Stuttgarter Zeitung
3. Mai 2003

Die Schwetzinger Festspiele 2003 eröffnen mit Ignaz Holzbauers Oper "Il figlio delle selve"
Schöner Triumph des Schwachsinns

Von Horst Koegler

Welch eine aparte Idee! An den Anfang der Schwetzinger Festspiele 2003 just jene Oper zu stellen, mit der das Schlosstheater vor genau 250 Jahren eröffnet worden war: "Il figlio delle selve", Favola pastorale alias "Musicalisches Schäfers-Gedicht" von Ignaz Holzbauer. Der war ein wackerer Mannheimer Hofkapellmeister, der mit seinem später entstandenen "Günther von Schwarzburg" als einer der Kollegen von Jommelli, Hasse und Johann Christian Bach eine Nischenexistenz in der Musikgeschichte führt.

Mozart erwähnte ihn in einem Wiener Brief: "Dieses Stück ist hier, weil es nicht gefiel, unter die verworfenen Stücke, welche nicht mehr aufgeführt werden - es müsste nur blos der Musick wegen aufgeführt werden." Die allerdings hatte er schon früher gerühmt, beziehungsweise ihren Schöpfer: "Am meisten wundert mich, dass ein so alter Mann . . . noch so viel geist hat; denn das ist nicht zu glauben, was in der Musick für feüer ist" - nachdem er vorher allerdings einschränkend festgestellt hatte: "Die Poesie ist nicht werth einer solchen Musick."

Das wäre wohl auch seine Reaktion auf Holzbauers "Sohn der Wildnüss" gewesen, denn dessen Libretto ist von einer Simplizität, die heute schwer erträglich ist. Die schien das Schwetzinger Premierenpublikum indessen nicht anzufechten, das der in Koproduktion mit dem Staatstheater Mainz präsentierten Produktion lebhaften Beifall zollte. Mit nur fünf Personen, darunter Vater, Mutter und Sohn, die durch das Schicksal getrennt werden, huldigt es dem rousseauschen Ideal des angeblich arkadischen Lebens in der freien Natur als ein barockes Verwirr- und Intrigenspiel um Macht und Liebe. Dessen Höhepunkt ereignet sich gleich am Anfang, wenn der mit seinem Vater nach einem Schiffbruch auf eine Insel verschlagene und dort 15 Jahre lang in einer Höhle lebende Sohn wie Papageno erkennt, dass es auch noch andere Wesen gibt, und so die Liebe entdeckt.

Die Dinge komplizieren sich, wenn die verschollen geglaubte Mutter wieder auftaucht, noch dazu in Männerkleidern, und es fast zu einem tödlichen Kampf kommt. Aber nur fast, denn am Ende versöhnen sich Natur und Zivilisation, zwitschern die Vögel so unschuldsvoll wie am Anfang, wenn die von Roland Aeschlimann hergerichtete Bühne wie ein großes grünes Quadrat daliegt - sozusagen eine Spielwiese für den Gründungsparteitag der Grünen avant la lettre.

Es ist wahrlich erstaunlich, was der Mainzer Staatstheaterintendant Georges Delnon als Regisseur und seine Mini-Truppe anstellen, um die Aktion in Gang zu halten - und zwar mittels einer Klappenmechanik, die die Aktion irgendwo zwischen dem Kasperletheater und der mechanistischen Szenografie eines Meyerhold ansiedelt. Und so tauchen unentwegt Personen und Gegenstände aus der Versenkung auf und verschwinden wieder darin, was die tollsten dekorativen Effekte ergibt, stimmungssuggestiv beleuchtet von Patrick Fuchs, und der Aufführung einen eigenen ästhetischen Reiz sichert.

Dem hilft Christoph Spering mit seinem L"Orfeo Barockorchester tüchtig auf die Sprünge. Er stürzt sich mit seinen Musikern gleich zu Beginn mit einem solchem Elan in die Ouvertüre, als hätte er es darauf abgesehen, Holzbauer als einen Wegbereiter des Sturm und Drang zu reklamieren. Überhaupt spitzt er die Affekte derart zu, schärft er die Kontraste, gerade auch die der Lautstärke und der Dynamik, pointiert er die satte Streichergrundierung mit den wie von einem Scheinwerferkegel herausgeleuchteten Einwürfen von Horn, Flöte, Fagott und Oboe, und verordnet so dem Klanggeschehen eine Wechselbad-Therapie. Da ist nichts geschönt oder geglättet, erscheint das rousseausche Prinzip des "retour à la nature" auf die Klangfabrikation selbst angewendet.

Ohne Kenntnis des Originals ist freilich schwer zu entscheiden, wie weit Spering, Delnon und der als Dramaturg beteiligte Klaus-Peter Kehr als Bearbeiter in die Partitur eingegriffen haben. So weiß man nicht recht, ob die ausladenden Kadenzen, die eine auffallend große Anzahl der Arien beschließen, von Holzbauer selbst stammen oder ob sie ornamentale - womöglich ironische - Zutat sind. Mir ist jedenfalls keine andere Oper bekannt, in der sich die Kadenzen derart verselbstständigen.

Furchtlos werden sie von den Sängern attackiert - und bewältigt, mit jungen, frischen, auf Hochglanz polierten Stimmen. Von Anna Korondi, die als totgeglaubte Mutter höchst lebendig ihr Doppelspiel als forscher Jüngling und leidgeprüfte vermeintliche Witwe absolviert, von Gennar Gudbjörnsson und Gunther Schmid, die als Vater und Sohn sich von animalischen Höhlenbewohnern zu zivilisierten Wesen läutern, von Maria Rodriguez als amazonenhafte Tyrannin im Dienste der Diana, die Jagd macht auf die beiden Unbehausten, und von Sabina Martin, die charmant beweist, dass auch auf der wildesten Insel weibliche Koketterie als offenbar elementare Urkraft nicht zu unterdrücken ist.

Alle bewundernswerten Anstrengungen sämtlicher Beteiligter können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Holzbauers "Il figlio delle selve" von einer geradezu schwachsinnigen Einfalt ist - und das nicht nur im Hinblick auf Marivaux" zwanzig Jahre früher entstandenen "Triomphe de l"amour", in dem es um einen ähnlichen Konflikt zwischen Natur und Zivilisation geht. Kein Wunder, dass die Favola pastorale in Löwenbergs repräsentativen "Annals of Opera 1597-1940" unter den zehn Opern des Jahres 1753 (unter anderen von Jommelli, Hasse, Graun, di Capua und Dauvergne) nicht erwähnt wird.

Aufführungen am 4. und 6. Mai. Liveübertragung auf SWR 2 am 4. Mai um 20.05 Uhr

Aktualisiert: 05.05.2003, 05:03 Uhr

 

Allgemeine Zeitung
03.05.2003

Flurbereinigung im duftenden Garten der Liebe
Start der Schwetzinger Festspiele mit Ignaz Holzbauers "Il figlio delle selve" aus dem Jahr 1753/Koproduktion mit Mainz

Von Johannes Bolwin

Grillen zirpen, Affengekreisch, sattes Urwaldgrün. Subtropische Gefühlsschwüle herrscht im Treibhaus der Liebe auf der Insel Lesbos; eine trügerische Idylle, in der sich die Zähmung Ferindos, eines "Sohns der Wildnis", abspielt - dergestalt, dass der abgeschirmte Königssohn Ferindo es nach Jahren im Urwald-Asyl erstmals mit Frauen zu tun bekommt und also das Leben kennen lernt. Dazu gesellt sich so ziemlich alles, was aus spätbarocker Zeitgeist-Perspektive vorstellbar ist: Robinsonade, Intrige, Verwechselung, Usurpation, Eifersucht, dynastisches Geplänkel, Liebelei, Verschwörung. Und ein Happy-End, bei dem die machtgierige Inselfürstin Elmira im Handstreich, via Verkuppelung nämlich, gezähmt und in den gegnerischen Klan quasi "eingemeindet" wird.

In den labyrinthischen amourösen Verästelungen der Oper "Il figlio delle selve" (Der Sohn der Wildnis), einem Schäferspiel Ignaz Holzbauers, könnte man flugs die Orientierung verlieren. Es ist das Verdienst dieser die Schwetzinger Festspiele 2003 eröffnenden Produktion, mit dezenten flurbereinigenden Maßnahmen für klare Verhältnisse gesorgt zu haben. In der Deutung des Mainzer Intendanten Georges Delnon, dem Roland Aeschlimann eine seiner typischen schrägflächigen, maschinenhaften Bühnen gebaut hat, ist die Oper erstmals seit der Uraufführung vor 250 Jahren an gleicher Stelle wieder zu sehen.

Zwar mutet die kuriose zeittypische Themenmixtur noch immer läppisch und konstruiert an; zwar haut einen auch die gefällig bis galant zwischen Vivaldi, Rameau und Mozart plätschernde Musik nicht gerade vom Hocker. Aber es imponiert die moderne, feinsinnige, auf multimediale Tricks rigoros verzichtende Regie, die viel aus dem Werk herausholt - ohne es übers Knie zu brechen. Die hübschen erotischen Schraffuren werden, wohl in weiser Rücksicht auf die Schmerzgrenzen des bildungsbürgerlichen Schwetzinger Publikums, schelmisch-humorig angedeutet und erregen damit sicher keinen Anstoß.

Kaum Requisiten, die Bühne bleibt frei, dennoch verblüffende, im Dienste der klaren Personenführung stehende Effekte: Wie von magischer Hand geführt, "ploppen" die Akteure aus den schachtartigen, aufklappbaren Tiefen der an sich sperrigen Bühnenkonstruktion, in die sie auch wieder abtauchen; mitunter sind nur Oberkörper zu sehen, was die reizvolle Illusion des Schwebens, der Zeitlupenbewegung erzeugt. Die Oper endet mit einem die elitäre Kunstform originell brechenden Abgesang - in beiläufiger, gesprochen-improvisierter Proben-Manier.

Die Solisten (Anna Korondi, Elmira; Maria Rodriguez, Arsinda; Sabina Martin, Lucilla; Gunther Schmid, Ferindo; Gunnar Gudbjörnsson, Teramene) singen auf hohem Niveau und ausdrucksvoll; doch täte mancher Arie etwas mehr Dynamik und weniger "Da-Capo" gut. Das hervorragende, überaus agile L'Orfeo-Barockorchester unter Leitung von Christoph Spering musiziert auf historischen Instrumenten (mit schnarrenden Naturhörnern), was dem Klang zwar eine akademisch-strenge Note gibt, aber gut zum kammerspielartigen Habitus der Produktion passt.

 

Wiesbadener Kurier
03.05.2003

Delnon-Inszenierung in Schwetzingen
Wilde in Nadelstreifen für "heutiges Publikum"

Von Silke Blume

Ignaz Holzbauer hatte "Il figlio delle selve" (Der Sohn der Wildnis) für die Einweihung des Schwetzinger Rokokotheaters 1753 komponiert. Anlässlich des 250-jährigen Theaterjubiläums wurde die Oper zu Beginn der Schwetzinger Festspiele erneut gespielt. Ebenso wie die Uraufführung 1753, so war auch die Premiere 2003 unter der Leitung von Christoph Spering ein rauschender Erfolg.

Die Inszenierung von Georges Delnon, dem Intendanten des Staatstheaters Mainz, betont vor allem den komödiantischen Aspekt. Delnon wollte "nichts Museales abliefern, sondern eine heutige Aufführung, für ein heutiges Publikum." Das Stück handelt von Teramene und Arsinda, die auf der Insel Lesbos herrschten, bis sie von einem Tyrannen vertrieben wurden. Auf der Flucht erleiden sie Schiffbruch und werden getrennt.

Die minimalistische Bühne (Roland Aeschlimann) sieht aus wie eine schräg gestellte Schokoladentafel. In Stücken lässt sie sich drehen; die unterschiedlichen Spielorte werden durch Lichteffekte angedeutet: wildnisgrün, aschgrau oder palastgold. Die Protagonisten stellen die Wildnis dar - etwa Ferindo, der einem Affen ähnlich über die Bühne hopst. Später erst schaut er von der Zofe die zivilisierte Kunst des Beine übereinanderschlagens ab. Teramene, zunächst barfuß und in einem zerrissenen Nadelsteifen-Anzug, resozialisiert sich mit einem gekonnten Stepptanz und Kaugummi.

Mit vielen Wechseln in Tempo, Dynamik und Artikulation ist das Stück sehr abwechslungsreich: mal schroff mit Cello und Cembalo, mal zart zur Liebesarie des Ferindo mit gezupften Streichern und Flötentrillern. Christoph Spering hat alle Farben der breiten Palette mit dem Barockorchester aus Linz herausgearbeitet. Sowohl stimmlich als auch darstellerisch überzeugen Gunnar Gudbjörnsson als Teramene, Maria Rodriguez als Arsinda der Countertenor Gunther Schmid als Ferindo, Anna Korondi als Elmira und Sabina Martin als Lucilla.

 

Frankfurter Neue Presse
06.05.2003

Die Schwetzinger Festspiele eröffneten mit Ignaz Holzbauers Oper "Il Figlio delle Selve" (Der Sohn der Wildnis).
Auch in der Idylle wütet die Rache der Gefühle

Von Rudolf Jöckle

Keine "Ausgrabung" hätte für Ort und Anlass reizvoller und treffender sein können: Vor 250 Jahren wurde mit dieser "Favola Pastorale" auf ein seinerzeit häufig benutztes Libretto das neue Schlosstheater eröffnet. Hausherr und Kurfürst Carl Theodor hatte Holzbauer mit der Komposition beauftragt, die diesem den Mannheimer Kapellmeisterposten einbrachte. Die jüngste Schwetzinger Aufführung bedeutet wohl nicht zuletzt auch Wiedergutmachung denn dem Wiener Holzbauer, bestätigt sie doch dessen vergessene kompositorischen Fähigkeiten, seinen Einfallsreichtum wie sein "Feuer" (Mozart).

Diese "Favola" in der Schwetzinger Fassung zeigt freilich kein "Arkadien", keine Idylle in zeitlos ungetrübter Natur, sondern eine höchst anregende Mischform aus Drama und Komödie neben den Elementen des Schäferspieles. Sie greift zurück auf die beliebten Verwirrspiele und Verkleidungen, eine Vermengung von Komik und Tragik, die auch "Hoch" und "Tief" durcheinanderwirbelt. Und es geht um die legitime Macht "am Hofe" wie um die Wandlung des wild aufgewachsenen jungen Ferindo zum edlen Menschen. 15 Jahre hatte er mit seinem Vater Reamene in dieser Wildnis von Lesbos geheim gelebt, vertrieben aus dem angestammten Königtum, während Mutter Arsinda sich am Hof der Usurpatorentochter Elmira als Mann verkleidet auf Rache sinnt.

In der "Wildnis" begegnen sich nun die Fünf – die kesse Dienerin Lucille mischt noch mit –, gehen sich aus dem Weg, belauern und lieben sich (Lucille demonstriert Ferindo die Praxis), erkennen und bedrohen sich. Die Liebe zwischen Ferindo, der schließlich die Macht seiner Gefühle zu deuten weiß, und Elmira löst alle Verstrickung. Georgens Delnon hat dies ungemein witzig inszeniert, um dann in diese Lockerheit die Augenblicke der Reflexion, der Gefühle sanft einzubetten. Roland Aeschlimanns praktikables Bühnenbild gibt ihm den idealen Raum: einen schrägen Bretterboden ("Grüne Wildnis"), dessen Teile sich vielfältig bewegen können, geheime Wege schaffend, stürmisch türmend, oft nur vielsagend eine Hand, einen Strumpf freigebend. Eine Fülle von Möglichkeiten, ohne dass die Balance des Tempos darunter litte.

Delnon und sein prachtvolles Sängerensemble genießen das Spiel, das immer wieder den raschen Übergang von der Komik zur Poesie wagt. Anna Korondi (Elmira), Gunnar Gudbjörnsson (Teramene), Maria Rodriguez (Arsinda), der Altus Gunther Schmid (Ferindo) und Sabina Martin (Lucille) singen nicht nur hervorragend, sondern wenden mühelos das Typische ins Charakteristische. Das "L'Orfeo"-Barockorchester und Christoph Spering tragen das mit Glanz, Geschmeidigkeit und bravouröser Attacke. Ein pures Vergnügen, übrigens eine Koproduktion mit dem Staatstheater Mainz.

 

Darmstädter Echo
6.5.2003

Wilde in Nadelstreifen
Schwetzinger Festspiele: Eröffnung wie 1753 – Koproduktion mit Staatstheater Mainz

Von Sigrid Feeser

SCHWETZINGEN. Hochzufrieden waren die Herrschaften Anno 1753 über die Novität. Zur Eröffnung des neuen Hoftheaters in der Sommerresidenz Schwetzingen hatte Kurfürst Carl Theodor beim Oberkapellmeister des Herzogs Carl Eugen in Stuttgart eine Pastoraloper bestellt. Ignaz Holzbauers „Il figlio delle selve" (Sohn der Wildnis) gefiel, ein Monat später war der Komponist in Mannheim angestellt. Blieb dort 25 Jahre als Kapellmeister, schrieb Opern, Oratorien, Messen, Motetten, Instrumentalmusik und am Ende die erste deutsche Nationaloper, den „Günther von Schwarzburg." Die Nachwelt hat jedoch dem bedeutenden Mann den Rücken gekehrt. Da ist es verdienstvoll, wenn die Schwetzinger Festspiele zum zweihundertfünfzigjährigen Bestehen des Rokokotheaters die Eröffnungsoper bringen.

In dieser Koproduktion mit dem Staatstheater Mainz geht es um eine Art Menschwerdung oder Liebesschule, am Schluss kommen die Richtigen zusammen. Da ist Ferindo, ein naiver „Sohn der Wildnis", der mit Vater Teramene (vertriebener König von Lesbos) frauenfern in den Wäldern der Insel aufwächst. Jahre sind vergangen, seit Sturm und Schiffbruch beide hier stranden ließen. Nun macht Elmira, Tochter und Nachfolgerin des Usurpators, Jagd auf die „Wilden". Mit ihr ist die Gattin Teramenes – unerkannt in Männerkleidung. Die Folge: amouröser Aufruhr, Missverständnisse, Mordkomplotte. Bis die Haltung des reinen Toren (edler Prinz) alles zum Guten wendet.

Das zieht sich fast drei Stunden, ist zwar kein Flop, aber auch nicht die reine Freude. Die fünf jungen, noch nicht im Betrieb verschlissenen Sänger (Anna Korondi, Gunnar Gudbjörnsson, Maria Rodriguez, Gunther Schmid und Sabina Martin) geben auf vokal anspruchsvollem Gelände zwar ihr Bestes. Aber ein Fest der „geläufigen Gurgeln", wie es vor 250 Jahren hieß, wird nicht daraus, zumal Christoph Spering und das L’Orfeo-Barockorchester die Partitur wie mit der Drahtbürste aufrauen.

Das Ohr versucht sich in der Musik zu verorten, erkennt ihren Abwechslungsreichtum, ihre Farbigkeit, die Vielfalt der Töne und Affekte, verzweifelt an der gekürzten und bearbeiteten Fassung – und freut sich dann doch über Holzbauers interessante, eigenständige Handschrift. Roland Aeschlimanns schiefe Ebene liefert ihr einen mageren Spielort. Drei mal sechs mobile Platten, die sich heben, senken, drehen, die Farbe wechseln und die in hässlichen Nadelstreifenanzügen (von Marie-Thérèse Jossen) steckenden Protagonisten mal auf-, mal abtauchen lassen.

Nahtlose Übereinstimmung mit dem Regisseur Georges Delnon, der tief in die Mottenkiste des guten, alten Regietheaters greift. Da bleibt Vieles blasser Jux und modischer Einfall. Aus typisierten Pappkameraden, schönen Posen und pikanten Situationen werden keine plausibel gezeichneten Figuren, geschweige denn die Charaktere, die musikalisch durchaus vorhanden sind.

Noch eine Vorstellung in Schwetzingen morgen, Dienstag (6.); die Premiere in Mainz ist am 31. Mai.

 

Stuttgarter Nachrichten
03.05.2003

Festspieleröffnung in Schwetzingen: Holzbauers "Il figlio delle selve"
Mowgli singt

Der Name: Holzbauer, Ignaz Franz. Und dazu noch die Mannheimer Schule (also dem Klischee nach: abgezirkeltes Laut und Leise, symmetrische Gliederungen, Sonatensatzform). Die Aussichten für eine langweilig-belehrende Eröffnung der Schwetzinger Festspiele standen ziemlich gut.

Doch Holzbauers Oper "Il figlio delle selve" ("Der Sohn der Wälder"), mit der Mannheims Kurfürst Karl Theodor im Jahre 1753 das Schlosstheater seiner neu en Sommerresidenz eröffnete, bereitete bei ihrer Wiederentdeckung zum 250-Jahr-Jubiläum nicht nur Musikhistorikern Genuss.

Im Gegenteil: Denen mag teilweise haarsträubend vorgekommen sein, welche Freiheiten sich der Dramaturg Klaus-Peter Kehr, der Regisseur Georges Delnon und der musikalische Leiter Christoph Spering gegenüber der Partitur herausnahmen. Zank mit der Heidelberger Forschungsstelle Mannheimer Hofkapelle um Rechte und Pflichten am neu herausgegebenen Alten gab es im Vorfeld, Zank vor allem um hoch angesetzte Tantiemen für die Benutzung der Neuedition. Die Wellen schlugen so hoch, dass sich das Produktionsteam auch vor dem Publikum eines subtilen Kommentars im Programmheft nicht enthalten konnte. Den Begleitzettel, auf dem man den Musikwissenschaftlerinnen Silke Leopold und Bärbel Penker dankt, ziert also ein lateinischer Sinnspruch: Oft wollen die Frauen, was sie freut, nur unter Zwang hergeben.

Das passt sehr gut zur sehr subtilen Inszenierung. Georges Delnon hat sich der Handlung um den pubertierenden Ferindo, der in der Wildnis aufwächst und erst ganz allmählich die Zivilisation und (vor allem) das andere Geschlecht kennenlernt, spürbar mit der Absicht genähert, nur das ernst zu nehmen, was hier ernst zu nehmen ist. Das allerdings bezieht sich ausschließlich auf die Gefühle des Heranwachsenden.

Aus heutiger Perspektive wirkt "Il figlio delle selve" wie ein veroperter Erziehungsroman, der sowohl Kiplings "Dschungelbuch" als auch Wagners "Parsifal" und "Siegfried" fortschreibt. Holzbauers Mowgli singt. Und zu Beginn wie am Schluss der Oper lärmen Stimmen des Urwalds vom Tonband:Affen, Vögel, Elefanten.

Roland Aeschlimanns ansteigende Spielfläche auf der Bühne besteht aus grünen Lamellen, die je nach Bedarf teilweise aufgerichtet werden und dann als Blickschutz, Versteck oder Raumteiler dienen. Unter, auf und zwischen ihnen lässt der Mainzer Intendant Delnon die Figuren des Stücks agieren.

Dezent weist der Regisseur auf die dramaturgischen Unglaubwürdigkeiten des Stücks hin, biegt sie auch einmal zurecht, indem er einem Sänger die falschen Adressaten seiner Arie vor die Nase setzt, indem er dialogische Rezitativtexte gleichzeitig sprechen lässt und schließlich die Freude des jungen Paares im Schlussensemble vor dem Hintergrund der ehelichen Desillusioniertung der Eltern ganz nüchtern fasst. Dabei kommt es Delnon zupass, dass Anna Korondi, Gunnar Gudbjörnsson , Maria Rodriguez, Gunther Schmid und Sabina Martin nicht nur recht gut singen, sondern vor allem als Spiel-Ensemble überzeugen.

Mit dem historisch orientierten Kammerorchester L"Orfeo ergänzt Christoph Spering den delikat ironisierenden Zugriff der Regie um musikalische Entsprechungen: In den Begleitungen der Rezitative wimmelt es vor Klangfarben, die Tempi wechseln ständig, die Instrumente unterstreichen, karrikieren und kommentieren das Bühnengeschehen - und so gelingt es, sieht man von einigen intonatorischen Defiziten (auch in der Kommunikation mit den Sängern) einmal ab, auch musikalisch hervorragend, dem Stück Glätte zu nehmen und ihn aufzurauen.

Dabei ist Holzbauers "Figlio" keineswegs so stereotyp gebaut, wie man es im Vorfeld befürchtete. Es ist ein Stück zwischen den Zeiten, Stilen und Formen: mit packend-direkter Bildhaftigkeit bei der Begleitung einigen Arien, mit Zwischenformen bei den Rezitativen und mit raschen, ideenreichen Übergängen zwischen den einzelnen Formteilen. Am Ende gehört dieses Stück zu jenen "Interpretations-Opern", die immer nur so gut sind, wie sie gerade gemacht werden. In Schwetzingen war es interessant und vor allem äußerst unterhaltsam. Also kein Beweis für jenen lateinischen Sinnspruch, der ebenfalls Programmheft und Bühne ziert: Nur was schlecht ist, macht Spaß.

Aktualisiert: 05.05.2003, 05:04 Uhr

 

DIE RHEINPFALZ
Samstag 3. Mai 2003, 03:45 Uhr

Seltene Glücksfälle an idyllischem Ort - Schwetzinger Festspiele mit Ignaz Holzbauers Oper "Il Figlio delle Selve" eröffnet - Wiederentdeckung nach 250 Jahren

Schwetzingen, dieses Klassikfestival zu Beginn der Festspielsaison, lange vor Salzburg oder Bayreuth, hatte schon immer seinen ganz besonderen Reiz. Wenn das Wetter mitspielt, der Park zum Spazieren einlädt, dann wird an authentischem Ort eine längst untergegangene Zeit wieder lebendig. Eine Zeit, für die diese ganze Anlage eine Insel der Glückseligkeit war, ein Arkadien der schönen Künste, ein Paradies, die inszenierte Wirklichkeit gewordene Verheißung einer besseren Welt. Absolutistische Fürsten, Musik liebende wie Carl-Theodor zumal, waren in der glücklichen Lage, in die schnöde Realität die prachtvollen Pflöcke ihrer Gegenwelt einzurammen. Und mittendrin, im Musenpark des Pfälzer Kurfürsten: das Kleinod des Rokoko-Theaters, das heuer seinen 250. Geburtstag feiern kann.

Von unserem Redakteur: Frank Pommer 


Während der Sohn von den Frauen zärtlich in die Liebe eingeführt wird, lernt der Vater die Damen von einer ganz anderen Seite kennen: Szene aus dem Schwetzinger "Figlio" mit Sabina Martin (links), Gunnar Gudbjörnsson und Anna Korondi.
FOTO: RITTERSHAUS

Die Eröffnung der diesjährigen Schwetzinger Festspiele am Donnerstagabend war denn auch ein seltener Glücksfall: Das Theater-Juwel des Pfälzer Kurfürsten gehört nämlich zu den wenigen erhaltenen Musentempeln des 18. Jahrhunderts, weshalb die Premiere von Ignaz Holzbauers Pastoraloper "Il figlio delle Selve" ("Der Sohn der Wildnis") einer Rückkehr gleichkam: Mit genau diesem Stück nämlich wurde 1753 das kleine Sommertheater des Kurfürsten in Schwetzingen eröffnet (im Winter spielte man in der nicht mehr erhaltenen Mannheimer Hof-Oper). Und mit der Oper Holzbauers, der von 1753 bis zu seinem Tode 1783 Hofkapellmeister in Mannheim war, begann eine Art europäisches Opernexperiment in der kurfürstlichen Sommeresidenz, in der versucht wurde, die Traditionslinien der französischen und italienischen Oper mit den noch sehr neuen Errungenschaften des Mannheimer Musiklebens zusammenzuführen.

Es ist der Forschungsstelle Mannheimer Hofkapelle an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften zu verdanken, dass wir überhaupt Zeuge dieser Wiederentdeckung an authentischem Ort werden konnten. Einer Wiederentdeckung zudem, die durchaus ihren musikalischen Reiz hatte - was vor allem am Dirigenten der Aufführung, Christoph Spering, und dem auf historischen Instrumenten musizierenden L"Orfeo Barockorchester lag.

Spering hatte sich vorab schon gegen die Schublade "Früh-Klassik" für die Musik Holzbauers gewehrt und stattdessen von der "Musik des Sturm und Drang" gesprochen. Genauso ließ er auch spielen, hielt sich bei den Ruhepunkten der Partitur meist gar nicht länger auf, modulierte zwar auch die lyrischen Passagen fein heraus, setzte aber vor allem auf jenes "Feuer" der Musik, das später Mozart an der Holzbauer-Oper "Günther von Schwarzburg" erkennen sollte.

Doch der Erfolg der Schwetzinger Ausgrabung ist natürlich auch einer des Regisseurs Georges Delnon, im Hauptberuf Intendant des Staatstheaters in Mainz, mit dem die Oper koproduziert wird. Er hat die Geschichte des auf einer einsamen Insel aufwachsenden Jungen, dessen Vater ihn von jedem Kontakt mit der Wirklichkeit fern halten will, der aber schließlich durch die Liebe nicht nur zum Mann, sondern zum vernunftbegabten Wesen im Sinne der Aufklärung wird, reichlich entrümpelt und mit viel Charme und Esprit für unsere Zeit bewahrt. Auf einer schrägen Spielfläche (Bühne Roland Aeschlimann) lassen sich Lamellen ausklappen, auf denen Verse aus Ovids "Metamorphosen" zu lesen sind. Die Botschaft ist klar: Es geht um Verwandlungen, nicht nur der Hauptfigur, sondern aller dramatischen Personen. Unterstützt werden die jeweiligen psychischen Schattierungen und Abstufungen durch den Einsatz von Leitfarben wie Gelb, Blau oder Grün.

Sängerisch wusste vor allem der Tenor Gunnar Gudbjörnsson in der Rolle des Teramene zu überzeugen, der Koloraturen wie Spitzentöne mühelos und mit durchdringender Strahlkraft bewältigte. Anna Korondi (Elmira), Maria Rodriguez (Arsinda) und Sabina Martin (Lucilla) ergänzten ihre souveräne stimmliche durch eine mitunter mitreißende darstellerische Leistung. Was uneingeschränkt auch für den Altus Gunther Schmid gilt, der uns seine Wandlung vom reinen Wilden zum verantwortungsbewussten Zivilisationswesen sinnfällig, nicht aber ohne ironisches Augenzwinkern vorführte.

Weitere Vorstellungen am 4. und 6. Mai.
Die Vorstellung am 4. Mai wird von SWR 2 live übertragen (20 Uhr).