10.9.2002 Das Ballett der fetten Babys John Dew zeigt zum Start der Wiesbadener Theatersaison, was die Barockoper "Platée" mit Karneval zu tun hat Von Stefan Schickhaus Es gab eine Zeit, und die ist noch gar nicht so lange her, da sahen fast alle Mainzer Operninszenierungen ein bisschen aus wie Karnevalsveranstaltungen. Gewollt hatte das niemand, zu allerletzt der Regisseur. Keiner von ihnen ging hier aber so weit, einen Elferrat auf die Bühne zu setzen, Kappensitzung zu halten, Funkenmariechen tanzen zu lassen. Erst John Dew machte jetzt diesen finalen Schachzug des Plakativen, und zwar nicht in Mainz, sondern in Wiesbaden, wo dieser Humor ohnehin nicht zuhause ist. Geradezu provozierend real sitzen da im Prolog zu Jean-Philippe Rameaus Barockoper Platée die Götter und Musen zum Elferrat zusammen, und weil John Dew dafür berüchtigt ist, tanzt das Funkenmariechen ein Mann. Travestie ist immer eine sichere Nummer, im Karneval und in der Oper. Das wusste auch Jean-Philippe Rameau, der bei dieser für Versailles geschriebenen und jetzt zur Spielzeiteröffnung in Wiesbaden reanimierten Komödie die weibliche Hauptrolle von einem Mann singen lässt. Platée ist eine in die Jahre gekommene Sumpfnymphe, die so hässlich wie liebeshungrig ist - der Tenor Gilles Ragon darf drei Akte lang in High heels verbringen und den ersten zusätzlich in einem Badeanzug. Beides meisterte er vortrefflich, auch sängerisch war er die herausragende Erscheinung der Eröffnungsproduktion. Das Premierenpublikum fand sich durch den Narrensitzungsprolog kaum irritiert, die schnellen Buh-Rufe zwischen Prolog und Beginn des ersten Aktes kamen zu bilderbuchmäßig, um nicht zur Inszenierung zu gehören. Das Narrenthema kam dem britischen Regisseur John Dew auch nicht einfach so in den Sinn, Rameaus Platée wurde einst zur Karnevalszeit gespielt, und die Verkehrung der Welten gehört in diesem Stück zum Prinzip. Für die drei Akte fand Dew Bilder, die größtenteils auch losgelöst vom Kappengedanken wirkten. Nicht alle waren dabei wirklich neu, das mühevolle Aufbauen eines Liegestuhls ist ja geradezu ein Klassiker des gepflegten Humors; und die Rollschuhfahrten zur Sturmmusik erinnern nicht von ungefähr an den guten alten Starlight Express - John Dew hat keine Scheu vorm Musical, das ist bekannt. Wirksame Bilder zu finden, ist eine der grundlegenden Aufgaben bei einer französischen Barockoper wie Platée. Etwa die Hälfte der Bühnenhandlung gehört dem Corps de Ballet, das in immer neuen Ausstattungen in diese extrem aufwendige erste Saisonproduktion unter neuer Intendanz geschickt wurde. Mal wurden für Platées Hochzeitsfest Frauenalbträume getanzt (das Ballett der fetten Babys), mal Frauenfantasien (das Ballett der Jeans-tragenden, Muskeln unter Leder zeigenden Cowboys, also eher besondere Männerfantasien), herrlich ging ein enger Tango zu den barocken Contredanses und Menuetts. Es rührte sich was auf der Bühne, das Tempo war hoch, die Aktion schrill, die Komödie geglückt. Dew macht Musiktheater für, nicht gegen das Publikum. Was man anbiedernd nennen könnte, lässt sich gut auch als deftige Ironie begreifen. Überraschender als alle rasanten Bühnenideen aber war, wie gut das Hessische Staatsorchester mit der Partitur - die hier erstmals in der neuen kritischen Ausgabe an einem Opernhaus umgesetzt wurde - und dem besonderen französischen Barockklang zurecht kam. Auch rein musikalisch ist Rameau hier komödiantisch, lässt Esel schreien, Fagotte wie Frösche quaken, komponiert Windmaschinen und Vogelrufe mit hinein. Mit dieser Klangsprache kennt sich der Dirigent Sébastian Rouland denkbar gut aus, seine Präparation des Wiesbadener Opernorchesters kommt an Luftigkeit und rhythmischer Feinheit einem imaginären Rameau-Ideal (wie es unter den Originalklang-Spezialisten der Niederländer Frans Brüggen vielleicht am schönsten zeigen kann) sehr nahe. Keinerlei Defizite gab es bei den Sängern. Bei Florian Mock (als Götterbote Mercure) könnte man nach den ersten Takten eines vermuten, doch ist seine Partie einfach so hoch angelegt, dass wohl kaum einer ohne Schwierigkeiten damit zurecht käme - es sei denn einer jener raren, echten, französischen Haute-Contres, die in die Kopfstimme übergehen können. Mock blieb weitgehend im Brustregister, was technisch hervorragend, aber in der letzten Höhe eben auch grenzwertig gelang. Ansonsten aber zählte er zu den Sängern dieses Solistenensembles, die das spezifisch Französische am gekonntesten trafen. Dicht gefolgt in dieser Qualität von Tom Mehnert als Jupiter und Thomas de Vries als König Cithéron. Gabriela Künzlers Kurzauftritt als Juno war von herrlich schnaubender Wut, ein Joker, der zum letzten Akt gerade recht kam. Der Star blieb Gilles Ragon, der Nymphen-Tenor, der auch in der einzigen CD-Einspielung (unter Marc Minkowski) diese sonderliche Frauenrolle verkörpert. Ragon ist Komödiant, er kann auf die Klamotte hauen und patent seine Frau stehen. Und wenn die Intrige um die Scheinhochzeit zwischen Platée und Jupiter aufgedeckt wird und es Hohn regnet, dann kann er beinahe zu Tränen rühren - nach drei Stunden größter Clownerei. Auch am 13. und 26. September, 19.30 Uhr, Karten-Tel. 0611/132325. In der Zweitbesetzung singt Paul Agnew die Titelrolle. [ document info ] Copyright © Frankfurter Rundschau 2002 Dokument erstellt am 09.09.2002 um 21:10:02 Uhr Erscheinungsdatum 10.09.2002 |
10.9.2002 Jean-Philippe Rameaus Ballett-Oper "Platée" hatte Von Matthias Gerhart Alle hatten am Ende Mitleid mit der armen Sumpfnixe Platée, die in ihrer Liebestollheit von den griechischen Göttern ziemlich aufs Kreuz gelegt wird. Das ist der Kern der Handlung von Rameaus 1745 entstandener Oper "Platée", die nun eine vergnügliche Premiere am Wiesbadener Staatstheater hatte. Regisseur John Dew nutzte bereits den Prolog, um dem Zuschauer vorzuführen, dass er sich hier auf eine ziemliche Narretei eingelassen hat. Die Akteure heißen Momus, Satyr, Thalie und Amor und agieren als Mitglieder eines närrischen Sitzungspräsidiums mit allem drum und dran. Vielleicht betätigt sich ja der Rolf Braun aus dem benachbarten Mainz als neuer Hauptsponsor der Wiesbadener Bühnen? Die Can-Can-Tänzerinnen, die eines der herrlichen Zwischenspiele Rameaus tänzerisch gestalteten, lieferten jedenfalls eine astreine Leistung und forcierten damit das Amüsement des Publikums. Auch in den drei Akten überwog der Spaß, obgleich er stets auf Kosten der Titelheldin ging. Platée ist zu allem Überfluss auch noch von einer Männerrolle besetzt; damit wirkte das pralle Sumpfweibchen im knallroten Korsett noch lächerlicher. Im Zentrum des Geschehens steht aber das Ballett, für das Regisseur Dew und Choreograf Antonio Gomes reichlich Einfälle parat hatten. Wir erleben einen herrlichen Froschtanz und ein Ballett der Sumpfschildkröten. Und dazu immer wieder die frische Musik des französischen Barockmeisters, die das Orchester der Staatsoper unter Leitung von Sébastien Rouland so ansprechend wiedergab. Bei den Solisten stand Gilles Ragon, der im Prolog die Rolle des weinseligen Bacchus, in den übrigen Akten die der Nymphe übernommen hatte, natürlich im Mittelpunkt. Annette Luig als Thalie und Narrheit ("La folie") zeigte ebenfalls eine ausdrucksstarke und über alle technischen Herausforderungen einer Barockoper erhabene Stimme. Thora Einarsdottir als Amour und Fontäne, Gabriela Künzler als Junon und schließlich Tom Mehnert in den Rollen des Satyr und Jupiter waren ebenfalls gute Besetzungen. Die größte Heiterkeit erreichte aber Florian Mock in der Rolle des Merkur: Der Götterbote entstieg ganz unprätentiös einem Jumbo-Jet der Fluggesellschaft "Olympic Air". Nicht nur für diesen Regieeinfall gab es lange anhaltenden Beifall des vergnügten Publikums. Es muss also nicht immer das TV-Duell der Spitzenkandidaten sein. |
10. September 2002 Starker Spielzeit-Auftakt in Wiesbaden: John Dew inszeniert Rameaus Opernposse „Platée" Vom Pech verfolgte Sumpfnymphe Von unserem Mitarbeiter „Alles ist Spaß auf Erden", lässt Verdi den Falstaff am Ende seiner gleichnamigen Oper singen. Es liegt wohl in der Natur des Menschen, sich am Unglück des anderen zu freuen – denn „es gibt keine reinere Freude als die Schadenfreude", so der Volksmund. Opfer dieser bösartigen Einstellung ist in Jean Philipp Rameaus Ballettoper „Platée" die hässliche Sumpfnymphe gleichen Namens, die sich Liebe und Verständnis ersehnt, zum Spielball einer Intrige der olympischen Götter wird und einsam und verspottet zurückbleibt. Es geht darum, der Göttermutter Juno zu beweisen, dass das Ausmaß der amourösen Eskapaden ihres Gatten Jupiter zu hoch bewertet wird. Man einigt sich im Götterhimmel, Jupiter zum Schein mit Platée zu vermählen. Angesichts der Hässlichkeit der „Erwählten" soll Junos Zorn über den untreuen Gatten besänftigt werden. John Dew hat sich der nicht leichten Aufgabe unterzogen, diese Opernposse zur Eröffnung der neuen Spielzeit im Großen Haus des Staatstheaters Wiesbaden in die Sprache unserer Zeit zu übertragen. Mit Allongeperücke, Reifrock und gespreizter Gebärde hatte er nichts im Sinn. Vor den Augen der begeisterten Zuschauer entwickelte er viel mehr im praktikablen und farbigen Bühnenbild von Heinz Balthes mit einer Menge köstlicher Einfälle in überzeugender Personenführung ein hinreißendes Spektakel – übrigens eindeutig am Genius loci orientiert, denn bereits im Prolog wird man in karnevalistische Stimmung versetzt. Der mit Narrenkappen geschmückte Elferrat schickt die „vermittelnden" Götter Momus, Mercure und König Cithéron zu Platée, die verständlicherweise entzückt ist, vom Göttervater persönlich begehrt zu werden. Herrlich die Kostüme von José Manuel Vazquez: Im Gefolge der Platée tummeln sich Frösche, Schildkröten und allerlei phantastisches Getier auf der Szene. Das Auge hat viel zu sehen, auch das Ohr wird vorzüglich bedient. Am Pult des Staatsorchesters stand mit Sébastian Rouland ein Experte für Barockmusik, der dem Geschehen mit seinen vielen überraschenden Wendungen nervig und äußerst sensibel ausgezeichnete Kontur verlieh. Erstaunlich der seidige und lockere Klang der Streicher, die Präsenz der Bläser; ein Sonderlob den Instrumentalisten des Basso Continuo (Stephan Breith, Cello und Yvon Repérant, Cembalo). Im Mittelpunkt des mit Ovationen bedachten Abends stand Gilles Ragon in der höchst anspruchsvollen Titelpartie: stimmlich und schauspielerisch in Hochform, bewundernswert die Leichtigkeit, mit der er die vertrackten Verzierungen meisterte. Annette Luig als Thalie und La Folie mit beachtlich sicherer „Höhenwanderung", Thora Einarsdottir (Clarine), Tom Mehnert (Jupiter), Thomas de Vries (Cithéron), Florian Mock (Mercure), Sebastian Bollacher (Momus) und Gabriela Künzler (Juno) komplettierten das Ensemble exzellent. Die Chöre sangen famos, das von Antonio Gomez choreographierte Ballett wirbelte in souveräner Gewandtheit über die Bühne. Ein viel versprechender Spielzeitauftakt. Weitere Aufführungen: 13. + 26. September, 15. Oktober. Karten: Tel. (0611)132325 |
10. September 2002 John Dews Inszenierung von Rameaus Ballettoper „Platée" eröffnete die Staatstheater-Saison Von Kurier-Redakteur Die ungeheure Wirkungsmacht des Barocktheaters mit seiner hoch entwickelten Maschinerie kann man sich in der Bilderflut des digitalen Zeitalters wohl kaum noch vorstellen. Vielleicht muss man als Regisseur ganz bewusst (auch) eine infantile Ebene ansprechen, um etwas vom Staunen jener Epoche zu vermitteln. Im Stadium großäugiger Regression kann man sich dann, wie jetzt in der Premiere von Jean-Philippe Rameaus Ballettoper „Platée" am Staatstheater Wiesbaden, sogar über ein Frosch-Ballett, das Ringelreihen pummeliger Riesenbabys oder eine Schildkröten-Choreografie amüsieren, über teils skurrile Kreationen des Gast-Choreografen Antonio Gomes, der in dieser musiktheatralischen Mischform einer bestens aufgelegten Compagnie auch allerlei Akrobatik abverlangt. Die am Schluss enthusiastisch gefeierte Premiere, mit der im Großen Haus die erste Saison des neuen Intendanten Manfred Beilharz eröffnet wurde, zeigte aber auch, dass ein solcher „Rückweg" ein wenig Zeit braucht: Noch leicht irritiert sieht sich Wiesbadens Publikum im Prolog des „Ballet-bouffon" mit einer bonbonbonfarbenen Karnevals-Prunksitzung konfrontiert und taut erst auf, als ein ganz offensichtlich männliches Funkenmariechen die Tanzbeine gen Himmel schwingt, bald auch eine singende Dame auf die Bühne marschiert, die ebenso offensichtlich ein Herr im Vollbesitz seiner Tenorstimme ist. Bei ihm/ihr handelt es sich um jene Zentralgestalt, die Rameaus Opus den Titel gibt: Die Sumpfnymphe Platée, mit der sich das mythologische Personal um Götterchef Jupiter ein grausames Späßchen leistet. Zum Schein soll Jupiter sich in die alte, hässliche Nymphe verlieben, um seine Gattin Juno von ihrer krankhaften Eifersucht zu kurieren. Gemeines Lachen über Platées Unglück steht am Ende. Die göttliche Spaßgesellschaft hat wieder ein Opfer. Ein mythologisch gefüllter Käfig voller Narren in Kreischfarben, verkehrte Welt des Karnevals: Wo bleibt die Würde des Hauses? Kann das gut gehen zum Auftakt einer Intendanz? Es geht gut, weil dieser Musiktheater-Spaß von sehr gründlichen Bemühungen der Sparten zeugt und natürlich nicht nur die infantile Rezeptionsebene anspricht: John Dews Witz hat einen doppelten Boden und seine Wurzeln im gründlich parodistischen Charakter dieser Ballettoper, die in Versailles anlässlich der Vermählung des Dauphins Ludwig mit Spaniens Infantin uraufgeführt wurde und sich musikalisch als Karikatur der Tragédie dechiffrieren lässt. Dew, der einst durch seine Bielefelder Arbeit berühmt gewordene Opern-Archäologe, aktualisiert dabei bestimmt nicht den Buchstaben, aber den Geist dieser Barockoper und lässt im Pakt mit Bühnenbildner Heinz Balthes und dem nicht minder einfallsreichen Kostümschöpfer José-Manuel Vazquez Wiesbadens Theater-Maschinerie auf Hochtouren laufen. Der flotte Merkur zum Beispiel schwebt pfeilschnell mit „Olympic Airways" ein, Jupiter erscheint bald als Plüschesel, bald als flügelschlagende Eule hinter barocken Bilderbuch-Wölkchen. Solch holder Tand passt irgendwie herrlich in den pseudobarocken Stuckrahmen, den das Große Haus bietet. Vor allem, wenn der Göttervater dann noch den würdevollen Gipsdamen über den Proszeniumslogen an die Wäsche geht... Für das durch und durch seriöse Fundament des virtuosen Spaßes sorgt der junge Dirigent Sébastien Rouland auf der Basis der kritischen Neuausgabe des Werkes. Rouland war Assistent von Marc Minkowski, der 1988 eine sehr lebendige „Platée" mit den Musiciens du Louvre eingespielt hat. Dass man nicht unbedingt ein Spezialensemble mit historischem Instrumentarium braucht, um das gut zweieinhalb Jahrhunderte alte Werk zum Leben zu erwecken, beweist das Staatsorchester unter Roulands temperamentvoller Leitung: Dynamische und agogische Kontraste und filigrane Verzierungen auf kleinstem Raum verlangen Präzisionsarbeit, die auch im von Thomas Lang einstudierten Chor weitgehend gewährleistet ist und den Abend zu einem akustischen Vergnügen zwischen scharf gezeichnetem Ouvertüren-Rhythmus, Ballett-Einlagen und einer köstlichen „Musique concrète" aus Froschkonzert und Sturmmusik werden lässt. Auf Minkowskis Einspielung ist in der Titelpartie auch Gilles Ragon verewigt, der nun einen enormen Anteil am Gelingen des Wiesbadener Projekts hat: Ein unglaublich flexibler Tenor von umwerfend komödiantischem Talent, bis er nach der brutalen Desillusion auch stimmlich die Maske fallen lässt. Brillant im Spiel wie in den Koloraturen Annette Luigs Narrheit, herrlich hysterisch Gabriela Künzlers Junon, vokal potent Tom Mehnerts Jupiter; und unter den Narrenkappen bemühen sich Thomas de Vries (Cithéron) und Florian Mock (Mercure) um Rameaus Nymphe. Erheblich wandelt sich Thora Einarsdottir vom Prolog zur Haupthandlung: Aus der neckischen Personifikation der Liebe wird eine graue, bebrillte Maus, die sozusagen als nüchterner Kontrapunkt das tolle Treiben begleitet. Jahre nach Wiesbadens Händel-Bemühungen im Kleinen Haus also wieder ein Beweis dafür, dass man sich auch in Zeiten höheren historischen Bewusstseins der Barockoper mit den Möglichkeiten des Staatstheaters nähern kann. Und akustisch wie ästhetisch ist das Große Haus eigentlich für die Barockoper prädestiniert: Man wünscht dort Jean-Philippe Rameaus prächtiger „Platée" ein mindestens so zahlreiches Publikum wie sonst Puccini, Wagner & Co. Sie hat es verdient. Man kommt aus dem Staunen nicht heraus. |
Furiose Szenen aus göttlichem Narrhalla Von AXEL ZIBULSKI Ist rechts des Rheins denn auch noch Mainz? Wenn sich der Vorhang im Staatstheater Wiesbaden hebt, wähnt man sich fast in der alljährlichen Fernsehsitzung: Da klatschen hinter der Bütt holde Närrinnen und Narrhallesen weinselig im Takt - aber das zur barocken Opernmusik von Jean Philippe Rameau. Genauer: zum Prolog seines "Ballett-Bouffons" mit Namen "Platée", das nun die erste Spielzeit unter dem neuen Intendanten Manfred Beilharz eröffnete. Der kommt, wie passend, aus Bonn, wo man den Jahreszeiten ja auch eine fünfte hinzuzählt. Doch das Fastnachtsbild bedeutet mehr als eine Breitseite gegen die linksrheinische Nachbarstadt. Schließlich geht der Prolog einem Geschehen voraus, in dem man - in diesem Fall die römischen Götter - mal so richtig über die Stränge schlagen darf. Jupiter gaukelt der alten, aber lüsternen Sumpfnymphe Platée vor, dass er sie heiraten wolle. Gattin Juno reagiert natürlich mit dem Furor der Eifersucht, während sich die anderen Götter köstlich amüsieren, wenn Platée zum Schluss als das von allen an der Nase herumgeführte Objekt des Spottes dasteht. Allen Grund sich zu amüsieren hat auch das Wiesbadener Publikum: Regisseur John Dew lässt den Dreiakter zu einem furiosen, kunterbunten Spektakel werden. Ob der Götterbote Merkur mit "Olympic Air" einfliegt, ob Jupiter aus einer Seitenloge die holden Figuren im Wiesbadener Theaterraum betatscht, oder ob geflügelte Wesen auf Roller-Blades durch das Bühnenbild (Heinz Balthes) fegen: Stillstand vermisst man in Dews Inszenierung ebenso wenig wie abgedroschene Theater-Gags. Am gleichen Strang zieht auch Choreograf Antonio Gomes, der die Mitglieder des Corps de Ballett mal als speckige Riesen-Babys, mal als drolliges Sumpfgetier auf die Bühne schickt. Denn das Besondere an Rameaus Werk ist die Durchkreuzung von Ballett und Oper - komponiert zum Gefallen der Gesellschaft in Versailles, wo "Platée" 1745 uraufgeführt wurde. Die Komik steckt schon in der Partitur; so muss die alte Nymphe von einem Tenor gesungen werden. In Wiesbaden ist das der vokal wie darstellerisch ungemein bewegliche Gilles Ragon, der die Titelpartie zwar herrlich affektiert, aber nie lächerlich zeichnet. Um ihn herum fügen sich die anderen Solisten perfekt ein. Zu nennen sind vor allem der sonor-schlanke Jupiter von Tom Mehnert und die kraftvoll auftrumpfende Juno der Gabriele Künzler. Zwar sind nicht alle Solisten auch Barock-Spezialisten, doch zeigt sich, dass es eine richtige Entscheidung war, für die musikalische Leitung Sébastian Rouland zu verpflichten. Der junge Experte in Sachen Alter Musik konnte gerade dem überraschend stilsicher aufspielenden Hessischen Staatsorchester den richtigen Rameau-Tonfall vermitteln. |
Wiesbaden: In Rameaus „Platée" lässt John Dew Schildkröten und Müllmänner tanzen Narrhalla in der Oper Von Siegfried Kienzle WIESBADEN. Schon jetzt bricht der Karneval aus in Wiesbaden und eröffnet die neue Intendanten-Ära von Manfred Beilharz. Im antiken Götterhimmel hängt der Fastnachtsorden vom Bühnenboden, die Bütt leuchtet mit Eulenaugen, der Chor trägt Narrenkappen, schwingt das Weinglas und thront auf den Tribünen, wie man sie kennt von den Sitzungen der Komitees. Die barocke Ballett-Oper „Platée" von Jean-Philippe Rameau (1683–1764) zeigt der Regisseur John Dew als Narren-Gaudi. Dew, dem früher aufregende Opern-Ausgrabungen von Meyerbeer und Halevy geglückt sind, setzt diesmal auf einen einzigen, etwas mageren Einfall: die Narrenzunft ausgerechnet im rheinischen Ballungsraum des fastnächtlichen Frohsinns durch den Kakao zu ziehen. In den ersten Szenen ist das frech und lustig anzusehen, wenn das Ballett die Amateur-Tanzgruppen der Karnevalsvereine nachäfft. Da eine Steigerung ausbleibt, hat sich das Konzept bald verbraucht. Die zahlreichen Tänze geraten in der Choreografie von Antonio Gomes arg langwierig: Mal drehen sich Frösche und Schildkröten, dann schwenken Müllmänner ihre Besen, hüpfen ausgestopfte Babys in Windeln daher, schwenken Disco-Boys die Hüften. Pfiffiger Höhepunkt wird die Sturmszene, wenn die Tänzer als geflügelte Skater über die Bühne fegen. Platée ist eine hässliche Sumpfnymphe, die sich an jeden Mann liebestoll heranpirscht. Jupiter umgaukelt die Matrone als balzender Herzensbrecher und lässt eine Trauung arrangieren, um seiner eifersüchtigen Ehefrau Juno zu beweisen: wenn ihre Rivalinnen derart abstoßend sind, ist ihr Argwohn auf seine Treue unbegründet. Das ist ein grausames Spiel mit den Hoffnungen und Sehnsüchten einer alternden Frau. Der französische Tenor Gilles Ragon hat die Titelrolle bereits 1988 in der CD-Einspielung unter Marc Minkowski eindrucksvoll gestaltet. Er verzichtet darauf, die Nymphe als abschreckendes Monstrum zu zeigen. Platée trippelt blondtoupiert und mit Juwelen behängt als molliges Luxusweibchen daher, will der Einsamkeit entfliehen, giert nach Zärtlichkeit. Meisterhaft charakterisiert Ragon die schmachtenden Vokalisen, das Staccato-Froschquaken, die eruptiven Hass-Koloraturen, als die Nymphe zuletzt enttäuscht und verhöhnt dasteht. Jupiter ist bei Tom Mehnert ein windiger Latin-Lover, der im Straßenkreuzer vorfährt. Gabriela Künzlers Juno verwandelt sich von der Salondame rasch in die undamenhaft prügelnde Furie, die dem ungetreuen Ehemann nachsetzt. Der junge Dirigent Sébastien Rouland spielt von der Ouvertüre an mit den parodistischen und lautmalerischen Effekten und verhilft Rameaus gravitätischer Musik zur Leichtigkeit einer Offenbachschen Bouffonerie. Nächste Aufführungen am 13. und 26. September. |