Frankfurt Rundschau
7. November 2005

Anatomie einer Besessenheit
Pjotr I. Tschaikowskijs "Pique Dame" neu mit Christian Pade und Sebastian Weigle in Frankfurt

VON HANS-KLAUS JUNGHEINRICH

Seltsam "unrund" verläuft Tschaikowskijs Oper Pique Dame, eine Mischung von bunten Genreszenen und strikter Seelenmusik. Bei dieser gerät der Hörer gleichsam in einen psychedelischen Strudel, bei jenen fühlt er sich womöglich im falschen Film (das dritte Bild avisiert zu Beginn wohl eine Mozart-Huldigung, präsentiert aber eher eine gründlich ernüchternde Dittersdorf-Parodie). Das zitathaft öffentliche und das persönliche Sprechen, krass ineinander montiert, ist durchaus bezeichnend für die Mitteilungsform eines Künstlers, der sich und sein Außenseitertum ebenso leidenschaftlich zu offenbaren wie zu verstecken trachtete. In dem Aleksandr-Puschkin-Sujet Pique Dame dient der Antagonismus als Medium und Hintergrund einer Obsession, die umso furchtbarer sich entwickelt und auswächst, als sie sich aus der Harmlosigkeit des normalen gesellschaftlichen Getriebes ergibt. Die notorische russische "Langeweile" ist sozusagen der hoffmanneske Nährboden für den real-phantastischen Spuk eines unbezwingbaren Spieltriebs, der den jungen Offizier Hermann befällt wie ein Virus, als er aus einer Kameradenerzählung vom Geheimnis der "drei Karten" erfährt.

Das Geheimnis kennt als Letzte die uralte Gräfin, und aus ihrem Munde will Hermann es erfahren. Werkzeug dieser Besessenheit wird Lisa, in deren Herz er sich einschleicht (sie löst darauf die Verlobung mit einem Fürsten). Als Lisa merkt, dass es Hermann nur um den Zugang zur Gräfin zu tun war, geht sie ins Wasser. Doch der Betrüger wird selbst betrogen: Die dritte der von der toten Gräfin in Hermanns Traum geflüsterten Karten war falsch.

Das ungelösteKartengeheimnis

Zentrale Szene - und einer der grandios-obskursten Opernmomente überhaupt - ist die nächtliche Begegnung Hermanns mit der Gräfin in deren Boudoir(viertes Bild). Hier verdichtet sich auch das musikalische Idiom am meisten: in einem geisterhaften Dienerinnen-Chor, im abgründig-traurig wie von jenseits des Grabes herüberklingenden, nur äußerst sparsam instrumental sekundierten, immer mehr erlöschenden französischen Lied der Gräfin, schließlich im katastrophischen Zwiegespräch, das mit dem plötzlichen Tod der Alten endet, den der zudringliche Hermann durch seine Ungeduld verursacht. Mehr als die Reue und die Sorge um Lisa (die ihn für einen Mörder halten muss) treibt ihn in den folgenden, vom emotionalen Klima her hitzigeren und beschleunigten Handlungsstationen das ungelöste Kartengeheimnis um. Im Schlussbild (am Kartentisch) kommen dann wieder retardierende Episoden: derb machohafte Kasino-Unterhaltsamkeiten, aber auch - in der dramaturgisch etwas schulmäßig opernhaft platzierten Schlussarie des Tenors Hermann - eine veritabel entfaltete Spieler-Philosophie, die mitten in der bewusstlosen Getriebenheit dieser Figur fast als Fremdkörper anmutet.

Es liegt nah, dieses Stück als alptraumhaftes inneres Drama aus der Perspektive des verstörten und immer mehr zerrütteten Hermann zu inszenieren und den Gesellschaftsszenen mithin den Sekundärstatus uneigentlicher Phantasmagorien zuzuweisen. So ging auch Christian Pade in seiner detailreich bemühten Optik vor, die freilich auch Gefahr lief, sich in manchem überflüssigen Firlefanz (rötliche Gummiplastik eines Primaten mit aufgerecktem Droh- oder Jubelarm) oder schwer verständlichen Insider-Fingerzeigen (Hermann fährt bei seiner Arie rücklings an der ihm unsichtbaren "richtigen" Karte vorbei) zu verzetteln. Plausibel dagegen das Verschmelzen der ansonsten isoliert-repräsentativen Zarinnenfigur (eine vielleicht ironisch konnotierte Konvention) mit der Gräfin in den finalen Stationen: Verweis auf eine Identität von weltlicher Macht und gnadenlos lebenszerstörerischer Schicksals-Autorität.

Klug und geschickt wusste Alexander Lintl die Drehbühne in Bewegung zu halten und damit alles an optischer Attraktion aus dem Bühnenbild herauszuholen, das sich frontal mit vier hintereinander postierten mächtigen Hufeisen-Arcs weiträumig öffnete und seitlich mit Pfeilerreihen Enge und Geschlossenheit zu signalisieren vermochte. Lintls Kostüme kontrapunktierten etwas unmotiviert Militär- und Zivilkleidung (einschließlich historischer Zitate) mit Ärztekitteln. So hatte die Aufführung einen leicht schwankenden, gelegentlich auch unfertig oder konfus wirkenden Zuschnitt, was der Flippigkeit der Hauptfigur entsprechen mochte, ohne sie jedoch ganz schlüssig in effektive Bildmetaphern bannen zu können.

Besonders langeOhren für den Dirigenten

Ohne Einschräkung imponierend waren die sängerdarstellerischen Verkörperungen, an der Spitze Danielle Halbwachs als kraftvoll lyrische Lisa, anrührend und durchwärmt mit einer biegsamen, fein nunancierten und exzellent fokussierten Diktion bar aller Härten und Schärfen. Von konzentrierter Alt-Sonorität geprägt, auch in der äußersten Pianissimo-Verhaltenheit wunderbar präsent, die Gräfin der Elzbieta Ardam, nicht als bizarres Monster gezeichnet, sondern einmal elegante Gesellschaftsdame, im Boudoir verletzliche Greisin (in eine hängemattenartige Schaukel gebettet). Mit einer fesselnden Melange von kantablem Aufschwung und charaktertenoralem Gefühlsaufruhr agierte der Hermann von Mikhail Davidoff; profiliert auch weitere Männerpartien wie Johannes Martin Kränzle (Tomski) und Rodion Pogossov (Fürst). Mit der aufwendigen Wiedergabe in der Originalsprache holten sich auch der Opernchor (Alessandro Zuppardo) und der Kinderchor der Oper Frankfurt (Apostolos Kallos) Lorbeeren.

Es gab besonders lange Ohren für den Dirigenten Sebastian Weigle, eine namentlich für die Frankfurter GMD-Nachfolge interessante Persönlichkeit. Der junge derzeitige Opernchef des Liceu Barcelona, in Frankfurt bereits bestens eingeführt, gab auch dieser Tschaikowskijoper ein scharf umrissenes Format und ebenso energische dramatische Akzente wie intime Seelen-Tönungen, auch orchestral brennende Chiffren einer aus brillanter Operngestik (an Mozart geschulte Vokalensembles im ersten und letzten Bild) hervorsteigenden Sprachfähigkeit geheimster, verborgener emotionaler Regungen, in Klangschönheit aufgelösten Leidensdrucks und Ausdruckszwangs.

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Dokument erstellt am 07.11.2005 um 16:00:26 Uhr
Erscheinungsdatum 08.11.2005

 

Frankfurter Neue Presse
8.11.2005

Psychogramm eines Besessenen
Christian Pade hat Tschaikowskys "Pique Dame" ebenso einfallsreich wie feinsinnig für die Frankfurter Oper inszeniert.

Von Michael Dellith

Es muss ein wahres Feuerwerk an Ideen gewesen sein, das Pade, der in Frankfurt schon mit Brittens "Turn of the Screw" und Mussorgskis "Chowanschtschina" Regie-Furore machte, mit seinem langjährigen Bühnenausstatter-Partner Alexander Lintl bei den Vorbereitungen zur Tschaikowsky-Premiere inspiriert hat. Die Inszenierung der "Pique Dame" jedenfalls lebt von einem grandiosen Einfallsreichtum an Bildern, einem faszinierenden Spiel mit Symbolen, Farben, Licht- und Spiegeleffekten, und doch ist dieses Psychogramm eines Besessenen auf verblüffende Weise dezent, ja subtil gezeichnet.

Im Mittelpunkt der Spieleroper steht der deutschstämmige russische Soldat Hermann, ein Außenseiter, der als niederer Offizier nur schwer Eintritt in die russische Ständegesellschaft des 18. Jahrhunderts findet, einer, der sich in seinen Wahnvorstellungen, Trugbildern, Hirngespinsten und Kopfgeburten immer mehr verfängt, einer, der auf der Jagd nach dem Glück die Liebe zur schönen Lisa seiner Spielsucht opfert, was letztlich zum Selbstmord des tragischen Helden führt.

Hermanns Ausgrenzung von der Gesellschaft wird schon gleich zu Beginn deutlich, wenn er am Bühnenrand sitzt, während sich das reale Geschehen in einem Kubus aus vier Säulenportalen abspielt. Dieses durchlässige Würfelgebilde, das durch Drehungen immer wieder neue Perspektiven offenbart und – ähnlich wie die Kugel beim Roulette – den Betrachter in einen Bilder-Strudel zieht, ist aber nicht nur Spielfläche der Handlung, sondern auch Projektionsraum für die traumatischen Seelenvorgänge der Protagonisten. Die Durchdringung verschiedener Wahrnehmungs- und Erinnerungsebenen bestimmt freilich nicht nur das Bühnenbild. Eine Entsprechung findet sich auch in der changierenden Stilistik der Kostüme. Moderne Straßenanzüge, zaristische Roben, Militär-Uniformen, fantastische Ballkleider und Arztkittel kommen zum Einsatz. Mit Letzteren zitiert Pade Puschkin, dessen Novelle als Vorlage für die Tschaikowsky-Oper diente: Dort endet die Geschichte im Irrenhaus. Um Hermanns schizophrene, ja multiple Persönlichkeit aufzuzeigen, verpasst Pade ihm nicht nur ein Double, sondern stellt auch noch eine King-Kong-Plastik als Alter Ego auf die Bühne. Und die Gräfin erscheint als sternglitzernde Königin der Nacht.

Eine kleine Sensation kam aus dem Orchestergraben. Sebastian Weigle, der als potenzieller Carignani-Nachfolger gehandelt wird, empfahl sich am Pult des Museumsorchesters als Meister der Klangregie. Er entlockte den Instrumentalisten sinnlich-warme Klänge von ungeahnter Geschmeidigkeit, ohne dass darunter die Dramatik zu leiden hatte. Unter Weigles Händen wurde das Orchester zum "Tonträger" für die Sänger auf der Bühne, wo der von Alessandro Zuppardo bestens einstudierte, vielseitig geforderte Opernchor, fabelhaft unterstützt durch den von Apostolos Kallos betreuten Kinderchor, einmal mehr seine exquisite Pianokultur unter Beweis stellen konnte. Auch das Solisten-Ensemble bestach mit A-Cappella-Qualitäten: Danielle Halbwachs als Lisa nahm mit ihrem bis in die Höhe wunderbar biegsamen Sopran ein, Mikhail Davidoff legte die Figur des Hermann dagegen recht zurückhaltend an. Prachtvoll Elzbieta Ardam als Gräfin und vor allem Johannes Martin Kränzle in der Partie des Grafen Tomski. Tadellos auch Rodion Pogossov als Fürst Jeletzki und Federica Proietti als Pauline, die beide in Frankfurt debütierten. Am Ende gab’s lang anhaltenden Premieren-Applaus mit eindeutiger Sympathie für Danielle Halbwachs und Sebastian Weigle.

 

NEWS Frankfurt
8.11.2005

Tschaikowskis Kartenspiel
Gelungener Einstand. Mit „Pique Dame" feierte die zweite Oper in dieser Spielzeit ihre Premiere

WENN MAN DIESES riesige bärtige Gesicht im Hintergrund auf den Kopf dreht, kommt ein bizarrer Knochenschädel zum Vorschein. Der Geist der „Pique Dame" zieht sich im Frankfurter Opernhaus durch den ganzen Abend. Bei der Premiere von Peter Ilijtsch Tschaikowskis gleichnamiger Oper hatten Regisseur Christian Pade und Bühnenbildner Alexander Lintl zahlreiche teils abstrakte, teils überdeutliche Momente eingebaut, an denen sich die eigentliche Handlung entlanghangeln konnte.

Der deutsche Offizier Hermann (Mikhail Davidoff), der sich in die junge russische Gräfin Lisa (Danielle Halbwachs) verliebt hat, entwickelt sich nachvollziehbar vom zurückgezogenen Eigenbrödler hin zum fanatisch Besessenen. Erfasst von der fixen Idee, zu Reichtum und damit schließlich auch zur standesgemäßen Hochzeit zu kommen, kommt er nicht mehr zur Ruhe. Immerhin steht die Vermählung Lisas mit Fürst Jeletzki (Rodion Pogossov) bevor.

Drei Karten zum Glück

Der Weg zum Glück führt scheinbar über Lisas Großmutter (Elzbieta Ardam), die in jungen Jahren im schicken Paris eine große Dame war und die seinerzeit hinter das Geheimnis der drei Karten gekommen war. Wer diese drei kennt, gewinnt im Spiel immer. Doch das Wissen darum ist mit einem Fluch belegt, den Hermann immer mehr zu spüren bekommt. Die Gräfin stirbt ohne sein Verschulden bei dem Versuch, ihr das Geheimnis zu entlocken, später erscheint sie ihm aber im Wahn und verrät ihm die Karten. Er spielt sie aus, doch nach den ersten beiden Erfolgen erscheint statt des vorausgesagten Asses die Pik Dame – Hermann, der keine Chance mehr sieht, an Lisa zu kommen, bringt sich um.

Die Frankfurter Premieren-Besetzung überzeugte mit einem hohen Grad an beziehungsreicher Kommunikation. Auch die Einzelleistungen ließen kaum Wünsche offen. Vor allem Johannes Martin Kränzle bestach musikalisch in der Rolle des Grafen Tomski, der Hermann erst auf den Gedanken mit den drei Karten bringt. Seine Ballade im ersten Akt interpretierte er mit gleichermaßen kernigem wie einfühlsamem Bariton. Elzbieta Ardam gestaltete ihren Part mit herber Spannung, die Sopranistin Danielle Halbwachs brillierte in einer glänzend gestalteten Partie, Rodion Pogossov war als kultivierter Sänger zu erleben. Unter der musikalischen Leitung von Sebastian Weigle stellte das Orchester einen tragenden Pfeiler der Aufführung – immer gelang es den Musikern im Graben, die Stimmung bis zum Äußersten zu treiben.

Daniel Honsack

 

WIESBADENER KURIER
8.11.2005

Psychodrama mit magischem Budenzauber
Ein Sängerfest: Premiere von Peter Tschaikowskys Oper "Pique Dame" in Frankfurt

Von Volker Milch


Pech in Liebe und Spiel: Mikhail Davidoff als Hermann und Danielle Halbwachs als Lisa.
Rittershaus

FRANKFURT In Frankfurt werden Gastdirigenten mit besonderer Aufmerksamkeit beobachtet, seit Generalmusikdirektor Paolo Carignani seinen Rückzug für das Jahr 2008 angekündigt hat. Längst kein Unbekannter mehr im Opernhaus ist der 1961 geborene Berliner Sebastian Weigle, der bis 2009 als Chefdirigent in Barcelona unter Vertrag steht und in Frankfurt nun für die Premiere von Tschaikowskys "Pique Dame" verantwortlich zeichnet.

Beim Publikum jedenfalls dürfte er, sollte er überhaupt zu den möglichen Kandidaten zählen, gute Chancen haben: Die Begeisterung, die Weigle, dem Orchester und den Solisten im Schlussapplaus entgegenschlug, war bestimmt nicht schwächer als nach dem fulminanten Dirigat der "Frau ohne Schatten" im Jahr 2003. Tschaikowskys Pathos nun bekommt in seinen Händen scharfe Konturen und eine kompakte, federnde Elastizität, die auch die Basis war für eine ungemein starke Ensemble-Leistung auf der Bühne: Die Premiere dieser russisch gesungenen "Pique Dame" geriet zu einem wahren, selbst für die erfreulichen Frankfurter Verhältnisse erstaunlichen Sängerfest. So überzeugte die Sopranistin Danielle Halbwachs, seit dieser Spielzeit Ensemble-Mitglied, als großformatige Lisa. Unter den Herren sorgten Mikhail Davidoffs Hermann und Rodion Pogossovs Fürst Jeletzki (neben originalsprachlicher Kompetenz) für eine stupende Fülle des Wohllauts.

Die Intensität früherer Arbeiten, etwa der Inszenierung von Brittens "The Turn of the Screw" 2002 in Frankfurt, erreichte der Regisseur Christian Pade mit dieser "Pique Dame" nicht. Die phantasmagorische Überfülle des Werks überwuchert auch in der mit surreal-bombastischen Chorszenen auftretenden Inszenierung den Sog der Sucht, den psychischen Zerfall des Offiziers Hermann, der Opfer seiner Spiel-Leidenschaft und seiner Außenseiterposition wird.

Im Gegensatz zum tödlichen Ausgang der Oper endet Hermann in Puschkins Novelle im Irrenhaus. Auf Frankfurts Opernbühne nun scheint er von Anfang an ein Opfer der Psychiatrie zu sein. Zu Hermanns zwielichtigen "Ärzten" gehört Graf Tomski, dem Johannes Martin Kränzle baritonales Gewicht gibt.

Hermanns Wahn entwächst unter anderem eine Ballgesellschaft in geschmacklich einigermaßen bedenklicher Farbgebung. Die Frankfurter Chordamen können vor lauter Haar- und Kostümpracht im Schlussbeifall kaum den Kopf neigen. Im szenischen Überangebot aus (nicht immer nachvollziehbarer) symbolischer Aufladung, dekorativem Anspruch der "Großen Oper", Sozial- und Psycho-Drama, in dem zu allem Überfluss auch noch ein stummer Doppelgänger Hermanns sein Unwesen treibt, verliert man leicht die Orientierung, obwohl in Alexander Lintls düsterem, von vier mächtigen Torkonstruktionen bestimmten Bühnenbild die (auto)destruktive Richtung der Geschichte eigentlich klar ist.

Der magische Budenzauber um die geheimnisvolle Gräfin, die von Elzbieta Ardam mit der Aura vergangener Größe und noch sehr gegenwärtiger Stimmgewalt ausgestattet wird, beschert der Inszenierung aber auch suggestive Momente: Der Griff zur Tür, durch die Hermann um Mitternacht ins Schlafzimmer der alten Dame tritt, leuchtet wie eine Geistererscheinung aus dem schwarzen Nichts heraus. Da die alte Dame vor Schreck stirbt, wird erst ihr Gespenst dem jungen Mann das potenziell lukrative Geheimnis der drei Spielkarten verraten.

Am spannendsten aber spukt es in Frankfurt doch im Orchestergraben, wo Sebastian Weigle aus Fagotten, Kontrabässen und Bassklarinette die schönsten Gruselklänge herauskitzelt.

 

DIE WELT
7. November 2005

Der Wahn vom Glück der anderen:
Tschaikowskis "Pique Dame" in Frankfurt

von Uwe Wittstock

Hermann will nicht nur Liebe, Hermann will alles: Liebe, Glück, Reichtum, Anerkennung.

Und warum auch nicht? Wenn doch das Leben endlich, wenn es unwiederbringlich ist - warum dann auf irgend etwas verzichten, was andere haben? Doch um des Lebens ungeteilte Freude zu erlangen, muß Hermann nach den Gesetzen der Schwarzen Romantik seine gierige Seele dem Teufel verpfänden. In Tschaikowskis Oper "Pique Dame" übernimmt das Kartenspiel die Rolle des Teufels - und als Hermann der greisen, dämonischen Gräfin das Geheimnis den unfehlbaren Kartengewinns entreißen will, verfällt er unweigerlich dem Wahn, also der Hölle auf Erden.

Christian Pade hat die Geschichte dieses Höllensturzes in seiner sehr dekorativen, stilisierten Inszenierung an der Frankfurter Oper konsequent psychologisch unterfüttert. Hermann ist als Deutscher in Rußland von Kindesbeinen an ein Außenseiter, ein Ausgeschlossener ein an den Rand Gedrängter - und an den Rand der Bühne stellt ihn Pade immer wieder. In linkisch verkrampfter Haltung blickt er von dort aus gierig auf die scheinbar so muntere Gesellschaft, von deren Sorgen er nichts wahrnehmen will. Daß er die für ihn eigentlich unerreichbare Lisa erobern kann, bedeutet ihm zunächst alles und dann nichts, denn er will nun immer mehr und mehr von den vermuteten, erneideten Wonnen der anderen - bis er mit leeren Händen endet.

Sebastian Weigle führt das Frankfurter Orchester glanzvoll und mit großem Temperament; vermutlich wäre es aber auch kaum möglich, diese Musik Tschaikowskis temperamentlos zu dirigieren.

Der Berliner Weigle sei, so ist von den Oberköchen der zuständigen Gerüchteküchen deutlich zu hören, als Nachfolger für den in drei Jahren ausscheidenden Frankfurter Generalmusikdirektor Paolo Carignani im Gespräch. Sollte das den Tatsachen entsprechen, dürfte seine Leistung bei dieser "Pique Dame" einer Berufung an den Main zumindest nicht im Wege stehen.

Nicht ganz so glücklich war vielleicht die Auswahl der Sänger. Zugegeben, Danielle Halbwachs verfügt über einen wuchtigen Sopran, doch fehlte es ihrer Stimme, zumindest bei der Premiere, für die Rolle der leidenschaftlichen Lisa spürbar an Wärme und Emotionalität.

Der Russe Mikhail Davidoff, der als Hermann den einzigen Deutschen auf der Bühne singt, war als Tenor betont lyrisch, sprich: mitunter ein wenig leise. Rundum loben dagegen kann man Elzbieta Ardam als Gräfin und Johannes Martin Kränzle als Tomski. Und natürlich - wie fast immer - den großartigen Chor unter Alessandro Zuppardo.