John Dew

Sehr persönliche Notizen zu
Oedipus der Tyrann und Antigonae

Als ich in den 1970er Jahren in Osnabrück als Mädchen für alles angestellt war, habe ich mit einer meiner ersten Gagen eine Aufnahme von Oedipus der Tyrann gekauft. Ich erinnere mich, dass die Platte damals 75,– DM gekostet hat, was ein ziemliches Opfer für mich war, wenn man bedenkt, dass ich 450,– DM brutto verdiente. Ich kannte schon zwei Werke von Orff: Der Mond, der bereits eine meiner Lieblingsschallplatten war, und natürlich Carnrina Burana, die ich einige Male auf der Bühne und im Konzert gehört hatte. Nichts aber hatte mich auf den Schock vor-bereitet, den ich beim Hören von Oedipus der Tyrann erlebte. Seitdem hege ich den Wunsch, das Stück irgendwann auf der Bühne zu sehen.

Antigonae entdeckte ich dagegen erst vor einigen Jahren. Bei den Vorbereitungen auf meine Aufgaben in Darmstadt habe ich auf der Suche nach einem eigenen Akzent, den ich so wie in Bielefeld und in Dortmund auch am Staatstheater Darmstadt setzten wollte, sehr viele mir unbekannte Opern studiert. Dabei gewann ich den Eindruck, dass ich mit Ausnahme des Barockrepertoires, das sich innerhalb der Strukturen eines großen Staatstheaters stilistisch nur unzureichend aufführen lässt, schon alle aufführungswürdigen Opern entdeckt hatte. So war ich nach einigen frustrierenden Wochen umso hin gerissener von Orffs Antigonae. Ich spürte die Gegenwart eines Meisterwerks. Es ist wahrlich ein wunderbares Gefühl, ein Meisterwerk für sich zu entdecken, sei es in der Malerei, in der Literatur oder in der Musik. Wenn man älter wird, ist dieses Ereignis umso schätzenswerter, da es seltener vorkommt. So wurde mir klar, dass der Akzent, den ich für Darmstadt suchte, das Lebenswerk von Carl Orff ist.

Ich habe Carl Orff sogar selbst in Darmstadt erlebt. Wie man in Darmstadt weiß, hatte er zu dieser Stadt eine starke Verbindung. Er präsentierte an dem Tag sein Werk Astutuli und erseute das fehlende Schlagzeug durch einen Tisch, den er lebhaft malträtierte. Dieser unvergessliche Eindruck hat mich zu anderen Werken Carl Orffs geführt.

Seine Werke sind jedoch nicht ohne weiteres aufführbar, denn sie bedürfen eines sehr speziel-len Orchesterapparates und großer Anstrengungen seitens der Darsteller. Kurz nachdem ich Antigonae gefunden hatte, war mir klar, dass wir nicht nur Antiyonoe, sondern auch das Pen-dant dazu, Oedipus der Tyrann, aufführen müssten. Oedipus der Tyrann ist seit Anfang der 1960er Jahre meines Wissens nicht aufgeführt worden, da die Darstellung der Partie des Oedipus eines besonderen Sängerdarstellers bedarf. Und so habe ich bereits vor drei Jahren meinen langjährigen Mitarbeiter Norbert Schmittberg gebeten, sofort mit dem Studium dieser Rolle zu beginnen, da ich sicher war, dass er der einzige ist, der diese schwierige Rolle darstel-len kann. Erst als er zusagte, fing das Projekt an, Form anzunehmen.

Die Verzögerungen bei der Sanierung des Staatstheaters Darmstadt haben dazu geführt, dass wir die Stücke erst mit einjähriger Verspätung auf den Spielplan setzen konnten. Das wiederum hat dazu geführt, dass Andreas Drum sich bereit erklärte, die Partie des Kreon zu übernehmen. Zwei namhafte Sänger hatten mir die Annahme dieser Partie verweigert, da sie meinten, der Anstrengung der Partie nicht gewachsen zu see. Die Freude, mit der sich Stefan Blunier und alle anderen im Ensemble der Aufgaben annahmen, zeigte mir, dass die Wahl der Stücke längst überfällig war. Bleiben noch die Anforderungen an unseren Chordirektor Andre Weiss und den Herrenchor des Opernchores des Staatstheaters Darmstadt, der eine durchaus anstrengende und kaum zu bewältigende Rolle in den beiden Werken hat. Die Chorproben haben zehn Monate vor dem eigentlichen Probenbeginn angefangen, und diese Zeit war knapp, um die Partie zu erlernen. Im Vergleich zu den Aufzeichnungen der Live-Aufführungen aus München unter Georg Solti zeigt sich, dass sich diese grol3e Vorarbeit rentiert: die Leistung unseres Chores ist von ewer konkurrenzlosen Perfektion.

Carl Orff bekam von Baldur von Schirach, der damals Gauleiter in Wien war, den Auftrag, Musik für Antiqonae nach dem Text von Hölderlin zu schreiben. Orffs Verhältnis zu den damaligen Kulturpolitikern war durchaus gespalten. Um ein Haar wäre Carmina Burana verboten worden, da der text als undeutsch galt. Durch den Zufall, dass Joseph Goebbels sich an einer Übertragung im Rundfunk ergötzte, wurde das Stück dach zum Erfolg. Schirachs Auftrag an Orff war, eine Schauspielmusik zu schreiben, die die Vertonungen der Chorpassagen von Sophokles'Tragödie ersetzen sollte, die Felix Mendelssohn Bartholdy geschrieben hatte. Orffs Vision sprengte diese Vorgabe. Es entstand ein Stück, das weder eine Oper noch ein Schauspiel im üblichen Sinn ist.

Es kann Orff nicht vorgeworfen werden, dass er ein Nazistück geschrieben habe, da seine Anti-gone auf keinen Fall als Schauspiel mit Musik aufgeführt werden kann. Dazu hätte sich sein Beitrag auf eine Ouvertüre und Musik zu den Chören beschränken müssen. Genauso wenig kann man die Zuflucht in die Welt der alten Griechen als ein Spezifikum des Kulturverständnis-ses der Nationalsozialisten ansehen. Schon am Anfang des 19. Jahrhunderts gab es Versuche, die altgriechischen Texte so zu gestalten, dass sie repertoirefßhig werden. Neben Mendelssohns Wlusik zu Antiyonae gibt es auch eine Schauspielmusik von Gioacchino Rossini zum Schauspiel Oedipus auf Kolonos. Im 20. Jahrhundert gab es eine Vielfalt von Versuchen, das altgriechische Theater in modernen Formen wiederzubeleben. Das geht weit über den Versuch Richard Strauss' hinaus, Altgriechenland als Kolorit zu benutzen, so wie er das in Daphne und Die Liebe der Danke getan hat. Man kann auch trefflich argumentieren, dass Strauss damit eine innere Emigration antrat und Stücke schrieb, die sich auf keinen Fall mit der Gegenwart beschäftigten. Ich bezweifle aber, dass Orff die gegenwärtige Politik der Zeit außer Acht gelassen hat. Es gibt eine subtile Linie durch seine Stücke, in denen Hybris immer wieder direkt zur Katastrophe führt, nicht nur in seinen Tragödien, sondern auch in seinen Komödien wie Die Kluge und Der Mond. Auch den viel kritisierten Hang, Strawinsky zu imitieren, muss man aus dem Standpunkt eines Künstlers heraus betrachten, der in einer Diktatur arbeitete, in der Strawinskys Musik als entartet galt. So ist der Einfluss von Strawinskys Les Noces und Oedipus Rex auf Carl Orff als besonders einzuschätzen. Jede Abweichung von der musikalischen Sprache Wagners musste in einer Gesellschaft, die krampfhaft zu klären versuchte, was "deutsch" ist, als suspekt gelten.

In diesem Zusammenhang muss man auch über den Text von Hölderlin sprechen, der als nicht aufführbar verrufen war und seine erste Inszenierung erst 1919 in Zürich erlebte. Schon bald folgte Darmstadt am Hessischen Landestheater wurden 1922 Oedipus der Tyrann und 1923 Antiyonae in den Übertragungen von Hölderlin gezeigt. Damit wurde eine Tradition begründet, die Gustav Rudolf Sellner mit seinen berühmten Aufführungen 1952 und 1957 m der Orange-rie fortsetzte. Diese Aufführungen muss man auch als Befreiung Hölderhns von der Bolle des Vaterlandsdichters, als eine Art Entnazifizierung Hölderlins sehen.

Ich werde manchmal von Deutschen gefragt, ab es nicht schwierig sei, Shakespeare zu lesen. Sie smd immer wieder erstaunt, wenn ich sage: „Nein, wer die Bibel lesen kann, kann auch Shakespeare lesen." Wenn man sich aber mit Hölderlin beschäftigt, kann man die Frage ver-stehen, ab Texte von einem Autor wie Shakespeare, die doppelt so alt sind wie die Hölderlins, nicht auch schwieriger zu lesen seien. Denn Hölderlin ist das Schwierigste, was ich je gelesen habe. Und so ergeht es auch unseren Darstellern. Letzten Endes ist eine völlig verständliche Aufführung der Texte Hölderlins unmöglich. Und trotzdem sind alle bei der Arbeit überrascht, dass der Gestus von jeder Szene so klar verständlich ist. I<h frage mich, ab Orff nicht absichtlich einen schwer verständlichen Text vertonte, um eine Distanz zwischen Alltag und dem Gesche-hen auf der Bühne zu erwirken. vielleicht hat er sich deswegen später in seinem Prometheus dazu entschlossen, das Stück auf Griechisch zu komponieren.

Ich kann mich des Eindrucks nicht verwehren, dass der Effekt dieser beiden Stücke ein seltenes Gefühl des Staunens ist. Das Gefühl, das man vor Tizians Assunta oder Michelangelos Gefange-nen bekommt. Eine Wirkung, die man nicht mit Worten, sondern nur in emotionaler Hingabe voll erfassen kann. Aus diesem Grund haben wir von der Idee Abstand genommen, das Stück zu übertiteln. Nicht nur die Länge des Textes, sondern auch die Komplexität der Sprache hätte von dem zu erzielenden Gefühl der Katharsis abgelenkt, ie das Ziel der griechischen Tragödie ist.