DIE ZEIT
04.03.2004 Nr.11

THEATER
Jenseits der Kälte
Wohin treibt das moderne Musiktheater nach seiner Selbstentfremdung? Der Regisseur Sebastian Baumgarten sucht neue Antworten

Von Christine Lemke-Matwey

Sebastian BaumgartenDas ist doch alles viel zu viel, denkt man und möchte unwirsch werden. Weg mit dem ganzen Zivilisations- und Wirklichkeitsmüll, weg mit allem, was hier eiskalt den Blick verstellt – den Blick aufs Wesentliche, die Kunst, den Blick auf die „armen Leut’" und was sie uns sein und sagen wollen in Alban Bergs Wozzeck. Weg also mit dem Sparbüchsenmodell der Frauenkirche, das auf der Bühne der Dresdner Semperoper in der zweiten Szene auf Stichwort abgefackelt wird („Ein Feuer! Ein Feuer!"), weg mit dem Schäferhund, der dem Hauptmann heiser bellend in die Parade fährt, weg auch mit all dem Video-Schnickschnack als Fata Morgana irrlichternd urbaner Lebenswelten, den Bibelzitaten auf digitalen Spruchbändern, weg vor allem mit einer Marie in rotem Knautschlack-Mini, die nach ihrer Vergewaltigung durch den Tambourmajor hektisch das Rauchen anfängt, und weg mit der Belegschaft einer Baumarktkette, die in ihren rot-schwarz-karierten Flanellhemden die Wirtshausszene bevölkert. Und bitte: Nie wieder Trainingsjacken, Turnschuhe, Plastiktüten, Punkfrisuren und leere Bierdosen auf offener Szene!

Bergs Wozzeck als Parabel auf das Leben im Rinnstein, als Menetekel der sozialen Härte an sich – das ist im Jahr X nach Marthaler, Schlingensief, Calixto Bieito & Co. eigentlich das Letzte, was man sich derzeit von einer Lichtgestalt der Opernregie erwartet. Sebastian Baumgarten ist 35 und will am liebsten Theater machen wie Ruth Berghaus, Heiner Müller, Einar Schleef, Bob Wilson und Frank Castorf zusammen: ein Theater der „emotionalen Auswirkungen", wie er es in Brechtscher Manier nennt, ein Theater, das eine „Achse" herstelle zwischen Zuschauerraum und Bühne. In keiner seiner Produktionen sei ihm dies bislang wirklich gelungen, bekennt er freimütig, aber er sei auf der Suche, „ganz konzentriert, ja tantrisch". Man spürt: Baumgarten meint es bitter ernst. Insofern ist er gewiss kein typischer Vertreter der Generation 30 plus, der der Historiker Stephan Schlak im jüngsten Kursbuch (fast) jede gesellschaftliche und politische Eignung abspricht. Das Sich-Räkeln in mehr oder weniger wohligen, ironisch-zynischen Distanzen à la Thomas Ostermeier oder Stefan Pucher ist Baumgartens Sache nicht. Es gehe ihm auch nicht um Kunst, sagt er, nicht um schönen Gesang, gutes Spiel und möglichst stringente Konzepte, jedenfalls nicht in erster Linie, sondern immer um das, „was einen angreift". Das Theater als romantische Anstalt?

Baumgarten wurde in Ost-Berlin geboren, wuchs in der Staatsoper Unter den Linden auf, die sein Großvater Hans Pischner als Intendant leitete („Ich habe den ganzen Alarm in diesem Opernhaus gehasst"), ging auf eine Musikspezialschule und studierte schließlich an der Hochschule für Musik Hanns Eisler Opernregie. Der Vater starb früh, die Mutter war Sängerin, und der kleine Sebastian lernte seine Einsamkeiten, sein Ausgesetztsein rasch als „Fantasieraum" erkunden. „Wenn Angst ein Thema ist in meinen Arbeiten", sagt er heute, „dann werden die oft ziemlich gut." Überhaupt weiß Baumgarten – der drei Jahre lang Oberspielleiter in Kassel war und im Herbst 2003 als Chefregisseur für Musiktheater und Schauspiel nach Meiningen wechselte – bestürzend genau über sich selbst Bescheid, ein Grübler, ein leidenschaftlicher Reflektierer. Das graue Haar will zwar nicht recht zu seinem markanten Jungengesicht passen, dafür blicken die Augen aber umso dunkler drein, und wenn er lacht, dann halten sich seine Gedanken nicht lange auf an der Belustigung, sondern sind meist immer schon woanders. Was ihn am Theater interessiere, sagt er, seien „Diskontinuitäten", Brüchigkeiten. Auch im Leben? „Ich hatte lange Zeit eine große Sehnsucht nach Dauerhaftem. Inzwischen merke ich, dass es auch ohne ganz gut geht, leider. Oder um mit Wozzeck zu reden: Wer kalt ist, den friert nicht mehr." An dieser Stelle entschlüpft ihm allerdings ein kleines, verlegenes Lächeln, das länger in der Luft schwebt.

Was also bliebe von Sebastian Baumgartens Wozzeck-Inszenierung an der Dresdner Semperoper, merzte man alles vermeintlich Überflüssige, Überschüssige und lästig Zeitgeistige darin aus? Unermesslich viel, merkwürdig genug. Drei Szenen, drei Abdrücke vor allem. Der Narr, den Baumgarten unter strohblonden Zöpfen in ein Dirndl steckt, auf dass er sich grinsend hin und her wiege, drei rote Luftballons in der Hand – die Weltweisheit als Autismus und rührselig-blöder Budenzauber; dann der Mord an Marie, der einem weniger durchs Gurgelabschneiden ans Herz fasst als vielmehr dadurch, dass Wozzeck sich als Täter gezielt unkenntlich macht: Plötzlich trägt er, der bislang wie ein trauriger Beuys-Verschnitt mit Hut durchs Geschehen stolperte, selber Narrenkappe und also Maske, ein filzig buntes Ding, das dem Ku-Klux-Klan ebenso taugte wie der Fasnacht oder einer antiken Tragödie; und schließlich ist’s der Gartenschlauch, mit dem Wozzeck das schlierige Theaterblut wieder wegspritzt – zu Bergs klaffenden H-Dur-Quinten und als bliebe von einem Menschenleben am Ende tatsächlich nicht mehr übrig als ein nasser Fleck. Ganz egal, was die Regie noch so alles treibt (natürlich ist es die todeslüsterne Gesellschaft, die Marie letztlich auf dem Gewissen hat, und natürlich ertrinkt Wozzeck am Ende nicht, sondern mutiert zu einem jener robotergleichen Baumarkt-Insassen, die zeigen, wohin uns unsere Utopielosigkeit geführt hat) – diese Bilder haben, was Baumgarten will: eine starke „emotionale Auswirkung". Lange weichen sie einem nicht von der Netzhaut, vermählen sich mit dem apollinischen Sog der Musik, wie Marc Albrecht und die Dresdner Staatskapelle ihn an diesem Abend entfachen.

Vielleicht erklärt und klärt sich genau hier auch ein Stück des Prinzips Baumgarten: Das Viele und oftmals Zuviele, das An- und Aufgehäufte, all die blinzelnden Leerstellen und ästhetischen Zugeständnisse, die Castorfschen Simultaneitäten und die Berghausschen Zeichenwelten, sie müssen sein, um jeden Preis. Denn sie sind das Karussell, auf dem dieser Regisseur sich dreht, schnell und immer schneller, um im richtigen Augenblick dem Himmel entgegen zu springen. Das Risiko dabei ist groß. Und oftmals gelingen diese Sätze nicht. Dann scheitert Baumgarten krachend, dann stapelt er, der Feuerkopf, bloß Einfall auf Einfall – wie zu Beginn von Massenets Werther an der Deutschen Oper Berlin, wo der inzestuös veranlagte Amtmann es mit einer Horde Rokoko-Perücken-bewehrter Kinderlein treibt. Auch seine Inszenierung von Berlioz’ Trojanern (in der zweifelhaften „Urfassung") am Nationaltheater Mannheim weist Stellen solchen weißen Regie-Rauschens auf. In der besuchten Sonntagnachmittags-Vorstellung etwa war das leibhaftige trojanische Pferd – eine Leihgabe der Mannheimer Polizeistaffel – schlicht vergessen respektive gar nicht erst geliefert worden. Die Folge: Der Käfig, in dem das Tier, von allerlei virösen Wunden zerfressen, hereingerollt werden sollte, war leer, lediglich ein paar blutige Fleischbrocken lungerten zwischen den Stäben. Wer die Aufführung nicht kannte, vermisste wenig, jedenfalls nichts Konkretes – zu abgehoben, zu lose auch die Idee, Vergangenheit (Troja), Gegenwart (Karthago) und Zukunft (Rom) über die Metapher eines durch fünf Akte Grand Opéra mäandernden „Aeneas-Virus" zu erzählen.

Das Musiktheater habe lange versucht, den Menschen „in seinem Entfremdungsprozess" zu zeigen, sinniert Baumgarten, und einmal mehr grüßt hier die Fibelsprache des alten B. B. „Meine Generation stellt sich die Frage, wie bilde ich einen Menschen ab, der diesen Entfremdungsprozess hinter sich hat? Also: Willkommen in der Innenwelt." Nicht dass Baumgartens Figuren ihr Innerstes nun permanent nach außen stülpen würden. Sie tun es, ringen aber gleichzeitig damit, die eigene Naivität, die Hoffnung nicht ganz zu verlieren. Und genau das macht ihre Spannung aus, ihre Tiefe und Tragik. Dido, die sich, nachdem Aeneas sie verlassen hat, in eine meterlange weiße Plastikplane hüllt, als wär’s ein kuscheliges Plumeau; Charlotte, die ihr Elend einer Waschmaschine anvertraut, weil es ja doch immer noch eine Ordnung gibt und eine Aufgabe, im Leben und im Leben danach. Oft sind es Sängerinnen – Charlotte Hellekant in Berlin, Evelyn Herlitzius in Dresden – zu denen Baumgarten während der Probenarbeit in „libidinösen Kontakt" tritt. Da passiert es schon einmal, dass sich die Stimme vom Körper trennt und plötzlich nichts Pathetisches, nichts Künstliches mehr herrscht, fast wie im wirklichen Leben oder doch zumindest: im Schauspiel. Und da kann es sogar sein, dass eine Oper von Berg oder Massenet für den Film- und Videofreak Sebastian Baumgarten so aufregend ist wie eine Arbeit von Spike Jones oder Chris Cunningham. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, das sei es, was ihn an der Zweidimensionalität fasziniere. Ein Abschied also, früher oder später, vom Guckkastenmenschen, von Licht und Fleisch und Blut? Baumgarten schlägt bedächtig ein langes Bein übers andere. Nein, eher die Erkenntnis eines Auskühlens, seines, unseres „Ausgekühltseins". Weil es keine Hitze mehr gebe zwischen den Menschen, sondern schönstenfalls noch Wärme. Aber das ist ja auch etwas.

(c) DIE ZEIT 2004