Frankfurter Rundschau
3. Juni 2003

Der Schauer des ersten Kusses
Unterhaltung am Abgrund: Georges Delnon zeigt Ignaz Holzbauers wiederentdeckte Oper "Il figlio delle selve" am Mainzer Staatstheater


Zwischen den Zeilen: Gunther Schmid (Ferindo) und Chen Wang (Arsinda) in Mainz.
Photo: Müller

Von Tim Gorbauch

Man könnte es sich leicht machen und von einer federleichten, sportlich quicken Inszenierung sprechen, die sich der pastoralen, nicht immer ganz freiwilligen Komik des Sujets annimmt und es in die Moderne übersetzt. Man könnte alles als ein buntes theatrales Treiben begreifen, als eine Art sommerliches Rokokotheater des 21. Jahrhunderts, bei dem der Inhalt noch nie besonders wichtig war, dafür aber die Verpackung. Man könnte sich an der Oberfläche abarbeiten und hätte damit die Geschichte auf seiner Seite, die an Ignaz Holzbauers Opern immer schon das musikalische Feuerwerk bewunderte, nie aber die Logik oder die Stringenz oder gar die Tiefe des Librettos.

Man könnte aber auch mal einen Blick hinter die Fassade riskieren und ein bisschen im Subkutanen wühlen. Wer sich von den Oberflächenreizen, die Georges Delnons Inszenierung von Holzbauers lange verschollener Oper Il figlio delle selve zur Genüge bietet, nicht blenden lässt, der sieht darüber hinaus ein virtuoses Bühnenspiel mit mehr als instabilen Identitäten. Der Schauer des ersten Kusses bringt den ahnungslosen Ferindo ins Wanken, die Frage nach Macht und Verführung, nach Liebe und Sex die anderen. Und selbst die obligatorische Hosenrolle bleibt nicht äußerlich, sondern bringt das Ich der Arsinda in gehörige gender trouble.

Arsinda (Chen Wang) lebt als Mann getarnt am Hofe Elmiras (Britta Ströher), die ihre Herrschaft über die Insel Lesbos von ihrem Vater, dem Tyrannen Rodaspe, ererbte. Rodaspe wiederum hat vor Jahren Teramene (Marc Dostert), den Gemahl der Arsinda, vom Thron vertrieben. Seitdem haust er mit seinem Sohn Ferindo (Gunther Schmid) in der Wildnis. Als Ferindo dort das erste Mal eine Frau in Gestalt der mit feuerroten Haaren, High Heels, Netzstrümpfen und anderen Symbolen erotischer Macht ausgestatteten Lucilla (Nicole Tamburro) sieht, wendet er sich an seinen Vater: "Warum hast du mir nicht erzählt, dass es Frauen gibt?" Teramene weiß, wieso, und rät zur unmittelbaren Flucht. Aber da hat ihn die Liebe schon in ihrem Bann.

Die gekürzte Handlung, von Delnon in einer anderen musikalischen Besetzung schon vor einem Monat auf die Bühne der Schwetzinger Festspiele gebracht und nun von der Mainzer Oper ins Kleine Haus übernommen, vollzieht sich in Sprüngen und auf dem fluiden Grund einer auf 18 beweglichen Rechtecken aufbauenden, schrägen Bühne (Roland Aeschlimann). Feste, verlässliche Raumbeziehungen gibt es ebenso wenig wie geklärte Beziehungskonstellationen. Alles schwankt, mithin verschwimmen Traum und Realität, Projektion und Wirklichkeit.

Aus dem Orchestergraben erfährt das Initiationsdrama eine stark akzentuierte, mithin auch schroffe, immer drängende und enorm lebendige Untermalung, Christoph Spering leitet das Orchester des Fachbereichs Musik der Universität Mainz. Auch die jungen Sänger bewegen sich vorzüglich auf der Bühne, allen voran Gunther Schmid als Ferindo, dessen Farbigkeit und Ausdruckskraft ihn zurecht zu einem der vielversprechendsten Countertenöre seiner Generation werden ließ.

Und natürlich eilt alles dem Happy End entgegen, der finalen Versöhnung von Macht und Liebe. Schließlich wollte Holzbauer vor allem eins: unterhalten. Dass aber auch das Pastorale von den Abgründen des Ichs weiß, dass auch die auf Schwerelosigkeit zielende Zerstreuung im Urmenschlichen verankert ist, das ist die Lektion, die Delnon uns lehrt.

• Mainzer Staatstheater, Kleines Haus. Weitere Vorstellungen gibt es am morgigen 4. Juni, am 7., 19. und 29. Juni, Beginn ist jeweils um 20 Uhr.
Karten können bestellt werden unter Tel. 0 61 31/28 51 222.

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Copyright © Frankfurter Rundschau 2003
Dokument erstellt am 02.06.2003 um 18:12:40 Uhr
Erscheinungsdatum 03.06.2003
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Frankfurter Allgemeine Zeitung
Seite 46 / Montag, 2. Juni 2003, Nr. 126

Probehandeln auf schwankendem Grund
Premiere von Ignaz Holzbauers jüngst wiederentdeckter Oper „Il figlio delle selve" im Kleinen Haus des Staatstheaters Mainz

Von BENEDIKT STEGEMANN

Das im Jahr 1753 eingeweihte Schwetzinger Schloßtheater diente den Unterhaltung des Mannheimer Kurfürsten Carl Theodor and seines Hofstaates in den Sommermonaten. Die für die damalige Zeit beispiellose Vielfalt des Opernspielplans belegt zugleich die experimentelle Bedeutung der fernab der starren Mannheimer Etikette blühenden Einrichtung.

Die Partitur der zur Theatereröffnung gespielten Oper „Il figlio delle selve" von Ignaz Holzbauer wurde unlängst von den Musikwissenschaftlerinnen Silke Leopold und Bärbel Pelker wiederentdeckt, das Opus anläßich des 250jährigen Theaterjubiläums in einer Bearbeitung durch Georges Delnon, Klaus-Peter Kehr and Cristoph Spering zunächst in Schwetzingen selbst, nunmehr auch im Kleinen Haus des Staatstheaters Mainz wieder auf die Bretter geschickt.

Das forschungsbeflissene 20. Jahrhundert hat den im Zeitalter Rousseaus idealisierten Naturzustand vielfach als Fiktion entlarvt, laßt dessen unbefangene Setzung als Gegenpol zu einer artifiziellen, von Konventionen geregelten Welt ebensowenig zu wie den hierin eingebetteten Kontrast von Menschenliebe and Machtstreben. Das Regieteam um Delnon sucht diese Schwäche des Sujets, das Anachronistische einer „Favola pastorale", durch humorvolle Ironisierung and Abstraktion zu kompensieren. Lediglich eine Geräuschkulisse aus tierischen Urwaldstimmen suggeriert unmittelbar von und nach dem Schauspiel Natürlichkeit.

Das konsequent geometrische Bühnenbild von Roland Aeschlimann reduziert Natur hingegen auf den Aspekt der Unberechenbarkeit. Die schräggestellte, aus 18 drehbaren Rechtecken bestehende Spielfläche befindet sich in steter Bewegung, öffnet Höhlen, Gänge, Spalten, Abgründe, befördert lateinische Sinnsprüche an die Oberfläche, suggeriert fallweise gar einen Meeressturm.

Die vom Orchester derJohannes Gutenberg-Universität unter der Leitung von Cristoph Spering sehr ambitioniert vorgetragene Musik Holzbauers paßt wunderbar zu diesem Anblick. Sie disponiert nicht so weiträumig wie diejenige Mozarts, erweist sich mit ihren dynamischen Rupturen und sich überlagernden Spannungskurven jedoch als außerordentlich ausdrucksstark und zuweilen erfrischend unberechenbar. Freilich hat sie zuweilen auch ihre Längen.


Chen Wang als Arsinda, Fürstin von Lesbos
Foto Bettina Müller

Der titelgebende „Sohn der Wildnuß", Ferindo (Gunther Schmid), hat zu Beginn der Oper noch nie Kontakt zur zivilisierten Welt gehabt. Sein Vater Teramene, Fürst von Lesbos (Marc Dostert), hält sich nach seiner Entmachtung durch den Tyrannen Rodaspe seit fünfzehn Jahren in den Wäldern der Inset versteckt. So lebt der junge Mann unter der Fuchlel des Vaters, ohne dessen vom Machtstreben determiniertes Wertesystem zu kennen. Tatsächlich haben sich nach dem Ableben Rodaspes und der Inthronisation seiner Tochter Elmira (Britta Stroher) längst neue Bedingungen ergeben.

So wandeln denn die beiden jungen Menschen auf der Suche nach sich selbst, einem Partner and einem geeigneten Lebensentwurf durch den Bühnenirrgarten, welcher der Elterngeneration fremd geworden, ihnen selbst aber noch nicht vertraut ist. Hier erlebt Ferindo seine sexuelle Initiation durch die lebenslustige Hofdame Lucilla (Nicole Tamburro), erkundet Elmira mutig die Welt abseits des Hofes. Doch die Regie kennzeichnet den Bühnenraum als Ort des Probehandelns. Als die finale Entscheidung ansteht, begeben sich die fünf überzeugend agierenden, stimmlich noch entwicklungsfähigen Darsteller ins Proszenium and diskutieren die Sache aus.

Den dynastischen Ambitionen der Elterngeneration, insbesondere seiner unbeirrt auf Rache sinnenden Mutter Arsinda (Chen Wang), setzt der Filius seine Liebe entgegen. Da diese der aktuellen Herrscherin Elmira gilt und von ihr auch erwidert wird, läßt sich den Generationenkonflikt durch Heirat den beiden in Wohlgefallen auflösen. Zufriedene, ja begeisterte Gesichter auch auf der Seite den hörenden Zuschauer.

Nächste Aufführungen: 4., 7., 19. und 29. Juni, jeweils um 20.00 Uhr im Kleinen Haus des Staatstheaters Mainz.

 

Allgemeine Zeitung
02.06.2003

Erfrischend barock
Holzbauers Oper "Il figlio delle selve" in Mainz

Von Markus Häfner

Kalte, blauweiße Farben durchdringen die Bühne. Eine Stimmung tiefster Einsamkeit - retardierendes Moment vor dem Höhepunkt der dramatischen Verwicklungen: "Ich bin allein und vertraue meine Klagen den Lüften an". Harfenzart umspielen Streicher und Oboen die schwermütige Sopranmelodie, die Flöten durchweben die Musik mit pastoralen Tönen, sanft wiegen die Hörner Elmira in den Schlaf. Das ist so einer der Momente, in denen einfach alles zusammenpasst. Es muss nicht immer Händel sein. Vor sechs Wochen Caldaras "Sancho Pansa" in Darmstadt, nun - im Kleinen Haus des Mainzer Staatstheaters - Ignaz Holzbauers Oper "Il figlio delle selve" (Der Sohn der Wildnis: Solche Wiederentdeckungen von Barockopern jenseits der vielbeschrittenen Pfade um den berühmten Komponisten aus Halle sind ein großer Zugewinn für die Spielpläne.

Genau 250 Jahre ist Holzbauers Oper alt; der in Wien geborene Komponist hatte sie 1753 anlässlich der Eröffnung des Schwetzinger Rokokotheaters geschrieben. Georges Delnons Inszenierung war vor vier Wochen bei den Schwetzinger Festspielen zu sehen; in Mainz wurde die Oper von Sängern und Instrumentalisten des Fachbereichs Musik aufgeführt. Ob wohl die Mannheimer Hofkapelle, die später den bedeutsamen, "Mannheimer Instrumentalstil" ausprägen wird, bereits bei der Uraufführung dieser Komposition Holzbauers mit ebenso viel Verve musiziert hat, wie Christoph Spering dies seinem jungen Orchester abverlangte? Von der ersten Note an tönte wahrhaft "Mannheimer Manier" aus dem Graben, wurde die abwechslungsreiche Partitur von den Musikstudenten mit schier unbändiger Spielfreude und bestechender Präzision belebt. Einen gewaltigen Kraftakt leistete auch das Solistenensemble, das außer dem in bestechender Ruhe und Souveränität agierenden Countertenor Gunther Schmidt ausschließlich mit Gesangsstudenten der Mainzer Universität besetzt ist. Britta Ströher, Chen Wang, Marc Dostert und Nicole Tamburro - sie alle meisterten ihre keineswegs einfachen Partien koloraturensicher und mit emotional sehr wandlungsfähigem Ausdruck. Das einfache, abstrakte Bühnenbild (Roland Aeschlimann) produziert mit raffinierter Klappenmechanik und Lichteffekten eindrucksvolle Stimmungsgegensätze. Delnons Regie arbeitet in sehr enger Bindung an Holzbauers Musik; erlaubt sich hingegen eine bisweilen erfrischend ironische Distanz zum Libretto.

Weitere Aufführungen: 4., 7., 19., 29. Juni. Karten unter Tel. (06131)2851-222