Frankfurter Allgemeine Zeitung
05.11.2002 - Feuilleton, Nr. 257, S. 40

Ist Erziehung sinnlos?
Keine Drehung zuviel: Christian Pade inszeniert
Benjamin Brittens "The Turn of the Screw" in Frankfurt

Von Ellen Kohlhaas

Die Zerrüttung jugendlicher Unschuld in unwirtlicher Umwelt ist in Franz Schuberts "Fierrabras" und Benjamin Brittens "The Turn of the Screw" thematisiert - ein dunkler, hintergründiger Akkord zum Beginn von Bernd Loebes Frankfurter Opernintendanz. In Brittens Kammeroper drehen zwei Wiedergänger, ehemalige Angestellte im Landsitz von Bly im südostenglischen Essex, und die erotisch verklemmte Erzieherin der Kinder Miles und Flora an einer Psychoschraube, die der Ausstatter Alexander Lintl als riesiges Kreiselsystem rotieren läßt: Auf Drehbühnen bewegen sich zwei abstrakte Architekturelemente, eine Lamellenwand und eine Mauer aus Glasbausteinen, wie ein Gewinde ohne Ausweg in- und umeinander. Sie fügen sich zu Labyrinthen, bergen Geisterschatten und - erscheinungen, führen in hellerleuchtete Kirchen und blutrotes Totenreich, in das der untote Diener Peter Quint sein Opfer Miles entführt.

In dieses "sprechende" Bühnenbild, das in seiner kalten Kantigkeit von vornherein jedes Behagen ausschließt und Sinnlich-Übersinnliches ineinanderschwimmen läßt, hat Christian Pade eine Kinderwelt hineininszeniert, in der die Unschuld wie in leichtem Dreh(bühnen)schwindel von Anfang an unterhöhlt ist, von den kleinen Waisen raffiniert als Täuschungsmanöver inszeniert wird. Vordergründig singen sie artig Volkslieder. Doch ihre Spiele dazu deuten auf spätere, immer aggressivere Schraubendrehungen voraus, nehmen die fatale letzte Wendung vorweg, als Miles im Tod sich aus der Klemme zwischen den Besitzansprüchen von Geist und Gouvernante befreit. Spielerisch fesselt und erdolcht Flora den Bruder, zelebrieren beide auf dem Kirchhof zwischen magisch hochklappenden Grabsteinen ein zwielichtiges Totenritual.

Die Geister, real und irreal zugleich, betören die Kinder mit geheimnisvollen Verheißungen. Peter Quint verwandelt Miles mit Kleid und Perücke in ein Mädchen, hängt ihm ein Amulett um, vogel- wie penisförmig - vielleicht eine Deutungswindung zuviel. Miss Jessel, Vorgängerin der aktuellen Erzieherin, entsteigt blutend einem schwarzen Spiegelsee, bannt Flora in Sehnsuchtsgebärde, besetzt unheimlich die Schulstube. Im Kampf um die Kinder wird die Gouvernante zu Rivalin und Verbündeter der Geister, droht sich wie ihre Schutzbefohlenen selbst zu verlieren, zerreibt sich zwischen Standhaftigkeit und Verfolgungswahn, triebhafter Erregung und Helfersyndrom. Womöglich überträgt die Erzieherin ihre puritanisch unterdrückten Triebe auf ihre Schutzbefohlenen, initiiert sie den Spuk? Pade deutet dies an im schönen nackten Jüngling, der in der Ankunftsszene in Bly unter ihren Röcken verschwindet, sie zum Schreiben ihres Briefs an den fernen, vielleicht heimlich geliebten Londoner Arbeitgeber ermuntert, am Ende statt des von Quint entführten Miles der Entnervten zu Füßen liegt, während sie dem geliebten Kind dessen Lieblingslied "Malo" als Requiem nachruft.

Die Suggestionskraft der Regie, würdiges Gegenstück zu David Mouchtar- Samorais Frankfurter Inszenierung von Brittens "Peter Grimes", wurde von den Sängerdarstellern und dreizehn Mitgliedern des Frankfurter Museumsorchesters mit Karen Kamensek am Pult wesentlich mitgetragen. Fesselnd oszillierte Miah Perssons Gouvernante im Timbre zwischen Sanftmut und Metall. Suzanne Murphy setzte ihr als Haushälterin Mrs. Grose den gesunden Menschenverstand entgegen. Überzeugend auch die eher plastisch-diesseitigen Spukgestalten von Monika Krause und Lars Erik Jonsson, identisch mit dem Prolog-Erzähler. Der Calwer Aurelius- Sängerknabe Jonathan Walz und Emma Gardner charakterisierten klarstimmig und ausgeklügelt das Widerspiel von Unschuldsfassade und Verführung. Das Kammerorchester, das auf der Bühne in den enthusiastischen Beifall einbezogen war, drehte tüchtig mit am Schraubensog der sechzehn Szenen und fünfzehn Variationszwischenspiele über das zwölftönige Initialthema. Die Verletzlichkeit, Scheinhaftigkeit des Schönen, von Britten in klangtechnisch oder bitonal "angeschmutzte" Harmonien übersetzt, drangen genügend enervierend-leise, wenn auch manchmal eine Spur zu wenig atmosphärisch verführerisch aus dem Graben - die vieldeutig schillernde Partitur, Pendant zu den Rätseln der Einkreisungsmanöver, enthüllte diesmal noch nicht sämtliche Facetten. Doch keineswegs ist der fesselnde Anteil der Museumsmusiker am Sog dieser Vertreibung aus dem Kinderparadies zu unterschätzen: Die Töne-Schraube schien sich über den Zusammenbruch der völlig isolierten Gouvernante, von allen guten und bösen Geistern verlassen, bis ins Unendliche weiterzudrehen.

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Frankfurter Rundschau
05.11.2002

Sanfter Schrecken
Zweite Premiere der neuen Frankfurter Opernära:
Benjamin Brittens "The Turn of the Screw"

Von Hans-Klaus Jungheinrich

Ein Opernbeginn als improvisiert-rezitativisches Klaviersolo im Höhere-Töchter-Stil, das ist entweder der Gipfel der Fadheit oder besondere Finesse. Benjamin Britten wusste, dass ein crescendo gewöhnlich piano zu beginnen hat und das wirkungsvolle Anziehen einer Schraube in einiger Lockerheit. Wenn die Oper The Turn of the Screw heißt, vermutet man zu Recht einen crescendo-Gang hin zu höchster Angespanntheit. Dass diese in einer Katastrophe endet, ist dem Kenner der Britten-Oper und der ihr zugrunde liegenden (zur Weltliteratur gehörenden) gleichnamigen Erzählung von Henry James bekannt. Zwei Geister bedrängen die Kinder Flora und Miles; das Mädchen wird im letzten Moment gerettet; der Junge stirbt. Die Gouvernante, dem Anschein nach eine ganz normale, durchschnittliche Person, wird nach und nach in diesen Teufelskreis hineingezogen. Anfangs ihre Freude an dem neuen Erzieherinnenjob in allerdings etwas exzentrischer Situation als allein für die Kinder Verantwortliche in einem Landhaus, das einem abwesenden Auftraggeber und Vormund gehört, der, wie ein deus absconditus, sich nicht sprechen und anschreiben lässt. Am Ende ihre Niederlage im Kampf um die Seelen und Körper der ihr Anvertrauten; Miles wird vom fatalen Untoten Quint zur Strecke gebracht und (in Christian Pades Frankfurter Inszenierung) als Beute in einen feuerrot gleißenden stilisierten Höllenrachen davongetragen. Aber sind die Kinder ihr nicht schon von vornherein entzogen, prädestiniert als Opfer geheimnisvoller Machenschaften und Verlockungen, hinter deren poetisierenden Umschreibungen (in Myfanwy Pipers Libretto) sich unschwer päderastische Anmutungen offenbaren?

Allmählich kommt die Gouvernante dahinter, wie verderbt, verhext die Kinderspiele und -gespräche sind, kontaminiert von verbotenen sexuellen Kräften, als deren Manipulateure die gespenstischen Unpersonen Quint und Miss Jessel (die frühere Gouvernante) sichtbar werden und immer furchterregender in die Handlung eingreifen. Das Raffinement einer perfekten Spukgeschichte mit psychologischem Spielmaterial verbleibt indes auch im Unentschiedenen, Mehrdeutigen. Möglich, dass sich die puritanisch verklemmte Gouvernante das Ganze nur einbildet. Dann wäre die "Drehung der Schraube" ihr unausweichliches Hineingleiten in eine paranoide Wahrnehmungsstörung und die Katastrophe ihr finaler Bruch mit der Realität. Den scheiternden Kampf zwischen Gut und Böse trüge sie dann in ihrem Inneren aus mit Personifizierungen, die die Kinder Miles und Flora ebenso zu Phantomen machten wie die vermeintlichen Geister Quint und Miss Jessel.

Der vom Schauspiel herkommende Christian Pade inszeniert die Oper als subtil gläsernes Kammerspiel, realistisch und hintergründig zugleich. Deutlich, vielleicht allzu deutlich, markiert er die innere Verstörtheit der Protagonistin, die sofort die Anonymität einer quasi objektiven Chronistin verliert: Ein nackter Jüngling kriecht unter ihren Rock und demonstriert, dass dort auch bei braven Gouvernanten nichts anderes haust als verdrängte und späterhin womöglich ins Absurde projizierte Begierde. Der Traumephebe (der Pantomine Alexander Bevc) kehrt zweimal noch bedeutsam wieder: Bei ihrem Versuch, einen Brief an die ferne Autoritätsperson zu schreiben, und am stillen Schluss, wo er sich ihr als (unerreichbare? unwirkliche?) Trostgestalt zu Füßen legt.

Die Szene verzichtet auf historisierende Anleihen an britischer Grusel-Gotik, findet mit einer drehbaren doppelten Mauerarchitektur aber eine bezwingende optische Chiffre. In eine äußere, feststehende Wand ist eine bewegliche und transparente innere eingelassen; in ihr zeichnen sich die Konturen des Gespensterpaares oftmals besonders schauerlich ab. In diesem lapidaren Bühnenraum, der mühelos die verschiedensten Schauplätze plausibel macht, verweisen die viktorianischen Kostüme (ebenfalls von Alexander Lintl) auf die Epoche, die der Geisterbeschwörungen und der moralisierenden Kämpfe zu ihrer Selbstver(un)sicherung so nachdrücklich bedurfte.

Brittens Komponierlust entzündete sich wohl vor allem an der psychologisierenden Feinmechanik des Stoffes. Atmosphärische Einzigartigkeit erreicht die Vertonung mit dem Prinzip des "sanften Schreckens". Das zunächst eher praktische Gebot, für ein Kammerorchester mit nur 13 Instrumentalisten zu schreiben, zeigt sich hier als ein Aestheticum sui generis. Die Sparsamkeit evoziert extreme tonsprachliche Verdichtung; jede Szene bekommt, oft nur mit zwei, drei Instrumenten oder einem einzigen, ihr spezifisches Kolorit, vom durchgehend unruhigen Paukenrhythmus im Anfangsbild bis zum vom Festlichen ins Unheimliche changierenden Röhrenglockengetön dicht vor der Peripetie (2. Akt).

Die behutsam eingesetzte Leitmotivik kulminiert in den schillernd einschmeichelnden Vokalisen des Quint, die der lyrische Tenor Lars Erik Jonsson (zu leise monströser Körperlichkeit gewendet) mit schmelzender Tonsubstanz vorträgt. Die Kindersphäre malt sich obenhin pausbäckig mit infantilen Melodien wie dem schmissigen "Tom, Tom, the Piper's Son" und dem verträumten "Malo", doch driftet auch das schnell ins Zweideutige, Makabre. Die Gouvernante (und der Komponist) kümmert sich auf schmalem Grat zwischen Echauffiertheit und Unerschütterlichkeit (gesanglich ungehemmt aufblühend: die Sopranistin Miah Persson) vordringlich um den kleinen Miles (als Gentleman im weißen Anzug: der sicher und kräftig intonierende Calwer Sängerknabe Jonathan Walz), und es ist (Zufall?) die nicht ganz im Zentrum ihrer Zuwendung stehende Flora (jugendlich-frisch timbriert: Emma Gardner), die von der bediensteten Mrs. Grose (mütterliche Altpartie: Susanne Murphy) ins Freie geführt wird vor den Nachstellungen der Miss Jessel (charakteristisch: Monika Krause). Den typischen musikalischen Sog bewerkstelligt die Dirigentin Karen Kamensek (designierte Generalmusikdirektorin in Freiburg) mit leichter und zugleich fester Hand.

Allen Beteiligten gelang es, das Geheimnisvolle einer Musik zu bewahren und zu illuminieren, die latente Gewalt in scheinbar gewaltlosen Gesten spürbar werden lässt. Nähe und Alltäglichkeit als Ort möglicher Verfinsterung. Eine Dimension, die diesem ingeniösen Stück zu bleibender Aktualität verhilft. Die Aufführung war der bemerkenswerte zweite Anlauf einer neuen Frankfurter Opernära.

Oper Frankfurt: 7., 9., 15., 17., 30. November.

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Copyright © Frankfurter Rundschau 2002
Dokument erstellt am 04.11.2002 um 21:09:31 Uhr
Erscheinungsdatum 05.11.2002

 

Frankfurter Neue Presse
5.11.2002

Der Kindheits-Spuk kehrt zurück
Die Kammeroper "The Turn Of The Screw" (Die Drehung der Schraube)
von Benjamin Britten hatte an der Oper Frankfurt Premiere.

Von Rudolf Jöckle

Frühere Übertragungen des Werks fanden Titel wie "Die sündigen Engel" (für die Darmstädter Erstaufführung von 1957) oder auch "Die Besessenen". Die Frankfurter beließen es beim ursprünglichen Titel, streng nach der literarischen Vorlage, der berühmten Erzählung von Henry James (1898). Die Drehung der Schraube gibt den Verweis auf das Ausweglose, das die Geschichte vorantreibt, legt sich andererseits nicht fest, wie es die alternativen Titel versuchen.

"The Turn Of The Screw", im Grunde eine raffinierte Gespenstergeschichte, verbirgt jedenfalls wie kaum eine andere Erzählung ihre Wahrheit, und ihre Mehrdeutigkeit hat längst die Literaturwissenschaft zu endloser, lustvoll betriebener Exegese verlockt. Geklärt wurde, gottlob, nichts, und die Oper hält sich daran.

Auch die Frankfurter Inszenierung von Christian Pade behauptet nichts, der Zuschauer wird nicht klüger (wenn er's überhaupt will), sondern eher trauriger. Denn Prolog und 16 Bilder entwickeln die Konsequenz des Unrettbaren: Eine Gouvernante wird in der britischen Provinz Erzieherin von Flora und Miles (der Vormund ist unnahbar fern) und muss erkennen, dass die beiden von den Geistern des Kammerdieners Quint und der Ex-Gouvernante bedrängt werden. Der Kampf um die Kinder, von der Haushälterin unterstützt, endet tödlich. Miles stirbt in den Armen der Gouvernante.

Hier weicht Pade vom Libretto etwas ab: Der tote Miles wird von Quints Geist weggetragen, der also Sieger bleibt (oder war er in Miles selbst?). Der Gouvernante erscheint dafür der schöne Nackte, der ihr schon nach dem Prolog gleichsam als Reisebegleiter unter die Röcke kroch, Darstellung wohl der Sehnsüchte, die die Pfarrerstochter beunruhigen und die sie schließlich auf den Jungen Miles projiziert, Das ist gewiss eine Möglichkeit der Deutung, die sich durchaus in ihrer ruhigen Selbstverständlichkeit als tragfähig erweist. Denn unsere Gouvernante wird hier nicht als erotisch kranke, verklemmte Hysterikerin dargestellt, sondern mehr als Frau, die nach Liebe, nach Erfüllung giert. Dass Pade die Verstörungen nicht in Effekte hüllt, sondern diskret die uneingestandenen Wünsche spürbar macht, gehört zu den Stärken dieser Aufführung.

Ein anderes beeindruckendes Moment ist das Bühnenbild von Alexander Lintl, das in Prolog und 16 Bildern das Drehmotiv des Titels zwingend aufnimmt. Eine große Wand steigt schräg und hoch auf, in ihr wiederum ist eine durchscheinendes Mauerwerk, vornehmlich der Aufenthaltsort der Geister, eingelagert, das sich den Drehungen von Wand und Flächen (dazu der Prolog) entgegenstemmen kann. Allein in den Bewegungen der Bühne erscheinen die Ruhe, die beschworene Stille immer trügerisch – vom geschickt organisierten Szenenwechsel abgesehen. Die Räume, die sich dabei bilden, sind erstaunlich weit, Pade und Lintl fliehen nicht in die Beklemmung der Enge, sondern verdichten die Bilder der Angst in Räumen, die sich, so könnte man fürchten, unkontrollierbar dehnen.

Das Ensemble dankt auf seine Weise, voran Miah Persson als Gouvernante in dem fulminanten Porträt einer verwirrten Seele, sie fängt mit großer stimmlicher Intensität Innerlichkeit wie Grenzerfahrungen ein. Lars Erik Jonsson singt den Quint durchaus körperhaft, doch mit gleißenden Koloraturen, Monika Jessel ist eine dramatisch-füllige Miss Jessel, Suzanne Murphy eine klug zeichnende Haushälterin. Ein Zentrum, spielerisch wie stimmlich, auch die beiden Kinder: Emma Gardner als Flora mit sanfter Jugendlichkeit und Jonathan Walz, Solist der Aurelius Sängerknaben Calw, als Miles – mit schier traumwandlerischer Sicherheit angesichts einer doch schwierigen Partie. Die 13 Solisten des Museumsorchesters bestechen unter der Leitung von Karen Kamensek mit farblich prächtig abgestimmtem Spiel und einer erstaunlichen Vielfalt des Klangs. Die Verflechtung von vokaler und instrumentaler Schönheit verdeckt nicht das Böse, das in solcher Sinnlichkeit lauert. Starker Beifall, Bravos.

 

Offenbach Post
Dienstag, 5. November 2002

Packende Geisterstunde auf großer Opernbühne

Von KLAUS ACKERMANN

Nach dem unseligen "Peter Grimes" jetzt "The Turn of the Screw" und hier die (Spannungs-)Schraube stark anziehend, wie dies schon der Titel suggeriert: Frankfurt entwickelt sich zum qualitativ hochstehenden Hort der Benjamin-Britten-Pflege. Dessen Kammeroper bescherte am Sonntagabend am Willy-Brandt-Platz zwei enervierende Geisterstunden um ein seelisch geschundenes junges Geschwisterpaar. Auf nahezu klinisch reiner Bühne rollte Regisseur Christian Pade, bislang nur am Schauspiel auffällig, eine psychologische Fallstudie auf. Und die junge Dirigentin Karen Kamensek lieferte mit den 14 Solisten des Frankfurter Museumsorchesters präzise das entsprechende klangliche Nervenkostüm, sich über weite Strecken spiralförmig emporschraubend bis hin zum schrillen Piccolopfiff. In für die Oper Frankfurt rarer beifälliger Übereinkunft feierte das Premierenpublikum minutenlang die bravourösen Leistungen von kleinen Menschen und übermächtigen Geistern. Selbst den schönen Nackten als Spiegelbild erotischer Obsessionen hat keiner übelgenommen.

"The Turn of the Screw", in englischer Sprache mit deutschen Übertiteln herausgebracht, basiert auf der gleichnamigen Erzählung des Amerikaners und Wahl-Briten Henry James von 1898: Miles und seine Schwester Flora sind Waisenkinder, betreut von einer Haushälterin und einer Gouvernante, die dem Vormund zuliebe die Kinder erziehen will und dabei als eine Art Medium in einen grausamen Geisterreigen gerät: Der verblichene Diener Quint und die von ihm geschwängerte und bei der Geburt gestorbene Kindfrau Miss Jessel üben eine teuflische Macht auf die Kinder aus. Wie der berühmte Erlkönig holt sich schließlich Quint den entseelten Knaben Miles.

Ausstatter Alexander Lintl lässt die Drehbühne gleich dreifach kreisen, unterteilt dabei geschickt den großen Raum und bietet so manch spukhafte Perspektive. Schwarz-weiß dominiert in einer schräg ansteigenden Wellblechwand, aus der eine durchsichtige Mauer um 90 Grad gedreht wird, im dauerhaften Halbdunkel (Licht: Olaf Winter) ideales Versteck und Aussichtspunkt für die recht menschlichen Geister im bürgerlichen Kostüm. Im Inneren scheint ein Lüster auf dem Kopf zu stehen - verkehrte Welt. Hier macht Regisseur Pade das Psychodrama vor allem an der Gouvernante fest, glänzende Charakterstudie der Schwedin Mia Persson, die zudem über einen lyrischen Sopran verfügt, der die vielen empfindsamen Zwischentöne dieser Rolle fixiert. Pade sieht sie selbst permanent in erotischer Erregung. Eine junge Frau, die den Vormund offenbar abgöttisch liebt, was den Nackten erklärt, der eingangs hinter ihr auftaucht, sich unter ihre Röcke verkriecht (Grass' kaschubische Kartoffelfelder lassen grüßen) und ihr am Ende die Augen öffnet (oder schließt?). Im Kampf um die Unschuld der Kinder muss sie sich den stärkeren Gegenspielern beugen: Dem gleichermaßen auftrumpfenden wie unsicheren Quint (abgefeimt seinen expressiven Tenor regulierend: Lars Erik Jonsson), der unverblümt homoerotische Signale aussendet, denen der Knabe Miles kaum gewachsen ist - Jonathan Walz von den Aurelius Sängerknaben Calw hat nicht nur eine starke Naturstimme, sondern beweist auch darstellerisch erstaunliche Reife. Wie seine Schwester, die junge englische Sopranistin Emma Gardner. Allein gelassen in ihrer seelischen Pein, hat sie der gespenstischen "Wasserleiche" ihrer Kindfrau, die noch immer an Quint hängt (schön schaurig: Monika Krause), nichts entgegenzusetzen. Anrührend in ihrer Naivität: Die Irin Suzanne Murphy (mit fahlem Sopran) als Haushälterin: Sie alle sind so wenig eindeutig wie die ambivalente Musik Benjamin Brittens, der in den schillernsten Klangfarben mit Klavier und Celesta bis hin zur Bassklarinette schwelgt. Mal sinnlich betörend, mal trügerisch unschuldig, aber immer stark beunruhigend. Karen Kamensek reiht die instrumentalen Schauer wie im kühlen Klanglabor und entlockt selbst dem Kinderlied noch Unheimliches.

Knappes Fazit: Mit diesem Britten scheint die Oper Frankfurt auf bestem Wege. Wer das gängige Repertoire gleichsam im Sack hat, ist geradezu verpflichtet, auch mal etwas zu riskieren.

 

Wiesbadener Kurier
05.11.2002

Reigen unseliger Geister
Kleine Oper ganz groß: Brittens „The Turn of the Screw" in Frankfurt

Von Volker Milch

Mager, mager. Gerade mal 13 Musiker im Orchestergraben und sechs Sänger auf der riesigen Bühne des Frankfurter Opernhauses, eine Knabenstimme mitgezählt. Woher sollen denn da von Chor und orchestralen Klangwogen aufgepeitschte Premieren-Gefühle kommen? Sind das schon Hungerübungen, mit denen kulinarisch orientiertes Opernpublikum auf magere Jahre im abbröckelnden Frankfurter Kulturbetrieb eingestimmt werden soll?

Von wegen Sparoper! Mit Benjamin Brittens „The Turn of the Screw" zeigt Frankfurts neuer Intendant Bernd Loebe, wie man mit einem vermeintlich „kleinen" Werk ganz, ganz große Oper macht und auch noch das Premierenpublikum restlos überzeugt: Die Ovationen hätten nach einem fetten Puccini kaum stärker sein können und galten einer in allen Aspekten überzeugenden Interpretation des Regisseurs Christian Pade und der designierten Freiburger Generalmusikdirektorin Karen Kamensek. Sie hatte einen Kreis von exzellenten Orchester-Solisten um sich geschart, die Brittens zweiaktige Geisterstunde nach der Erzählung von Henry James mit der rechten Klang-Magie ausstatten sollten, im vokal-instrumentalen Dialog von absoluter Transparenz stets tiefer blicken bzw. hören ließen als die bloßen Worte von Myfanwy Pipers Libretto: Eine Gouvernante (Miah Persson) nimmt den Auftrag an, sich um die Waisen Miles (Jonathan Walz) und Flora (Emma Gardner) zu kümmern, die sich offenbar im unheimlichen Kontakt mit einer Gegenwelt befinden. Deren Repräsentanten, der Diener Peter Quint (Lars Erik Jonsson) und Miss Jessel (Monika Krause), machen sich immer wieder bemerkbar und ziehen die Kinder in den Bannkreis ihrer Macht.

Der sexuelle Subtext, der sich in den Gespenstern des Henry James vor der Prüderie im viktorianischen England verstecken mag, zieht sich auch durch andere Werke Brittens von „Peter Grimes" bis zur späten Thomas-Mann-Oper „Tod in Venedig" und wird in der Frankfurter Inszenierung Christian Pades durchaus akzentuiert, ohne dass die Aura das Geheimnisvollen, des Zwielichts, des Unentschiedenen in die krude Realität eines „Falles" transformiert würde: Es geht in einem weiteren Sinn um den Verlust der Unschuld.

Immerhin ließe sich das sinistre Gespenst Quint, dem der bereits im Prolog beschäftigte Tenor Lars-Erik Jonsson verführerisches Timbre leiht, als ziemlich derangierte Oscar-Wilde-Version lesen, eher Ausgegrenzter als Jenseitiger, während der unglücklichen Miss Jessel offenbar ein Schicksal als Wasserleiche beschieden ist. Von verdrängten Lüsten zeugt nicht zuletzt ein schöner Nackter, der von den Röcken der Gouvernante buchstäblich verschluckt wird.

Wesentlichen Anteil am Erfolg der Produktion, in der sich die Hochspannung der Personenführung geradezu zwingend aus der musikalischen Präzisionsarbeit im Orchestergraben ergibt, hat die klare, eiskalte Ästhetik von Alexander Lintls Ausstattung und Olaf Winters Ausleuchtung. Eine riesige, gerippte Mauern-Skulptur beherrscht die Drehbühne. Ein Teil der Mauer scheint aus transparenten Backsteinen zu bestehen, wird von innen illuminiert und ist so etwas wie das Geistertor, in dem die Bewohner der Gegenwelt schemenhaft erscheinen und in die Gegenwart drängen. Die Gouvernante, der die Schwedin Miah Persson ihren beeindruckend sicher geführten Sopran leiht, wird den Kampf um den vom Calwer Aurelius-Sängerknaben Jonathan Waltz fabelhaft gesungenen und gespielten Miles schließlich verlieren. Frankfurts Oper indes gewinnt eine Produktion, in der sich das Profil der ersten Loebe-Spielzeit viel versprechend konkretisiert – großes Publikum ist der „kleinen" Oper somit unbedingt zu wünschen.

 

Allgemeine Zeitung
5. November 2002

Oper Frankfurt: Benjamin Brittens Kammeroper
„The turn of the screw" nach Henry James

Ein eisiger Hauch aus der Zwischenwelt

Von Johannes Bolwin

Das Drehen an einer Schraube – verbinden, zusammenpressen, komprimieren. Auch: Anspannen bis zum Zerreißen. Man sagt: „Jemandem Daumenschrauben anlegen". Henry James gab seinem Kurzroman von 1898 den seltsamen Titel „The turn of the screw". Ein einziges Mal nur taucht er in Andeutung auf, in der Rahmenerzählung, einem Kamingespräch „on Christmas eve in an old house". Es geht um Zuspitzung, um Eskalation. „Peter Quint, du Teufel!" schreit der neunjährige Miles am Ende seinen an ihm zerrenden Widersachern ins Gesicht – und sackt tot in sich zusammen. Das Böse hat, was es wollte. Ein Sieg der Obsession, der übernatürlichen Kräfte, die über Distanzen Kerzenflammen ausblasen können und mit denen zu kommunizieren hier allein Kinder die Gabe haben. Ein Sieg der Erwachsenen- über die Kinder-Welt.

Benjamin Brittens Kammeroper „The turn of the screw" (1953/54; Libretto: Myfanwy Piper) ist ein Meisterstück der Verdichtung. In Frankfurt führt diese viktorianische Gespenster-Oper den mit Schuberts sperrigem „Fierrabras" eingeleiteten Premieren-Reigen fort – und stößt mit großer Kunstfertigkeit in tiefe Schichten der menschlichen Psyche vor. Christian Pade (Regie) und Alexander Lintl (Bühne, Kostüme) widerstehen der Versuchung, am Stück herumzudeuteln und Antworten auf Fragen geben zu wollen, die nicht gestellt werden. Im Zentrum steht folglich die Tragik der besessenen Kinder Flora und Miles, die „mehr sehen" als die Erwachsenen, wie es bei James heißt. Der Bodensatz (Kindsmissbrauch, Homo-Erotik, Pädophilie, Mord) bleibt im Reich der Andeutung, wirkt wie der ahnbare Grund eines moorigen Sees voller gefährlicher Unterströmungen. Zusammen mit dem Anspruch der Gouvernante, die Kinder vor diesen Schatten einer für die Erwachsenen unzugänglichen Zwischen-Welt retten zu wollen, ergibt sich eine explosive Mischung. Keine Gewissheiten, nichts trägt mehr, immer stärker tritt die Imagination an die Stelle der Aktion.

Szenische Stringenz und eine präzise Personenführung sind die Stärken der Frankfurter Konzeption. Mit einem Kunstgriff gelingt es, dem zentrifugalen Sog dieser dunklen, von Quint, der früheren Gouvernante Miss Jessel und dem fernen „Onkel" personifizierten Kräfte scharfe Kontur zu geben: Alexander Lintl lässt das Bühnengeschehen um eine Achse rotieren, die bald Geheimgang und Eisblock ist, bald Grabesgruft, dann wieder ein seltsame Schatten beherbergendes Biotop. Raffinierte, schwer verortbare Lichtquellen (Lichtregie: Olaf Winter) tauchen diesen oft gegen die Kulissen kreiselnden Keil in einen magischen, winterlich-eisigen Schimmer. Ranken aus dunklem Celloklang, jenseitiger Celesta, herber Pentatonik und einer gefahrvoll insistierenden Quart-Motivik legen sich drumherum wie Efeu.

Beachtliches Niveau bieten die Solisten – allen voran Miah Persson (Gouvernante) und Monika Krause (Miss Jessel) mit gespenstisch timbriertem, teils hysterisch-wahnhaft zugespitztem Sopran; Emma Gardner und Jonathan Walz, Solist der Aurelius Sängerknaben Calw, füllen die komplexen Kinder-Rollen mit exzellenten Stimmen und psychisch angeschrägtem, zur Werks-Aura passendem Habitus. Das von der Amerikanerin Karen Kamensek mit geschmeidigem Gestus angeleitete Kammerensemble des Museumsorchesters füllt diese bravouröse Inszenierung mit musikalisch denkbar fein austarierter, lebendig pulsierender Substanz.

Aufführungen: 7., 9., 15., 30. Nov.; Karten: (069) 1340-400

 

Darmstädter Echo
6. November 2002

Im Teufelskreis des Bösen
„The Turn of the Screw": Brittens rätselhafte Oper nach einer Novelle von Henry James in Frankfurt – Mehr als nur eine Gruselgeschichte

Von Klaus Trapp

FRANKFURT. Wie eine sich drehende Schraube ist das Bühnenbild angelegt, das Alexander Lintl für die Neuinszenierung der Kammeroper „The Turn of the Screw" von Benjamin Britten im Frankfurter Opernhaus entworfen hat. Von Szene zu Szene verschieben sich die Wände, in deren Mitte eine durchscheinende Mauer langsam rotiert. Hinter ihr tauchen bedrohlich die beiden Gespenster auf, die mehr und mehr in die Welt der Lebenden eindringen.

Regisseur Christian Pade macht deutlich, dass diese Oper nach der gleichnamigen Novelle von Henry James nicht einfach eine Gruselgeschichte ist. Die Verführungskraft des Bösen ist das eigentliche Thema: Zwei Kinder werden auf einem altenglischen Landsitz von den verstorbenen und nun umherspukenden Hausangestellten auf magische Weise gepeinigt, die junge Gouvernante wird in eine zunehmende Verwirrung ihrer Gefühle getrieben. Dass manche Vorgänge bei James wie Britten rätselhaft bleiben, macht den Reiz des Stückes aus.

Pades Personenführung ist abgezirkelt wie in einer psychologischen Versuchsanordnung, und sie spiegelt präzise den englisch gesungenen Text, dessen Doppelbödigkeit dank der deutschen Übertitel gut zu erkennen ist.

Im Zentrum der Aufführung steht Brittens einfallsreiche Musik, deren instrumentaler Teil einem dreizehnköpfigen Ensemble anvertraut ist. Sie schraubt sich, von einem zwölftönigen Thema ausgehend, allmählich empor, im Variationsstil sind die sechzehn Szenen samt knappen Interludien entfaltet. Die amerikanische Dirigentin Karen Kamensek arbeitete mit dem kleinen Orchester sorgfältig das Spiel der Farben und Formen heraus, wobei das Bedrohliche weniger in den Rhythmen als in den sirenenartigen Klängen von hohen Bläsern, Celesta und Harfe aufschien.

Die Sopranistin Miah Persson, trefflich in Stimme und Spiel, zeichnete die Wandlung der Gouvernante von jugendlicher Naivität zu wachsender Verstrickung in widerstrebende Gefühle überzeugend nach. Suzanne Murphy gestaltete mit kraftvollem Sopran die Partie der Haushälterin Mrs. Grose, die dem unheimlichen Treiben ratlos gegenübersteht. Lars Erik Jonsson trug den Prolog mit flexiblem Tenor vor und wechselte sodann in die Person des verstorbenen Dieners Quint. Eindrucksvoll sein zunehmend teuflisches Werben um den Knaben Miles bis hin zum tragischen Ende, wenn er das tote Kind mit sich nimmt. Als seine Partnerin Miss Jessel beeindruckte auch Monika Krause stimmlich wie darstellerisch in der Verkörperung der aus dem Jenseits hereinwirkenden verführerischen Kräfte.

Jonathan Walz, ein Solist der Aurelius-Sängerknaben aus Calw, stellte den Jungen Miles lebhaft auf die Bühne, durchweg sauber singend. Seine ältere Schwester Flora war die grazile Sopranistin Emma Gardner. Nach knapp zwei Stunden ohne Pause spendete das Premierenpublikum begeisterten Beifall für diese hörens- und sehenswerte Produktion.

Weitere Aufführungen am 7., 9., 15., 17., 30. November und am 6. und 8. Dezember.