MANNHEIMER MORGEN
31.03.2006

INTERVIEW: Achim Freyer über seine Mannheimer "Medée"-Regie, menschliche Katastrophen und das ewige Fragen nach dem Warum
"Je fremder die Figur, desto näher rückt sie"

Von unserem Redaktionsmitglied Stefan M. Dettlinger

Achim Freyer inszeniert in Mannheim. Dies allein wäre beachtenswert. Doch heute Abend hebt sich im Nationaltheater der Vorhang zur Premiere einer Oper, die äußerst selten auf der Bühne zu erleben ist: Luigi Cherubinis 1797 uraufgeführte "Medée", für die François Benoît Hoffmann Euripides' Tragödie der Zauberin Medea bearbeitete, die am Ende den Dreifachmord begeht und ihre Kinder samt Nebenbuhlerin in den Tod schickt. War es Eifersucht? Verzweiflung? Bösartigkeit? Freyer, dem wir auch diese Fragen stellten, möchte auf der Bühne keine Antworten geben, sondern zur Selbstlösung auffordern.

Herr Freyer, wie sind Sie eigentlich auf Luigi Cherubinis "Medée" gestoßen?

ACHIM FREYER: Der Dirigent Gabriele Ferro bat mich, das Stück einmal anzuhören. Es sei großartig. Zunächst dachte ich beim Anhören immer an Christoph Willibald Gluck und sagte mir: Mache lieber die Originale. Aber mit der intensiven Beschäftigung merkte ich, dass das eine ganz tolle, eigene Dimension ist, die Brücke vom Barock bis in die Romantik, und dann eine Brücke zurück in die Antike. Der Gedanke, dass Oper sich aus der Antike entwickelt hat, ist hier ganz präsent. Die Figuren sind keine wirklich handelnden, sondern eher erzählende wie im epischen Theater.

Was hat Sie an diesem sagenhaften Stoff um die mörderische Zauberin so gereizt?

FREYER: Ich habe in jungen Jahren die Vorlage von Euripides erlebt. Das hat mich erschüttert zu sehen, welche Gewalten in uns Menschen herrschen, Gewalttaten aus Verzweiflung, aus Machtgier. Ich bin damals richtig zerstört gewesen.

Medea tötet ihre beiden Söhne, und hierin erinnert sie an Martha Goebbels, die ihre fünf Kinder im Führerbunker vergiftet haben soll. Warum tut sie das? Und was sollen wir von so einer Frau halten?

FREYER: Also ich bin mit allem, was ich im Theater mache, bemüht, diese Antworten nicht zu geben. Dieses Warum müssen wir selber finden. Ich versuche alle Motivation und Zustände möglichst deutlich zu zeigen, sodass wir am Ende in uns spüren: Wir sind es selbst oder könnten es sein. Ich habe Masken konstruiert, die wie ein Theatervorhang fungieren, Kostüme, die auf hohen Sockeln wie Skulpturen stehen und die durch die Sänger betreten werden und bespielt. Hinter den Masken verbirgt sich die Frage, die Sie mir stellen: Was sind die Motive für solches Handeln? Das verbirgt sich und wird gleichzeitig durch die Musik zwischen den Figuren und Kostümen nach vorne ins Publikum gespült. Die Musik erzählt unglaublich reich Facetten und das Abwägen der Figuren und Taten. Das alles ist so groß und komplex, dass wir es auf der Straße oder in uns gar nicht finden. Es ist für uns nur splitterweise wahrnehmbar.

Letztlich handelt es sich also um Archetypen. Erübrigt sich damit die Frage, inwiefern das in unserer Gegenwart Gültigkeit besitzt? Oder inwiefern weist die Geschichte um Liebe, Eifersucht und Nebenbuhlerei, die schließlich zu Medeas Selbstjustiz und zum dreifachen Mord führt, ins Heute? Auch heute bringen Mütter Kinder um.

FREYER: Ja, nur heute sind es keine archetypischen Dinge, sondern subjektiv von Gerichten entschiedene Taten, die in gut und böse oder richtig und falsch eingeteilt werden. Da bleibt einiges auf der Strecke: Wo liegt die Schuld? Wo ist der Keim für die Eskalation zu so einer Tat? Wie in der Chaostheorie: Wo ist der erste Ansatz? Heute sind da unsere Gerichte und unsere Polizei, und wir selber sind als Psychologen völlig hilflos. Aber die Oper ist ein Kosmos, der versucht, diese ganze Welt vom ersten Punkt bis hin zur Katastrophe zu zeigen.

Das Werk hatte es bei der Uraufführung schwer. Wird das in Mannheim anders?

FREYER: Es ist ein schweres Werk, weil man von Oper immer erwartet, dass große Gefühle sehr spielerisch realisiert werden. Das würde dieser Oper und Musik sehr schaden. Also das ist sicherlich eine Befremdung, dass wir hier eine völlig neue Art der Opernaufführung sehen werden, keine oratorienhafte oder konzertante Aufführung, sondern eine ganz eigene Form von Musiktheater, die wir hier hoffentlich auch mit großer Perfektion und Vollendung zeigen können. Die Musik wird dadurch dem Publikum näher kommen, als das bei der Uraufführung der Fall war.

Ein Problem dieser absolut unkomischen "Opera comique" muss ja sein, dass die Originalfassung mit den gesprochenen Dialogen etwas bleiern daherkommt. Es gibt aber auch die italienische Bearbeitung Franz Lachners, der statt der Dialoge Rezitative zwischen die musikalischen Nummern kittete? Aber Sie spielen wohl die Urversion...

FREYER: ... ja, wir spielen die Wiener Fassung von Georg Friedrich Treitschke, in der die Sprache in dichterischer alter Form existiert. Und genau dieses Künstliche hat mich interessiert und nicht eine Alltagssprache, die die Figuren aus der Größe ihrer Arien sofort in einen Alltag entlässt und klein macht. Das Dichterische hat die gleiche Dimension wie das Musikalische. Die Figuren haben dadurch keine Fallhöhe.

Wollen Sie die Figuren den Menschen denn nicht näher bringen?

FREYER: Ja. Aber je fremder eine Figur ist, desto mehr nähern wir uns ihr an. Je mehr uns eine Figur entgegenspringt, desto mehr Distanz nehmen wir ein. Man wird ein Voyeur und schämt sich dafür. Und hier ist das Gegenteil der Fall, muss man hinter die Maske, und das nicht mit Anstrengung, sondern mit großer Lust und Neugierde. Die Aufführung erzeugt permanent Neugier.

Aus Mannheimer Sicht könnte man bedauern, dass Sie nicht die Lachner-Version spielen. Lachner hat hier gearbeitet. Man hätte an eine Tradition anknüpfen können.

FREYER: Bei aller Qualität von nachkomponierten Rezitativen - es ist nicht aus der Zeit, nicht vom gleichen Autor und hat nicht mehr den gleichen Atem. Mir kann auch keiner beim Bildermalen helfen, und wenn er noch so kräftige Farben einsetzt. Es muss ein intaktes Bild sein, keine Restaurierung oder Zerstörung. Die Sprache ist frei von Musik. Cherubinis Dialoge sind als Sprache gedacht. Insofern denke ich, dass wir dem Original sehr nahe sind. Die Dialoge sind auf Deutsch, der Gesang französisch. Mit den Übertiteln ist das eine Einheit.


Achim Freyer
ist ein Magier der Bilder, ein Visionär des Theaters: Der Maler, Bühnen- und Kostümbildner, Regisseur und Stückemacher Achim Freyer lotet in seiner Arbeit wie kein anderer die Grenzen zwischen Bühne und bildender Kunst aus. Seine Inszenierungen sind poetische „Gesamtkunstwerke" aus Malerei, Sprache, Musik, Choreografie, Raum und Licht, die in archaischen Bildern von menschlichen Mythen erzählen. Der Meisterschüler von Bertolt Brecht arbeitete als Bühnen- und Kostümbildner mit Regisseuren wie Ruth Berghaus, Adolf Dresen und Benno Besson, bevor er 1972 nach West-Berlin übersiedelte. Gemeinsame Inszenierungen mit Claus Peymann am Württembergischen Staatstheater Stuttgart ebneten ihm in den 1970er Jahren den Weg zu eigenen Regie-Arbeiten. Den eigentlichen Schwerpunkt seines Schaffens bildet indes das Musiktheater. Mit Glucks Iphigenie auf Tauris gab Achim Freyer 1979 ein furioses Debüt als Opernregisseur, an das er 1980 mit Carl Maria von Webers Der Freischütz in Stuttgart nahtlos anknüpfte. Seine Interpretation von Mozarts Die Zauberflöte an der Hamburgischen Staatsoper 1982 hat Theatergeschichte geschrieben. Weitere wichtige Operninszenierungen Achim Freyers waren unter anderem Orfeo ed Euridice von Christoph Willibald Gluck 1982 an der Deutschen Oper Berlin, Richard Wagners Tristan und Isolde 1994 in Brüssel. Bei den Wiener Festwochen inszenierte er 1998/99 Claudio Monteverdis L'Orfeo sowie 1999/2000 Genoveva von Robert Schumann. Seine jüngsten Arbeiten für die Oper waren 2001 eine Inszenierung von Giuseppe Verdis Messa da Requiem sowie 2003 der Salome von Richard Strauss an der Deutschen Oper Berlin. Im April 2004 hat er in Frankfurt mit großem Erfolg die Oper Ariodante von Georg Friedrich Händel inszeniert. Einen großen Raum in Achim Freyers theatralischem Schaffen nehmen Uraufführungen ein. Legendär wurde seine Philip Glass-Trilogie am Staatstheater Stuttgart mit Satyagraha (1981), Echnaton (1984) und Einstein on the Beach (1988). An der Hamburgischen Staatsoper hat er 1997 Helmut Lachenmanns Das Mädchen mit den Schwefelhölzern uraufgeführt. In Bildern von eindringlicher Kälte hat Freyer dabei die Parabel auf eine gefühllose, todbringende Gesellschaft visualisiert. In enger Zusammenarbeit mit Dieter Schnebel entstanden unter anderem Körpersprache, Maulwerke und Vergänglichkeit 1991 in Hamburg sowie Majakowskis Tod – Totentanz 1998 an der Oper Leipzig.