Porcher) ist ein Gewerkschaftsführer auf der Flucht, der sich in der Dunkelkammer versteckt. Der Mesner wird zum Hausmeister (Thomas Mehnert), der mit Eimer und Besen seine Spitzeldienste verrichtet und von Spoletta (Jeffrey Treganza) den Fangschuss erhält. Militärs im Kampfanzug treten die Türen ein. Statt der Kapläne und Messdiener singen diesmal Prostituierte und Fussballjungs im Treppenhaus.

Tosca (Anja Vincken ausdrucksvoll im Gebet und den dramatischen Steigerungen) tänzelt als Modepüppchen daher und darf zum Liebesduett schwarze Reizwäsche aus der Einkaufstüte schwenken. So viel an pseudo-realistischer Umtriebigkeit trivialisiert die Situationen und beißt sich mit Puccinis Gefühlspathos.

Differenziert führt Martin Lukas Meister durch die Partitur und sorgt neben den orchestralen Ausbrüchen auch für kammermusikalische Transparenz beim Parlando: Beifall für das Ensemble, entrüstete Buhs für die schmerzhaft verstörende Inszenierung.

 

OFFENBACH POST
4. November 2006

Darmstädter "Tosca" vor politisch brisantem Hintergrund
Blutige Dämmerung im Stadion von Chile

Diktaturen haben ihre immer gleichen Gesetze der Folter, der Überwachung, des Machtmissbrauchs, des Tötens. Und so hätte Regisseur Philipp Kochheim Giacomo Puccinis Oper "Tosca", die im Juni 1800 während eines Zeitraums von weniger als 24 Stunden in Rom spielt, wohl in nahezu jeden anderen Staat tyrannischer Prägung verlegen können. In seiner Inszenierung am Staatstheater Darmstadt lässt er "Tosca", wie zuvor bereits am Stadttheater Augsburg, mit nur wenigen Anpassungen des Textes am 11. September 1973 in Chile spielen, als sich dort General Pinochet an die Macht putschte.

Statt in der Kirche Sant’ Andrea ereignet sich der erste Akt nunmehr im Atelier von Cavaradossi, der hier auch kein Maler, sondern Fotograf ist. Der Messner ist zum Hausmeister mutiert, der alsbald von einem Schergen Scarpias erschossen wird, das Sakrale geschrumpft auf eine kleine Madonnen-Figur in einem Hauswinkel. Wenn sich zu den Klängen des "Te deum" der weite Bühnenraum für ein perfides Standbild der Putschisten öffnet, ist dies vielleicht die einzige Stelle, an der die Übertragung ins Chile des Jahres 1973 nicht recht gelingen mag.

Eine Aktualisierung ist Kochheims Regie, die bei der Premiere zu starken Publikumsprotesten führte, genau genommen nicht, denn auch der Putsch Pinochets ist ja Historie. Es ist vielmehr die Übertragbarkeit des Geschehens an sich, die bekräftigt, dass "Tosca" ein zeitloses Stück ist. Ganz gleich, ob Scarpia in einem römischen Palast oder vor zahlreichen Überwachungs-Monitoren Tosca mit den Schreien ihres gefolterten Liebhabers Cavaradossi zur Preisgabe von Geheimnissen zwingt. Auf makabre Weise fast schon verspielt ist die Wahl des Mordwerkzeugs, das Kochheim ihr in die Hand gibt: Tosca ersticht Scarpia nicht mit einem auf dessen Schreibtisch liegenden Messer, sondern erdrosselt ihn mit der eben dort gefundenen Telefonschnur.

Das stärkste Bild haben Kochheim und seine Ausstatterin Uta Fink freilich für den dritten Akt gefunden: Statt auf der Engelsburg spielt er im Stadion von Santiago de Chile, wo die Putschisten seinerzeit Tausende von Gefangenen zusammen trieben. Statt Morgen-Idyll unter römischem Sternenzelt also nackte Betonbänke mit schutzlosen Gefangenen - der wohl plausiblere Rahmen für eine Exekution: Den Fotografen hat man mittlerweile bis zur Blindheit gefoltert, nach seinem inszenierten Tod läuft Tosca in den Elektro-Zaun: Gewiss ein Bild von deutlicherer Drastik als jene unbeholfenen Hüpfer von der Engelsburg, die man andernorts zuweilen sehen muss.

Wem allerdings diese Darstellung der "Tosca" nicht behagt, wird durch die musikalische Seite kaum getröstet werden: Das Orchester spielt unter der Leitung des neuen Darmstädter Kapellmeisters Martin Lukas Meister nicht mehr als akkurat, Anja Vincken ist eine schmal und spröde klingende Tosca, Zurab Zurabishvili den Höhen sowie der erforderlichen Strahlkraft seiner Cavaradossi-Partie kaum gewachsen. Und Tito You schien als Scarpia in der besuchten, nur mäßig frequentierten Folgevorstellung nach der Premiere seinen eigentlich profunden Bariton nur im dynamischen Schongang einzusetzen.

AXEL ZIBULSKI

 

Rhein Zeitung
23.10.2006

Puccinis "Tosca" spielt diesmal in Chile
Phillip Kochheim inszeniert die Oper als Folterkrimi unter dem Regime des Augusto Pinochet

Von Claus Ambrosius

[...] Kochheim holt die Geschichte der Sängerin Floria Tosca und ihrer Liebe zum Aufständler Cavaradossi zurück aus der Repertoirebetulichkeit und gibt ihr die atemberaubende Thriller-Qualität zurück, die nicht zuletzt in Puccinis Musik ihren hart-kontrastierenden Ausdruck findet. Und so dekliniert sich die Geschichte durch völlig neue Spiel-Räume: Der erste Akt ist keine Kirche, sondern das Fotostudio des Künstlers Cavaradossi, im Hausflur prangt im Hergottswinkel eine Madonnenstatue. Statt Chorknaben singen hier Straßenkinder und Drogenmädchen mit dem Hausmeister, Baron Scarpia ist Angehöriger der allgegenwärtigen Militärjunta: Sein "Te Deum" ist ein blutrünstiges "Dein Reich komme" zwischen Folterliegen und Überwachungskameras.

Dieses Konzept kann nur aufgehen, wenn sich auch die Sänger darstellerisch engagieren: Das klappt in Darmstadt hervorragend ... Anja Vinckens Tosca bietet alle Facetten zwischen eifersüchtiger Frau und zickiger Diva - all das in packendem Körpereinsatz. Zurab Zurabishvili geht in dieselbe Richtung: Sein Cavaradossi ist kein Prahl- und Strahltenor, sondern ein feinnerviges Gesamtpaket, Tito You bleibt dem Scarpia sängerisch und in schmierig-grausamer Intensität nichts schuldig.

Martin Lukas Meister, neuer Erster Kapellmeister am Staatstheater, führt das Orchester zum gewünscht prallen Klang [...]

 

HNA [http://www.hna.de/]
09.11.2006

"Tosca" im kalten Licht unserer Zeit
Opern-Inszenierung am Staatstheater Darmstadt

Von Britta Steiner-Rinneberg

Darmstadt. Um die Zeitlosigkeit und Modernität von Puccinis Oper "Tosca" aufzuzeigen, hat der Darmstädter Operndirektor Philipp Kochheim entschlossen mit der Konvention gebrochen und am Staatstheater einen sehr mutigen Schritt gewagt: Nicht nach jedermanns Geschmack, wie Buhrufe bewiesen, aber wohl durchdacht, konsequent und von beklemmender Eindringlichkeit. Eine Interpretation, die das "Melodramma" im kalten Licht unserer Zeit erleben lässt.

Kochheim verlegt das Geschehen aus Rom nach Santiago de Chile, in die frühen 70er-Jahre, in denen der Diktator Pinochet seine Schreckensherrschaft ausübte. Scarpias Palast mutiert im Bühnenbild Uta Finks (die auch die Kostüme schuf) zur Residenz der Junta. Aus der Engelsburg wird das zum Lager umfunktionierte Stadion: Ein Betonklotz mit Treppenstufen, auf denen die Todeskandidaten die letzten Stunden bis zur Exekution verdämmern. Hier verleben Tosca und ihr schwer verletzter Geliebter Cavaradossi die letzten glücklichen Minuten ihres Lebens. Ein bewegendes Schlussbild mit einem unter die Haut gehenden grandiosen Duett des Liebespaares. Dann bricht Cavaradossi unter den Schüssen der Schergen zusammen. Tosca wird umzingelt, sieht keine Rettung und stürzt sich auf den Elektrozaun ...

Das unter Martin Lukas Meister agierende Staatsorchester spielt höchst differenziert und tongenau: Mit gesteigerter Dramatik in den Verzweiflungsausbrüchen, schneidend hart in den Verhör- und Folterszenen, stark zurückgenommen und feinfühlig in den wie Lichtpunkte wirkenden kammermusikalischen Passagen. Tito You gibt mit prächtigem Bariton und undurchdringlichem Gesicht den Brutalo Scarpia als lauernden, eiskalten Zyniker, der genüsslich Sekt schlürft, während er den geblendeten Gefangenen foltern lässt. Anja Vincken erfreut als Floria Tosca mit hellem, frischem Sopran und dramatischer Höhe, bleibt aber die große Liebende, die alles zu opfern bereit ist, darstellerisch leider schuldig.

 

egotrip.de
november 2006

Beklemmende Aktualisierung eines zeitlosen Stoffes

Puccinis Oper "Tosca" im Staatstheater Darmstadt

Giacomo Pucchini (1858-1924) entnahm den Stoff für seine Oper "Tosca" aus dem Jahre 1900 dem Drama "La Tosca" von Victorien Sardou. Die Handlung um politische Unterdrückung und Mord, persönlichen Mut, Erpressung und Opferbereitschaft spielt zwar in Italien, doch eher in einer fiktiven politischen Situation. Die Oper übte damit bei der Uraufführung mangels totalitärer Verhältnisse in Europe eine eher exemplarische Wirkung aus und wurde hauptsächlich wegen ihrer künstlerischen Qualität ein Erfolg. Regisseur Philipp Kochheim wollte in Darmstadt offensichtlich dieses Ausweichen ins Allgemein-Menschliche verhindern und das Publikum mit einer konkret-historischen Situation konfrontieren, die eine ausschließlich ästhetische Rezeption nicht erlaubt. Er hätte dafür mehrere Möglichkeiten gehabt: das Nordkorea eines Kim Jung il, den Irak eines Saddam Hussein - oder das Chile des General Pinochets. Er hat sich für letztere Variante entschieden, wohl, weil diese die reinste Form geplanten staatlichen Terrors im westlichen Kulturkreis darstellt. Die anderen beiden Fälle bieten zwar einen durchaus höheren Grad von Grausamkeit, sind jedoch dem hiesigen Publikum wegen des unterschiedlichen kulturellen Hintergrunds wohl schwerer zu vermitteln. Außerdem mag er bei einer zu ausgeprägten Aktualisierung politische Verwerfungen à la "Idomeneo" befürchtet haben. Doch sei's drum: die Wahl Chiles ist durchaus nachvollziehbar und gerechtfertigt.


Anja Vinken (Tosca), Zurab Zurabishvili (Cavaradossi) 

Philipp Kochheim begnügt sich jedoch nicht mit einem mehr oder minder symbolischen Verweis auf Chile, sondern baut die historische Situation von 1973 kompromisslos in seine Inszenierung ein. Zwar behalten die Personen ihre Namen, doch vom Bühnenbild bis hin zum Text nimmt Kochheim durchgehend expliziten Bezug auf die chilenische Lage in den siebziger Jahren. Eine allgemeine, ästhetisierende Verurteilung staatlichen Terrors lässt sich aus dieser Inszenierung nicht ableiten. Die Konfrontation mit den historischen Ereignissen kommt abrupt und ohne Zugeständnisse, auch wenn sie verpackt ist in die fiktive Opernhandlung.

So ist Mario Cavaradossi, Geliebter der Opernsängerin Tosca, hier kein Kirchenmaler, sondern Fotograf. Angelotti wird zum verfolgten Gewerkschaftler, der sich in Cavaradossis Wohnung flüchtet und von diesem versteckt wird. Polizeichef Scarpia ahnt jedoch sofort, dass Cavaradossi etwas mit den Verschwinden zu tun haben muss, da Angelottis Schwester im selben Haus wohnt. Als Cavaradossi beim Verhör keine Aussagen zum Verbleib von Angelotti macht, lässt Scarpia ihn in Toscas Anwesenheit so lange foltern, bis sie zusammenbricht und dessen Versteck verrät. Der verzweifelte Cavaradossi äußert daraufhin seinen Hass auf die Regierung und wird dafür zum Tode verurteilt. Der um Gnade flehenden Tosca eröffnet Scarpia einen rettenden Weg, der jedoch auf sexuelle Erpressung hinausläuft. Als er ihr nach ihrem schwer erkämpften Einverständnis den Passierschein für sie und Mario übergibt, erdrosselt sie ihn. Mario wartet derweil im Stadion von Santiago auf seine Hinrichtung, die laut Scarpias letzter Anweisung nur zum Schein stattfinden soll. Als Tosca jedoch nach dem Pistolenschuss des Polizeischergen Spoletta feststellt, dass dieser sie - in stillem Einverständnis mit Scarpia - betrogen und Cavaradossi tatsächlich erschossen hat, wirft sie sich in den mit Hochspannung gesicherten Stadionzaun.


Jeffrey Treganza (Spoletta), Chor und Statisten (Soldaten und Gefangene)

Kochheim und seine Bühnenbildnerin Uta Fink lassen von Anfang an keinen Zweifel an der hoffnungslosen Dramatik des Stoffes aufkommen. Das erste Bild zeigt Cavaradossis Wohnung und den zugehörigen Hausflur. Fotos von Ché Guevara und verschiedenen Frauen zieren die Wände seines Zimmers, eine Madonna mit Kind die Wand des Flurs, vor der sich jeder Ankömmling bekreuzigt und betet. Ein denunziatorischer Hausmeister schleicht um Cavaradossi herum, um prophylaktisch belastendes Material zu sammeln. Hier taumelt der flüchtige Angelotti mit blutverschmierten Hemd hinein und verbreitet vom ersten Moment den Schrecken des Polizeistaates, in dem jeder permanent in der Angst vor der Polizei lebt. Zwar zeigt sich Cavaradossi als lebenslustiger und gutmütiger Mensch, doch die Umstände treiben ihm seine Lebensfreude schnell aus. Nur Tosca, die mit Einkaufstüten voller Reizwäsche bei ihm einfällt und wegen der abgeschlossenen Tür sofort weibliches Unheil wittert, muntert ihn kurzfristig auf, wundert sich jedoch, warum er sie so schnell wieder los werden will. Von dem hinter der Badezimmer fast verblutenden Angelotti weiß sie vorerst noch nichts. Die plötzlich einbrechende Polizei mit Scarpia an der Spitze stellt die Wohnung des mittlerweile samt Angelotti verschwundenen Cavaradossi auf den Kopf, ohne etwas Belastendes zu finden, und Spoletta erschießt den unterwürfig sein Unwissen bekundenden Hausmeister aus purer Frustration wegen der fehlgeschlagenen Hausdurchsuchung.

Das zweite Bild zeigt das Hauptquartier der Polizei mit Scarpias Schreibtisch in zentraler Position. Den Hintergrund der Bühne beherrscht eine Video-Überwachungsanlage, die bei genauerem Hinsehen "Live"-Bilder aus der Tiefgarage zeigt, und bewaffnete Soldaten treiben Gefangene unter Misshandlungen über die Bühne. Krankenschwestern verhören an langen Tischreihen die verhafteten Einwohner und auf der anderen Seite verüben Ärzte in weißen Kitteln undefinierbare Experimente an festgeschnallten Patienten. Mit diesem Bild klagt Kochheim eindeutig die heilende Zunft einer unseligen Komplizenschaft mit den Herrschenden an und zielt damit offensichtlich nicht nur auf chilenische Mediziner der siebziger Jahre. Hier spielen sich die "Verhandlungen" zwischen Scarpia und Tosca ab, während Cavaradossis Schmerzensschreie gedämpft aus dem Bühnenrückraum dringen, hier erfährt dieser blutüberströmt und nahezu bewegungsunfähig den der Liebe abgepressten Verrat Toscas und hier kämpft diese ihren langen Kampf mit Scarpia und ihrem eigenen Ehrgefühl, bis sie mit ihrer erotischen Zusage den vermeintlichen Passierschein erringt und sich für die ihr zugedachte Schmach an Scarpia rächt.


Zurab Zurabishvili (Cavaradossi)

Den letzten Akt dominieren Betonstufen und -aufgang des Stadions, die sich wie eine hohe, drohende Wand am Bühnenvordergrund erheben. Gefangene liegen, offensichtlich misshandelt und notdürftig mit Decken zugedeckt, apathisch auf den Stufen, Soldaten überwachen sie mit dem Gewehr im Anschlag, während ihre wachfreien Kameraden es sich hinter dem Elektrozaun gemütlich machen. Als eine erschöpft daliegende junge Frau sich einer neu eingelieferten Mutter und deren kleinem Sohn nähert und mit ihnen spricht, zerrt ein Soldat sie mit Gewalt hinter die Stufen, um nach einigen Minuten unter Richten der Hose wieder hervorzukommen. Die Frau kriecht etwas später vollkommen zerstört wieder auf ihren Platz an der Treppe. In dieses apokalyptische Ambiente stolpert der körperlich und seelisch erschöpfte Cavaradossi hinein, um seiner Hinrichtung entgegenzusehen. Ein so gelangweilter wie machtbewusster Oberaufseher teilt ihm die noch verbleibende Zeit - eine Stunde - mit und entlässt ihn dann auf die Stufen des Stadions, wo ihn Tosca findet. Nach Ablauf der bemessenen Stunde taucht der zynische Spoletta auf, um in Toscas Anwesenheit die angeblich nur scheinbare Hinrichtung durchzuführen. Mit kaltblütiger Mordlust setzt er dem auf die nahe Freilassung hoffenden Cavaradossi erst die Pistole ins Genick, nimmt dann drei Meter Abstand und erschießt ihn kaltblütig von hinten. Die bewegendsten Augenblicke sind die, wenn Tosca dem in ihren Augen nur scheinbar Toten zuraunt, sich nicht zu früh zu bewegen, und dann auf schnellen Aufbruch dringt. Auch der Handlung unkundige Zuschauer wissen an dieser Stelle um die schreckliche Wahrheit. Nach deren Erkenntnis sieht auch Tosca angesichts der sie umstehenden Soldaten keinen anderen Ausweg als den Freitod.

Die Musik fügt sich dem durch das Bühnenbild geschaffenen Gesamteindruck nahtlos ein. Puccini verbindet die romantische Tradition der eingängigen und ausdrucksstarken Themen mit moderner Expressivität, gewagten Harmonien und aufschreckenden rhythmischen Elementen. Das Schöne dominiert auch seine Musik über weite Strecken, doch der Schrecken spiegelt sich bei ihm auch in schroffen Klängen und harten Rhythmen. Hier verliert die Musik ganz bewusst den aus Klassik und Romantik überkommenen ausgewogenen und harmonischen Charakter. Grausamkeit, Schmerz und Leid lassen sich mit schöner Musik nicht mehr angemessen darstellen, dient diese doch letzten Endes nur der Marginalisierung und Bagatellisierung des Schreckens. Das Orchester unter der Leitung von Martin Lukas Meister agiert zu jeder Zeit auf der Höhe der Bühnenhandlung und interpretiert diese auf eine sehr präsente doch nie dominante Weise. Die Kunst bei diesem dramatischen Stück liegt darin, die Musik über den Geschehnissen nicht vergessen zu machen, sie nicht zum reinen akustischen Beiwerk werden zu lassen. Doch die kompromisslose, jedem falschen weil nur schönen Klang abholde Interpretation lässt diese Gefahr gar nicht erst aufkommen. Selbst in den lyrischen Partien kommt nie so etwas wie Heiterkeit auf. Die Freude am Leben scheint nie echt, immer nur der Wirklichkeit gestohlen. Die Musik entlarvt den Schein des Friedens und der Liebe und bewahrt stets eine gewisse Distanz auch in den wenigen heiteren Momenten. Diese sind schließlich selbst doppelbödig, denn während des Liebesgeplänkels zwischen Cavadarossi und Tosca leidet Angelotti im Bad Höllenqualen. Das Orchester lieferte mit der Interpretation der sicher nicht einfachen Musik Puccinis wieder einmal ein Meisterstück an Farbigkeit, Nuancenreichtum und Ausdruckskraft ab.


Jeffrey Treganza (Spoletta), Zurab Zurabishvili (Cavaradossi), Christopher Ryan(Schließer)

Ähnliches lässt sich vom singenden und schauspielernden Ensemble sagen. Zurab Zurabishvili ließ in der Rolle des Cavaradossi nichts von den zuvor angekündigten Folgen einer schweren Erkältung spüren und zeigte bis zum Schluss hohe stimmliche und darstellerische Präsenz, was vor allem angesichts der besonderen darstellerischen Anforderungen als Gefolterter und schwer Gezeichneter hervorzuheben ist. Anja Vincken stand ihm zumindest stimmlich in nichts nach und zeigte auch eine breite Palette schauspielerischer Fähigkeiten. Nur in dem entscheidenden Gespräch mit Scarpia erschien sie zeitweise etwas statisch; der innere Konflikt zwischen der Liebe zu Cavaradossi und dem eigenen Ehrgefühl hätte etwas schärfer zum Ausdruck kommen können. Dennoch überzeugte auch sie durch die Strahlkraft und die Ausdruckskraft ihres Gesangs. Riccardo Lombardi gab überzeugend den klassischen Offizier mit Herrscherdünkel und kalt kalkuliertem Machtgenuss, Jeffrey Treganza war die Reinkarnation des zynischen und skrupellosen Emporkömmlings. Hans-Joachim Porcher hatte als Gewerkschaftler Angelotti nur einen kurzen Auftritt im ersten Akt, absolviert diesen jedoch glaubwürdig und mit der ihm eigenen Stimmsicherheit.

Diese Inszenierung dürfte die Gemüter noch länger bewegen und neben überzeugten Fürsprechern auch Gegner finden, vor allem aus dem konservativen Lager. Auf jeden Fall kann sich niemand ihrer Wirkung entziehen und jeder muss sich dem konkreten Schrecken eines historischen politischen Systems stellen.

Frank Raudszus