Frankfurter Rundschau
15.07.2002

Einer flog über den Serail
Bei der Kammeroper Frankfurt geben im Palmengarten einige Verrückte Mozarts Singspiel als Stück aus dem Tollhaus

Von Stefan Schickhaus

Auch das wäre ein denkbarer Regieansatz gewesen: Belmonte kommt, um seine Freunde aus einem Irrenhaus zu befreien. Der Serail ein Irrenhaus, gut bewacht vom Aufseher Osmin: Ja, so hätte man Mozarts Singspiel Die Entführung aus dem Serail durchaus inszenieren können, an einem mittleren Stadttheater vielleicht.

Doch für eine Truppe wie die Kammeroper Frankfurt ist das längst nicht irre genug. Regisseur Rainer Pudenz geht noch einen konsequenten Schritt weiter und sagt: Alle, ausnahmslos alle Mozart-Akteure sind Eingewiesene, alles findet in der geschlossenen Abteilung statt. Keiner kommt, um jemanden zu retten, niemand schmiedet Fluchtpläne - alles nur Rollenspiele in einer großen Gummizelle.

Vielleicht stellt die große, in 36 Planquadrate unterteilte Kulissenwand in der Orchestermuschel des Palmengartens ja eine solche Gummizellenstruktur dar. Geziert sind die Segmente jedenfalls sorgfältig mit Andy Warhol-artig aufbereiteten Camel-Dromedaren. Doch so genau muss man das ja alles nicht wissen, denn wer möchte, kann die Herren in den weißen Westen auch ausblenden. Sie tauchen ohnehin auf der Bühne nur ganz am Anfang und im Finale wieder auf, wenn sie ihre Patienten sedieren, um das Chaos einigermaßen in den Griff zu bekommen.

Die Entführung aus dem Serail funktioniert so oder so, verrückt oder ernst genommen, und dass an ganz normale Zimmerwände Leitern angelegt werden, um dahinter eingesperrte Liebste zu befreien (die dann doch durch ganz normale Türen kommen), kann man täglich auch im vernünftigen Stadttheater erleben. Oder eben jetzt noch sechzehn Mal unter freiem Himmel bei der aktuellen Sommerproduktion der Kammeroper.

Mit Mozart lösen sich Rainer Pudenz und sein Opernteam von der Regelmäßigkeit der vergangenen Jahre, eine Buffa-Oper von Rossini zu inszenieren. Die Entführung nun ist ein "Singspiel", und auf die Zwischendialoge wird entsprechend viel Wert gelegt. Und eben darauf, dass die Mozart-Sänger auch entsprechend wirksame Schauspieler sind. So wie Girard Rhoden (Belmonte) aus Chicago, der viel von Eddie Murphy hat, sein schnelles Mundwerk vor allem und seinen Hüftschwung.

Rhoden ist zudem ein gut klingender Tenor im lyrischen Fach, wenn auch in der Höhe nicht so stabil wie der langjährige Kammeroper-Tenor Peer Martin Sturm (Pedrillo); dieser und der noch langjährigere Bariton Bernd Kaiser (Osmin) sichern der Kammeroper-Inszenierung das sängerische Niveau, und sie mussten hier diesmal gewisse Lücken abfedern.

Zwei, die nicht zu singen brauchen, machen ihre Sache besonders gut: Markus Neumeyer am Pult des Kammeroper-Orchesters (auch er wahnsinnig) und der Schauspieler Helmut Buchholz, der sonderbar gut den Bassa Selim gibt. Er ist kein Grundgütiger, nicht der edle Wilde der landläufigen "Entführung"-Lesarten. Vielmehr ist er der Irrste unter den Irren, der so sehr in seinem Part aufgeht, dass er all die Gedankenstriche und Ausrufezeichen des Librettos mitspricht. Demnächst hält er sich vielleicht mal für Uwe Ochsenknecht, man würde es ihm alleine schon optisch gut abnehmen.

Sie spielen eben alle nur eine Rolle, pedantisch und wahnwitzig inspiriert, glaubhaft, weil sie selbst daran glauben, und jeder seinem Naturell entsprechend. Andere Tollhäuser mögen sich mit ein, zwei Napoleons begnügen; das im Palmengarten verfügt über eine ganze Opernbelegschaft.

Die Entführung aus dem Serail: Bis zum 4. August täglich außer Montag und Donnerstag um 20 Uhr im Palmengarten. Bei Regen findet die Aufführung konzertant statt, Regenkleidung ist zu empfehlen. Vorverkauf bei Frankfurt Ticket unter 069/1340400.

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Dokument erstellt am 14.07.2002 um 21:07:20 Uhr
Erscheinungsdatum 15.07.2002

 

Frankfurter Neue Presse
15 Juli 2002

Die Kammeroper Frankfurt widmet sich in ihrer neuesten Inszenierung Mozarts "Entführung aus dem Serail".
Kamele aus dem Orient zahlen mit dem Euro

Von Matthias Gerhart

Die Nerven liegen blank im Palast des Bassa Selim, tief im Orient. Doch Regisseur Rainer Pudenz hat vorgebaut. Dreht einer der Akteure durch, kommen sofort die freundlichen Helfer im grünen Kittel angerannt. Die Oper ist eben ein Irrenhaus, nicht nur im sommerlichen Palmengarten, der auch dieses Jahr der Kammeroper als Spielstätte dient.

Die verrückte Geschichte von der entführten Konstanze und ihren Befreiern ist gerade das Richtige für die Mannschaft der Kammeroper. Man muss sich sogar die Frage stellen, wie es Regisseur Pudenz all die Jahre ausgehalten hat, ohne diese dankbare Handlung szenisch bearbeiten zu dürfen. Nun hat er für sein Publikum wieder Schabernack und Slapsticks parat; die frisch verhafteten Befreier, die sich bei ihrem Peiniger Osmin mit einem "Starter-Kit" voller Euromünzen freikaufen wollen, waren da noch nicht einmal der zündendste Einfall. Auch die Bewegungsabläufe der Darsteller, allen voran die quirlige Blonde (Christine Graham) waren wieder ganz Marke Kammeroper, mit den schrillen Entwürfen der Kostümbildnerin Margarete Berghoff. Der größte Glücksgriff aber war die Besetzung der Hauptrolle des Belmonte mit Girard Rhoden, einem Temperamentsbündel, wie es wohl nicht nur der etwas träge wirkenden Konstanze gefiel. Bei all dem blieb aber die auf der Bühne mittels einer Tafel mit Höckertieren ständig präsente Frage offen: Wer ist nun das größte Kamel? Man könnte auf den betont einfältig scheinenden Bassa Selim (Helmut Buchholz) kommen, doch der gute Kerl entlässt am Ende alle in die Freiheit. Oder ist es der in seinem Übereifer aufgehende Hausmeister Osmin? Bernd Kaiser fühlt sich in solchen Rollen erfahrungsgemäß sehr wohl und machte auch diesmal wieder einen rundum zufriedenen Eindruck.

Dirigent Markus Neumeyer griff mehrfach in die Szenerie mit ein, bewährte sich im übrigen aber als kühler musikalischer Kopf des aufmerksam musizierenden Orchesters. Bei den sängerischen Leistungen gab es am ehesten noch an Alexandra Voigt in der Partie der Konstanze etwas auszusetzen. Ihre Koloraturen ließen zu wünschen übrig, und ihre Technik blieben nicht ohne Makel.

Ansonsten aber konnte sich das Publikum ungebremst vergnügen.

 

Allgemeine Zeitung
15.07.2002

Die Frankfurter Kammeroper im Palmengarten mit Mozarts „Entführung aus dem Serail"
Bassa Selim und der Chor der Irrenärzte

Ge. – Wenn die Städtischen Bühnen in Frankfurt im Sommerschlaf versunken sind, schlägt die Stunde der kleinen Ensembles. Die Frankfurter Kammeroper entzückt seit vielen Jahren ihre Fans mit aufgewecktem Musiktheater in der Freiluft-Atmosphäre des Palmengartens. Diesmal hatte sich Rainer Pudenz, künstlerischer Leiter und „Hausregisseur", wieder einmal des stets gefragten Wolfgang Amadeus Mozart angenommen.

Die verrückte Handlung der „Entführung aus dem Serail" schreit geradezu nach den schrillen Regieeinfällen des erprobten Theatermannes. Da wird die ganze Bühne kurzfristig zum Irrenhaus umgestaltet. Dreht gerade wieder mal jemand durch – und die Nerven liegen ja wahrlich blank in Bassa Selims Behausung - , sind gleich die Herren im grünen Kittel zur Stelle. Eine raffinierte Rolle für den Opernchor: der Chor der Irrenärzte.

Ansonsten bleibt die Bühne unter der Konzertmuschel weitgehend frei. Dies liegt nicht so sehr an dem überaus spartanischen Regiestil von Pudenz, als vielmehr an dem zumindest theoretisch möglichen Regen, der das ansonsten im Freien musizierende Orchester unter die Kuppel zwingen würde. Dafür sind aber die Kostüme in Margarete Berghoffs bewährter Manier aufreizend und keck; bei einer Darstellerin wie der Blonde ein ganz besonders wichtiges Detail.

Hatte man am Premierenabend mit Wetter und szenischer Darstellung einigermaßen Glück, mußten sich die Solisten manchen Tadel gefallen lassen. Besonders Alexandra Voigt in der Rolle der entführten Konstanze schien der anspruchsvollen Rolle nicht gewachsen. Sie verstolperte Einsätze und wirkte in den Arien wenig gefühlvoll. Als Belmonte konnte dagegen der dunkelhäutige Muskelmann Girard Rhoden überzeugen. Auch der am Ende reichlich gehörnte Aufseher Osmin fand in Bernd Kaiser einen würdigen Darsteller. Schließlich steht er am Ende als einziger Verlierer im Mittelpunkt. Er ist in dieser orientalischen Welt das Kamel, während der Bassa Selim, dessen Sprechrolle Helmut Buchholz in betont einfältiger Weise gestaltete, die Symphatien des Publikums genießt.

Die Entführten sind frei, die Liebeleien können beginnen. Und der Opernsommer im Palmengarten auch.

Nächste Auff. 16., 17. und 19. Juli; Karten 069/1340400

 

Main Echo
16.7.2002

Hessischer Zungenschlag

»Die Entführung aus dem Serail« in Frankfurt

Piccoloflöte, große Trommel, Triangel. Was da schellt und schallt, sind die Janitscharen. So stellte sich der Wiener von 1782 die Musik in der Türkei vor und auch 220 Jahre nach der Uraufführung steht Mozarts »Entführung aus dem Serail« in enger Verbindung mit Schleiern, Pluderhosen und Turbanen. Die Kammeroper Frankfurt hat den Orient auf ein Kamel reduziert. Im Hintergrund der Bühne von Joao Malheiro hängen sechs mal sechs bunte Bilder von Kamelen. Auch die Sänger verwandeln sich mit gebeugtem Rücken und der Hand an der Stirn immer wieder zu Kamelen, der Tarnung wegen. Die ist notwendig, da Belmonte und sein Diener Pedrillo ihre beiden Freundinnen Konstanze und Blondchen aus dem Serail des Bassa Selim befreien wollen.

Mozarts 13. Bühnenwerk war das zu seinen Lebzeiten erfolgreichste. Obwohl es der Gattung nach ein deutsches Singspiel ist, besitzt es noch viele Elemente der italienischen Oper. Neben die fröhlichen Streitereien und die operettenhafte Leichtigkeit des Sujets packte Mozart die große Liebe von Belmonte und Konstanze, die sich auch in Augenblicken größter Gefahr bewährt. Im Palmengarten Frankfurt setzt der Regisseur Rainer Pudenz deutlich auf die fröhlichen Aspekte der »Entführung aus dem Serail« und löst die gebräuchliche Interpretation als multikulturelle Verständigungsmär auf.

Charme eines Büttenredners

Osmin, der knurrige Diener des Herrschers Bassa Selim, pflückt keine Feigen für seinen Herrn, nein, er spielt Golf. Glücklicherweise mit weichen Schaumstoffbällen, denn Bernd Kaiser trifft nicht mit jedem Schlag sein Ziel. Seine Rolle des Osmin ist eine der schwierigsten Basspartien der Opernliteratur und Bernd Kaiser übersteht sie dank kleinerer Bearbeitungen recht gut. Bassa Selim, der Herrscher, singt zwar nicht, dafür trifft er mit seinem edlen Herzen die Entscheidung, den Gefangenen die Freiheit zu geben. Helmut Buchholz spielt die Rolle mit eindeutig hessischem Zungenschlag. Seine Auftritte absolviert er mit dem Charme eines Büttenredners. Nein, türkisch wirkt keiner der beiden Orientalen, doch dafür zeigen sich hinter den Klischees spaßige Individuen. Wenn die Türken nicht türkisch sind, braucht auch Belmonte nicht dem gängigen Bild des Mitteleuropäers zu entsprechen. Girard Rhoden, der Amerikaner, ist schwarz, hat eine facettenreiche Tenorstimme und den Swing im Leib. Seine Konstanze (Alexandra Voigt) sieht mit ihrer flammend roten Lockenpracht wie eine irische Schönheit aus. Es gelingt ihr nicht im gleichen Maß wie Girard Rhoden, die Ernsthaftigkeit ihrer Rolle aufzulockern. Ihre Stimme, in der Mittellage noch voll und kräftig, wird in der Höhe schmerzhaft schrill. Die Koloraturen der ersten Arie ließen Schlimmes fürchten, doch die weiteren Arien überstand sie weitaus besser.

Coole Punkerin als Blondchen

Ihre Dienerin Blondchen (Christine Graham) ist kein Seelchen wie ihre Herrin, sie ist eine coole Punkerin und lässt sich weder von Osmin noch von ihrem Freund Pedrillo (Peer Martin Sturm) den Schneid abkaufen. In der Inszenierung von Rainer Pudenz darf auch einer, der sonst schweigen muss, verbalen Kontakt zum Publikum aufnehmen: Markus Neumeyer, der musikalische Leiter, zeigt mit Stolz auf die Partitur: »Mozart und ich« und trinkt einen Schluck Rotwein aus dem Glas eines Zuschauers, weil ein Sänger nicht auf sein Stichwort reagiert. Jenseits der Späße ist bemerkenswert, dass er ein ausgezeichneter Sänger-Dirigent ist und ihm eine feine Balance zwischen dem Orchester und den Sängern gelingt.

Er dirigiert seinen Mozart ebenso frisch, wie Pudenz die Oper inszeniert. Die Kammeroper zeigt eine ungewöhnliche »Entführung aus dem Serail«, die ohne orientalische Folklore auskommt und gehörig viel Spaß macht. Zum Schlusschor ziehen Krankenpfleger die Helden von der Bühne. Ist das eine Warnung für diejenigen, die an dem Versuch, die Metapher hinter dem hessischen Bassa Selim zu entschlüsseln, ihren Verstand verlieren werden?

Ulrike Krickau