Frankfurter Rundschau
5. Dezember 2006

Oedipus' Rap
Orffs Hölderlin-Bearbeitungen "Oedipus der Tyrann" und "Antigonae" in Darmstadt.

VON HANS-JÜRGEN LINKE

Wer hat Laios umgebracht, und warum lastet ein Fluch auf Theben? Ödipus ist Ermittler, bald Verdächtiger, schließlich wird klar: Er ist der Täter und Jokaste seine Mutter. Die in unbeirrbaren Schritten aufgebaute Annäherung an diese Wahrheit ist eine Urform der Dramatik überhaupt. Carl Orffs Musiktheater-Stück Oedipus der Tyrann auf der Basis von Hölderlins Sophokles-Nachdichtung trägt dem Rechnung: Es ist ein archaisches Klang- und Sprachereignis von elementarer Wucht und großer Geste, zugespitzt, gewichtig, schnörkel- und kompromisslos.

Die Anforderungen an die aufführende Bühne sind so beispiellos, dass Orffs Werk fast nie in Spielplänen zu finden ist, zumal ein enger Zusammenhang mit seiner Antigonae nahe liegt. Schon der Seltenheitswert der Repertoire-Entscheidung macht die Doppel-Produktion des Oedipus und der Antigonae im Darmstädter Staatstheater zu einem fast singulären Ereignis; der Zusammenhang zwischen beiden, den John Dews Inszenierung mitgestaltet, schlüsselt die Werke behutsam auf einen zeitgeschichtlichen Hintergrund auf, ohne mit theatralischen Zeichen Kontrapunkte zu setzen. Der historische Kontext der Antigonae ist durch Orffs Auftraggeber, den NS-Reichsstatthalter in Wien Baldur von Schirach, geprägt, wenngleich die Uraufführung erst 1949 bei den Salzburger Festspielen stattfand; zehn Jahre später wurde in Stuttgart der Oedipus uraufgeführt.

Der Angriff der Pauken

Die mythologisch plausible Reihenfolge - Antigonae ist Ödipus' Tochter -, kehrt die Entstehungs-Folge der Werke um und wirft für die Gesamt-Wahrnehmung ein Problem auf. Oedipus erscheint ungleich wirkungsvoller, klarer und entschiedener; er ist das reife, bis ins letzte durchgearbeitete Meisterstück. Die Antigonae dagegen weist eine Ungleichmäßigkeit auf in der Gestaltungsqualität dramatischer Situationen, zudem eine geringere Treffsicherheit und Variationsbreite in der Behandlung der spezifischen musikalischen Gestalt der Texte. So dass, wer beide Produktionen in der vom Theater vorgegebenen Reihenfolge besucht (man hat kaum eine andere Wahl), erst die gesetzte Form und dann die Suchbewegung erlebt.

Dews Inszenierungsarbeit ist von staunendem Respekt gegenüber dem Werk geprägt. Chor und Solisten agieren in gemessener Bewegung mit einer verhaltenen Expressivität der Gesten; der monolithische Text wird rhythmisch strukturiert und überwiegend eher deklamiert als gesungen. Nur selten, aber überaus pointiert brechen klagende oder hymnische Koloraturen aus dem Sprechgesang hervor. Passagenweise klingt Orffs Musik wie eine Vorahnung der minimal music, manchmal skandieren Chor oder Solisten synkopisch zu einem pulsenden Rhythmus, dass es einen Rapper neidisch machen könnte, und manchmal fallen die größten und lautesten aller Kesselpauken mit elementarer Wucht über Seele und Gehör des Publikums her.

Orffs Musik negiert weitgehend die Parameter Harmonie und Melodie zugunsten einer Apotheose des Rhythmischen; entsprechend beschränkt beziehungsweise erweitert sich die Besetzung des Orchesters auf eine eine Vielzahl von Schlaginstrumenten, tiefen Streichern und Bläsern und mehreren Klavieren, die ebenfalls meist perkussiv eingesetzt werden. Orff sah in dieser auf Text und Sprachrhythmus zentrierten Kompositionsweise eine größtmögliche Annäherung an die Essenz der griechischen Tragödie.

Heinz Balthes' Bühnenbild setzt eine bühnenhohe Schräge, die im Oedipus als architektonisch gestaltete archaische Grenze zwischen Drinnen und Draußen, Barbarei und Zivilisation, Menschen- und Götterwelt erscheint; in der Antigonae hat die Schräge den gleichen Winkel, ist jedoch einer kriegsbeschädigten Häuserfassade nachempfunden: Oedipus ist von beiden das Vor-, Antigonae das Nachkriegs-Stück. Die Besetzung des Tiresias (Mark Adler) und des Kreon (Andreas Daum) ist in beiden die gleiche. Konkretere Anspielungen auf zeithistorische Hintergründe beschränken sich auf Details wie Uniform-Applikationen; gespielt wird statuarisch, bewegungs- und bilderarm, maskenhaft und deklamatorisch.

Die zentrale Partie beider Opern, obwohl explizit nur in einer vorkommend, ist Oedipus; die beiden anderen mythologischen Zentralfiguren Kreon und Antigone bleiben vergleichsweise bescheiden in der zweiten Reihe, was nichts mit der vorzüglichen Leistung der Sänger-Darsteller (Antigonae: Katrin Gerstenberger) zu tun hat. Was für eine enorme Kraftanstrengung und Konzentrationsleistung diese riesigen Partien mit ihren Textgebirgen und rhythmisch-gesanglichen Endlos-Perioden bedeuten, lässt sich kaum ermessen. Allenfalls ermessen lässt sich, warum der großartige Norbert Schmittberg zwei Jahre lang an der Partie des Oedipus gearbeitet hat. Das Staatstheater-Orchester bewältigt die eigentümliche Orff'sche Klangdramaturgie der Orchesterschläge und -linien bravourös, stellenweise muss Stefan Blunier allerdings seine ganze Autorität für die Synchronisierungsarbeit zwischen Bühne und Graben aufwenden Der für beide Dramen zentrale Chor (Einstudierung: André Weiss) ist gesanglich und darstellerisch auf einer selten zu erlebenden Höhe.

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Dokument erstellt am 04.12.2006 um 16:56:02 Uhr
Letzte Änderung am 05.12.2006 um 14:14:31 Uhr
Erscheinungsdatum 05.12.2006

 

Darmstädter Echo
5.12.2006

Rückkehr der Oper zum Kult
Musiktheater: Doppelpremiere im Staatstheater Darmstadt mit Orffs „Oedipus der Tyrann" und „Antigonae"

Von Heinz Zietsch

DARMSTADT. Aus einem Missverständnis heraus hat sich Ende des 16. Jahrhunderts in Italien die Oper entwickelt: Man wollte die antike Tragödie wiederbeleben und mit Musik durchsetzen, doch die Musik gewann immer mehr die Oberhand. Als Carl Orff in seinen musiktheatralischen Werken wie „Antigonae" (Uraufführung 1949 in Salzburg) und „Oedipus der Tyrann" (1959 in Stuttgart), wieder das Wort in den Mittelpunkt rückte, wirkte das wie eine späte Wiedergutmachung an der antiken Tragödie. Wenn jetzt John Dew, Regisseur und Intendant des Staatstheaters Darmstadt, sich wieder für diese Stücke Orffs interessiert und nacheinander, am vergangenen Samstag und Sonntag in Form einer Doppelpremiere im Großen Haus aufführte, knüpft er an Darmstädter Traditionen an. Denn nach dem Ersten Weltkrieg war Orff ein Jahr lang Kapellmeister an diesem Hause, und nach dem Zweiten Weltkrieg hat gerade Harro Dicks das Werk dieses Komponisten besonders gepflegt: angefangen bei den „Carmina burana" bis hin zum „Prometheus". Und Dews erste Begegnung mit Orff geht auf Darmstadt zurück, als der Komponist Anfang der siebziger Jahre in Ermangelung eines Schlagzeugs beim Vortrag seines Stückes „Astutuli" heftig den Tisch traktiert und auf diese Weise die Worte erst hörbar gemacht habe.

In beiden Werken, in den Sophokles-Tragödien „Oedipus der Tyrann" und „Antigonae", denen der Dichter Friedrich Hölderlin ein eigenes poetisches Gewand verpasst hat, wird das Wort Ereignis. Mehr noch im „Oedipus", wo die Musik in der Sprache mitgedacht ist, weil darin die rituelle Präsenz des Wortes eine entscheidende Rolle spielt und das Singen mehr dem Sprechen angenähert ist; deshalb ist das Melos, die melodische Gestaltung gar nicht so weit von der Gregorianik mit ihren psalmodierenden Rezitationstönen entfernt. „Oedipus" geht zurück zu den Ursprüngen der griechischen Tragödie.

Zu Recht setzt Dew den „Oedipus" an den Beginn der Doppelpremiere der beiden Schwesterwerke. Denn Antigonae ist die Tochter des Oedipus, der, als Pflegekind von einer anderen Familie großgezogen, nichts ahnend seinen Vater im Streit tötet und die eigene Mutter heiratet. Auch seine Kinder finden keine Ruhe. Im Kampf um die Macht fallen beide Söhne, die Schwestern sind zerstritten, weil Antigonae sich dem neuen Herrscher Kreon widersetzt und ihren zum Staatsfeind gewordenen toten Bruder bestatten will. Kreon bleibt am Ende einsam zurück, dem Wahnsinn nahe, da er Frau und Sohn durch seine Hartnäckigkeit verliert und Antigonae dem Tod überantwortet.

„Oedipus" ist durch seine Nähe zum Wort spröder, ritualisierter, während die 1949, zehn Jahre früher uraufgeführte „Antigonae" das musikdramatischere Werk ist, das aus dem Wort heraus einen geradezu ekstatischen Gesang entwickelt und daher mit seiner zwei Stunden und zwanzig Minuten währenden pausenlosen Aufführung fünfzehn Minuten mehr Zeit in Anspruch nimmt als „Oedipus". Beide Teile werden durch das imposante Einheits-Bühnenbild von Heinz Balthes zusammengebracht, das entsprechend raffiniert mit changierenden Farben ausgeleuchtet wird. Gespielt wird vor dem Hintergrund eines schrägen Palastes. „Oedipus" zeigt die Innenansicht, „Antigonae" die Außenansicht des Palastes. Die Fenster sind zerstört infolge der kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den Oedipus-Söhnen. Auch ist der Palast näher gerückt und droht fast einzustürzen. Geschickt hat José Manuel Vázquez die Kostüme antikisierend stilisiert. Auch sie scheinen in der „Antigonae" moderner zu sein, ausgehend von den Uniformen im 19. Jahrhundert bis in unsere Zeit hinein. Schließlich fanden die großen Kriege im 20. Jahrhundert statt, und „Antigonae" ist im Zweiten Weltkrieg von Orff konzipiert worden. Antigonae selbst ist eine moderne Rebellin, eine kämpferische Amazone, deren Lamento-Gesang sich fast wie ein Protestlied anhört.

Die verbindende Figur zwischen beiden Stücken ist jedoch Kreon, den der Regisseur Dew bereits im „Oedipus" als Antipode der Titelgestalt einführt. Man merkt ihm an, dass er nur noch auf den Machtgewinn lauert. Noch ist seine Partie im „Oedipus" eher eine Sprechrolle, die Andreas Daum aber in der „Antigonae" bis zum Wahnsinn steigert, nunmehr den Gesang betonend. Eine Paraderolle für den Bass, der diese Schlüsselfigur immer mehr durchformt und alle Höhen und Tiefen des Gesangs wie der menschlichen Existenz durchmisst. Orff fordert von den Sängerdarstellern enorme Leistungen, die sofort auf seelische Regungen stimmlich zu reagieren haben, zum Teil auch mit ungewöhnlichen Intervall-Sprüngen, wie sie Mark Adler als Seher Tiresias nuancenreich auffächert und dabei noch tonlich treffsicher bleibt. Stimmlich und darstellerisch bis aufs Äußerste expressiv ist die Titelpartie des „Oedipus" angelegt, die Norbert Schmittberg ausfüllt, dass es einem durch Mark und Bein fährt. Ähnliches widerfährt dem Zuschauer mit der Rolle der Antigonae, wobei Katrin Gerstenberger jeder seelischen Regung nachspürt, mit sicheren Höhen und packenden Tiefen, die an Volumen und Fülle enorm gewonnen haben. Ihr Lamento wird zu einem Kabinettstück extremer Gemütsschwankungen. Ihr verwandt scheint Yamina Maamar als Jokaste zu sein, die ihrer Rolle glänzend charakterisiert und aufgrund der Ungeheuerlichkeit des oedipalen Komplexes entsprechend hysterisch außer sich gerät. Werner Volker Meyer wechselt makellos und fast nahtlos zwischen Sprechen und Gesang. Ein wunderbar verlässlicher Sänger. Selbst die kleineren Partien gewinnen an Profil, und Markus Durst führt sich dabei bestens ein, wie auch Thomas Mehnert mit einer weichen, geradezu lyrisch gefärbten feinen, tragenden Bass-Stimme. Oder Allison Oakes mit ihrem schmerzlich-ängstlich wirkenden Gesang als Ismene, Susanne Serfling als Eurydice und Hans-Joachim Porcher als wissender Hirte, während Sven Ehrkes Stimme als Hämon noch etwas bemüht klingt.

Monatelang hatten die Sänger ihre Partie geprobt, auch der wunderbar singende, sprechende und agierende Chor wurde entsprechend lang von André Weiss einstudiert. Da sitzt jeder Ton, jeder Rhythmus, der so wirkt, als hätte Orff gerade den Rap erfunden und daraus die Bewegungen des Chors abgeleitet, der sich immer wieder neu formiert bis hin zu einer madrigalesken A-Cappella-Chor-Einlage, die an die „Comedian Harmonists" erinnert. Und oft kommentiert der Chor das Geschehen derart, als würde er darüber ins Staunen geraten.

Die Aufführung der beiden Orff-Stück nötigt Staunen und Bewunderung ab. Nicht zuletzt durch das Instrumentarium im Orchestergraben unter der Leitung von Stefan Blunier, wobei das reichhaltige Schlagzeug bereits ein traditionelles Orchester ersetzt, komplettiert von Flöten, Oboen, Blechbläsern, Harfen, Klavieren, Kontrabässen und sogar Orgel. Im Nu gelingt es Orff, seelische Regungen nachzuzeichnen, Atmosphäre zu schaffen, die den Sinn des Textes erklärt, etwa wenn Oedipus seine wahre Vergangenheit erfährt, während die Töne nervös hin- und herwuseln.

Zwei harte, schwere Brocken hat Dew mit diesen Stücken ausgesucht, die Mitwirkende und Zuschauer herausfordern, wobei „Antigonae" das zugänglichere, musiktheaterwirksamere Stück ist, das nach den beiden Premieren auch den meisten Beifall erhielt. Allein schon der Mut verdient Beachtung, diese außerordentlich schwierigen Stücke auf die Bühne gebracht zu haben, die das Theater wieder zu dessen kultischen Anfängen zurückführen in der Darmstädter Reihe „Die Griechen – unser Ursprung."

Eine weitere Doppel-Aufführung im Staatstheater Darmstadt im Dezember, wobei nach dem „Oedipus" am nächsten Tag die „Antigonae" folgt, ist am 15. und 16., jeweils um 19.30 Uhr. Karten-Telefon 06151 2811600.

 

WIESBADENER KURIER
05.12.2006

Die archaische Kraft der Tragödie
Staatstheater Darmstadt: Carl-Orff-Doppelpremiere / "Oedipus der Tyrann" und "Antigonae"

Von Axel Zibulski


In den Titelrollen der Darmstädter Doppel-Premiere:
Katrin Gerstenberger (Antigonae) und Norbert Schnittberg (Oedipus).
Aumüller

DARMSTADT Eine gewaltige schräge Wand begrenzt hinten die ansonsten nahezu leere Bühne. Prunkvoll golden strahlt der Hof von Theben, als Oedipus regiert; Jahre später, als sein Schwager Kreon die Macht übernommen hat, ist die Wand brüchig, durchlässig geworden. Von einer Art "Orff-Festspielen" hat John Dew, Intendant des Darmstädter Staatstheaters, im Vorfeld der beiden Premierenvorstellungen dieser Doppel-Inszenierung gesprochen. Carl Orffs 1949 bei den Salzburger Festspielen uraufgeführte "Antigonae" sowie, zehn Jahre später entstanden, "Oedipus der Tyrann" hat Dew jetzt im Großen Haus des Staatstheaters Darmstadt inszeniert. Damit ist er, wie schon als Intendant in Bielefeld und Dortmund, seinem Ruf als Ausgräber selten aufgeführter Opern einmal mehr gefolgt.

Der Chronologie des Mythos folgend, zeigte das Staatstheater Darmstadt das später entstandene Bühnenwerk am ersten der beiden Premieren-Abende: "Oedipus der Tyrann" ist freilich nicht nur für Melodien-Kulinariker harte Kost: Dem Anspruch, der griechischen Tragödie des Sophokles in der Übersetzung Friedrich Hölderlins ihre archaische Kraft auf der Bühne zurückzugeben, hat Orff die Orchesterbesetzung angepasst. Mit vier Flügeln und fast einem Dutzend Schlagzeugern erklingt sie in Darmstadt zwar leicht reduziert, aber immer noch urgewaltig. Von Orffs oft spröde wirkendem Sprechgesang, von der reduzierten Ausstattung (Bühne: Heinz Balthes) ebenso in seiner Kargheit unterstrichen wie akustisch begünstigt, geht im "Oedipus" natürlich auch eine Tendenz zum Monotonen in der gut zweieinviertel Stunden dauernden, pausenlosen Aufführung aus. Katharsis kann anstrengend sein.

Dem Ideal eines singenden Schauspielers kommt in "Oedipus der Tyrann" der Tenor Norbert Schmittberg in der Titelpartie am nächsten. Erst seine Bereitschaft, die extrem anspruchsvolle Partie zu übernehmen, hat in Darmstadt den Auslöser für diese "Orff-Festspiele" gegeben. Der König, der erkennt, seinen eigenen Vater getötet zu haben, sein Augenlicht opfert und sich der Stadt verweisen lässt, wird von dem Tenor mit extrem klarer Diktion, in der Kühle der Macht wie der Erschütterung durch die Erkenntnis höchst glaubhaft dargestellt. Den anspruchsvollen Höhen, die ebenso in der Partie des blinden Sehers Tiresias gefordert sind, ist daneben der junge Tenor Mark Adler als Tiresias freilich eine Spur kultivierter gewachsen.

In "Oedipus" wie in "Antigonae" lässt Orff den Chor seine zentrale Rolle der antiken Tragödie singen, sprechen, deklamieren: Der Herrenchor des Darmstädter Staatstheaters, nahezu ein Jahr mit den Proben beschäftigt, leistet an beiden Abenden Außergewöhnliches, auch die metrisch extrem anspruchsvollen Partituren werden von Stefan Blunier und dem Orchester des Staatstheaters mit äußerster Sicherheit umgesetzt. Die deutlich weniger spröde Musik der "Antigonae", auch ihre Anlage mit schnelleren Szenenwechseln lassen den zweiten Abend freilich theatralisch kompakter wirken. Antigonae, die entgegen dem Verbot ihres Onkels und neuen Theben-Königs Kreon ihren gefallenen Bruder bestattet, wird hier von Katrin Gerstenberger mit starker, entschlossener, dunkel grundierter Sopran-Präsenz gegeben. Andreas Daum gelingt eine szenisch wie vokal überzeugende Darstellung des Kreon; mit Antigonaes Bestrafung hat er die Katastrophe des Freitods seiner Gattin und seines Sohnes evoziert. So bleibt das letzte Bild, das den König zwischen den Leichen seiner Angehörigen zeigt, zugleich als eines der stärksten dieser beiden Orff-Abende in Erinnerung.

 

OFFENBACH POST
6. Dezember 2006

Anstrengende Läuterung
Dews Darmstädter Doppel mit "Oedipus" und "Antigonae"


Katharsis des Vatermörders: Norbert Schmittberg als Oedipus
Foto: B. Aumüller

Eine gewaltige schräge Wand begrenzt die nahezu leere Bühne. Prunkvoll golden strahlt der Hof von Theben, als Oedipus regiert; Jahre später, Schwager Kreon hat die Macht übernommen, ist die Wand brüchig geworden. Von einer Art "Orff-Festspielen" hat John Dew, Intendant des Darmstädter Staatstheaters, im Vorfeld gesprochen. Carl Orffs 1949 bei den Salzburger Festspielen uraufgeführte "Antigonae" sowie, zehn Jahre später entstanden, "Oedipus der Tyrann" hat Dew im Großen Haus inszeniert. Damit ist er seinem Ruf als Ausgräber selten aufgeführter Opern gefolgt.

Der Chronologie des Mythos folgend, zeigte das Staatstheater das später entstandene Werk am ersten der beiden Premieren-Abende. "Oedipus der Tyrann" ist freilich nicht nur für Melodien-Kulinariker harte Kost: Dem Anspruch, der griechischen Tragödie des Sophokles in der Übersetzung Friedrich Hölderlins ihre archaische Kraft zurückzugeben, hat Orff die Besetzung angepasst. Mit vier Flügeln und fast einem Dutzend Schlagzeugern erklingt sie zwar leicht reduziert, aber immer noch urgewaltig. Von Orffs oft spröde wirkendem Sprechgesang, von der kargen Ausstattung (Bühne: Heinz Balthes) in seiner Kargheit unterstrichen wie akustisch begünstigt, geht im "Oedipus" auch eine Tendenz zum Monotonen in der gut zweieinviertel Stunden dauernden, pausenlosen Aufführung aus. Katharsis kann anstrengend sein.

Dem Ideal eines singenden Schauspielers kommt Tenor Norbert Schmittberg am nächsten. Der König, der erkennt, seinen Vater getötet zu haben, sein Augenlicht opfert und sich der Stadt verweisen lässt, wird mit extrem klarer Diktion, in der Kühle der Macht wie der Erschütterung durch die Erkenntnis höchst glaubhaft dargestellt. Den anspruchsvollen Höhen, die in der Partie des blinden Sehers Tiresias gefordert sind, ist daneben der junge Tenor Mark Adler freilich eine Spur kultivierter gewachsen.

In "Oedipus" wie in "Antigonae" lässt Orff den Chor seine zentrale Rolle singen, sprechen, deklamieren: Der Herrenchor leistet Außergewöhnliches, auch die metrisch anspruchsvollen Partituren setzen Stefan Blunier und das Orchester mit äußerster Sicherheit um. Die deutlich weniger spröde Musik der "Antigonae", auch ihre Anlage mit schnelleren Szenenwechseln, lassen den zweiten Abend freilich theatralisch kompakter wirken.

Antigonae, die entgegen dem Verbot des neuen Theben-Königs Kreon ihren gefallenen Bruder bestattet, wird von Katrin Gerstenberger mit starker, entschlossener, dunkel grundierter Sopran-Präsenz gegeben. Andreas Daum gelingt eine szenisch wie vokal überzeugende Darstellung des Kreon; mit Antigonaes Bestrafung hat er den Freitod seiner Gattin und seines Sohns heraufbeschworen. So bleibt das letzte Bild, das den König zwischen den Leichen zeigt, zugleich als eines der stärksten beider Abende in Erinnerung.

AXEL ZIBULSKI

 

dradio.de
04.12.2006

KULTUR HEUTE
Die Griechen mit neuer Musik suchen
"Oedipus der Tyrann" und "Antigone" von Carl Orff am Staatstheater Darmstadt

Von Frieder Reininghaus

Die Dramen sind rund 2500 Jahre alt und dienten Sigmund Freud als psychoanalytisches Ideenreservoir: Sophokles' "Oedipus der Tyrann" und "Antigone". Die Interpretationen regten auch 30 Jahre nach Freuds psychoanalytischen Grundsatzschriften die kreative Fantasie an, etwa die des bayerischen Komponisten Carl Orff. In Darmstadt, wo Orff als Kapellmeister einst wirkte, hatten die beiden Stücke am Wochenende Premiere mit Stefan Blunier als Dirigent und John Dew als Regisseur.

Carl Orff hat einen eigenständigen und eigentümlichen Weg der musikalischen Moderne bestritten: Geprägt von der Brechtschen Idee des "Epischen Theaters" wollte Orff Sprache, Musik und Bewegung auf neue Weise zusammenbringen und agieren lassen. Gleichfalls an der Ästhetik Bertolt Brechts orientierte sich die radikale Abkehr von allem "Spätromantischen".

Da auf dem Weg von "Tristan" über "Parsifal" und "Salome" zur "Elektra" von Richard Strauss, wie dieser ja auch selbst bemerkte, kein weiteres Vorankommen mehr war, entwickelte Orff seine im Purismus radikalen Modelle.

Die charakteristisch-karge Tonsprache basierte auf mittelalterlicher modaler Melodik, verzichtete in ihrer Akkordik weitgehend auf die Funktionalität der klassischen Harmonik und konstituierte vor allem aus Ostinato und rhythmisch geschärften Bewegungs-Impulsen jenen charakteristischen Sound, der sich dann wieder mit bewusst archaisierenden Formen des Musiktheaters verband. Es ist nicht zuletzt die Kunst des Aussparens, des in vielfältigen Formen deklamierten Wortes und der insistierenden Eintönigkeiten, die den eigenartigen Reiz des Orffischen Œuvres ausmachen.

Auch wenn es, als der hochbetagte Komponist 1982 starb, bereits recht ruhig um seine Arbeiten geworden war, so wurden die Errungenschaften des in den 30er Jahren entstandenen "Schulwerks" ebenso wie die aus dieser Zeit stammenden Hauptwerks "Carmina burana" fortdauernd anerkannt und praktiziert. Anders sah dies mit den zahlreichen Opern der Nachkriegszeit aus. Sie sind aus der Rezeptionsgeschichte so gut wie gänzlich herausgefallen.

Doch es nicht nur von musikgeschichtlichem und theaterhistorischem Interesse, dass und wie im Staatstheater Darmstadtnun Erinnerungsarbeit betrieben wurde. Zuvorderst bemerkenswert war die Ensemble-Leistung der - oft über größere Distanzen ganz auf sich allein gestellten - Sänger um Norbert Schmittberg, den im selbstbewussten Singen wie in allen Stadien der Anfechtung großartigen Parvenüs und Tyrannen Oedipus.

Erwähnenswert auch der als Analyst auftretende schwierige Rechthaber Tiresias, den Mark Adler so geschmeidig wie entschieden singt, und Andreas Daum, der dem Oedipus-Nachfolger Kreon wuchtiges Format des auf seine Gesetze pochenden, für Antigonae und den eigenen Sohn so verhängnisvollen Machthabers verschafft.

Stefan Blunier hat die Aufführungen sorgfältig vorbereitet und achtet auf hohe Präzision beim Zusammenwirken von Bühne und Graben. In ihm fehlen bis auf ein paar Kontrabässe alle Streicher und, abgesehen von ein paar solistischen und nur sehr sparsam zum Einsatz gelangenden Bläsern bei der "Antigonae" auch diese. Neben den zwei Harfen aber haben vier Klaviere wesentliche Funktion für die Impulse - und insbesondere das erheblich angereicherte Schlagwerk. Zentral aber bleibt die Chor-Gemeinschaft:

Das von Sophokles wie von Friedrich Hölderlin in Anschlag gebrachte Verhängnis erscheint als dramaturgischer Schlüsselbegriff nicht erst am Ende des zweiten Orff-Abends - doppeldeutig schillernd von Anfang an in Klage und Anklage wie als höhere Entschuldigungs-Instanz: "Vom zuvor gesetzten Verhängnis hat kein Sterblicher Befreiung". Ja, wenn das so ist, konnten die Besucher der Uraufführung 1949 ebenso denken so wie die heutigen, dann konnten und können wir ja gar nicht anders handeln, als wir taten und tun.

Dieses moralische Dilemma thematisiert John Dews Inszenierung so wenig wie die historischen Schichten der beiden Werke. In einer schlichten Ausstattung stellt sich das Verhängnis in aller Ruhe ein. Die Protagonisten stehen und deklamieren, psalmodieren und rezitieren.

Nur selten legt einer der Boten einen Zahn zu, um Nachricht von dem zu überbringen, was hinter der Kulisse an Schrecklichem sich zugetragen haben soll. Edle Einfalt, stille Größe - und kein Hauch von Brechung oder inszenatorischer Kommentierung des an Ungeheuerlichkeiten reichen Textes.

Schwer lastet ein rotes Dach auf dicken Pfetten, das sich für die (Selbst-)Ergründung des Oedipus zum hinteren Bühnenrand herunterzieht. An gleicher Stelle in analoger Position zur "Antigonae" dann die etwas ruinierte Fassade eines Palastes. Die ruhige, unkritische Gangart wurde vom Publikum einvernehmlich akzeptiert.

Wenn es aber einen kritisch gegen Tyrannen gerichteten Impetus in den Orffschen Werken geben sollte, dann wartet dieser darauf, dass die heutigen Augen für ihn geöffnet werden. Wenn es aber einen kritisch gegen Tyrannen gerichteten Impetus in den Orffschen Werken geben sollte, dann wartet dieser darauf, dass die heutigen Augen für ihn geöffnet werden.

Einstweilen werden wir nur daran erinnert, dass sich manches Unheil vermeiden lässt, wenn ein Neugeborener, dem ein schlechtes Horoskop mit auf den Lebensweg gegeben wurde, nicht hilflos in unwirtlicher Gegend (zum Beispiel unter einem parkenden Auto) ausgesetzt wird, wenn Differenzen über die Auslegung der Straßenverkehrsordnung nicht zum Totschlag führen und auch legitime Machthaber beim Umgang mit toten Gegnern einen Rest von Respekt beweisen.

 

egotrip.de
9. Dezember 2006

Oper - oder nicht Oper?
Carl Orffs "Oidipus der Tyrann" im Großen Haus des Staatstheaters Darmstadt

Der griechische Mythios des Oidipus, der unwissentlich seinen Vater erschlug und seine Mutter heiratete, hat Künstler aller Zeiten fasziniert und sich sogar bis in die Psychoanalyse ausgedehnt. Als erster hat Sophokles diesen Mythos für die Bühne aufbereitet, der die Ohnmacht des Menschen gegenüber den rätselhaften Wegen des Schicksals aufzeigt. Der Mensch mag planen, wie und so weit er will, er wird doch gerade das nicht verhindern können, was ihm vorbestimmt ist. So der Mythos der vorhellenischen Zeit, der jedoch zu Sophokles' Zeiten bereits zu Literatur geronnen war. Hölderlin hat den griechischen Text Anfang des 19. Jahrhunderts ins Deutsche übersetzt, und verschiedene moderne Schriftsteller wie Jean Cocteau und Max Frisch haben sich ebenfalls mit diesem Mythos beschäftigt. In der Musik hat sich neben Igor Strawinsky und George Enesco vor allem Carl Orff mit dem Oidipus-Stoff befasst und ihn in eine selten gespielte Oper gegossen. Orff ging dabei konsequent von der Hölderlinschen Fassung aus und brachte sie ungekürzt auf die Bühne. Da ihm sehr an einem durchgehenden Textverständnis lag, verzichtete er weit gehend auf Koloraturen und Melismen und ließ die Sänger den Text in einer direkten Umsetzung der Silben in Töne präsentieren. Darüber hinaus reduzierte er das Orchester auf einen Kern von "geschlagenen" Instrumenten, wozu wir neben Schlagzeug, Xylophon und ähnlichen Instrumenten auch den Flügel zählen wollen, von dem an diesem Abend vier Exemplare den Orchestergraben füllten. Die Streicher beschränken sich auf einige Kontrabässe.


Bühnenbild mit Norbert Schmittberg (Oedipus), Yamina Maamar (Iokaste)

Die Handlung sei hier noch einmal kurz skizziert: König Oidipus von Theben befragt das Orakel, was gegen die in der Stadt wütende Pest zu tun sei, und erfährt, dass erst der ungeklärte Mord an dem alten König Lajos gesühnt werden müsse. Der daraufhin befragte Seher Tiresias bezichtigt in dunklen, mehrdeutigen Worten Oidipus des Mordes. Oidipus selbst hat sein fürstliches Elternhaus im fernen Korinth verlassen, weil ihm dort prophezeit worden war, dass er seinen Vater - vermeintlich der Fürst Polybos - töten und seine Mutter heiraten werde. Seiner beunruhigten Frau - Königin und Witwe des Lajos - berichtet er von einem Kampf auf der Reise durch Griechenland, bei dem sein Gegner - ein älterer Mann - umkam. Als ein Bote die Nachricht vom Tode Polybos' und dessen Frau berichtet, atmen Oidipus und Iocaste auf, weil der Fluch von ihm genommen zu sein scheint. Doch als der Bote weiter enthüllt, dass Oidipus kein leibliches Kind des Fürstenpaares gewesen sondern von einem Hirten des Königs Lajos von Theben ausgesetzt worden sei, entdeckt erst Iocaste und dann auch Oidipus die Wahrheit. Trotz aller Versuche der leiblichen Eltern und des vom Fluch Betroffenen ist alles gemäß der ursprünglichen Prophezeiung eingetroffen. Iocaste erhängt sich und Oidipus verlässt Theben, nachdem er sich selbst geblendet hat.


Norbert Schmittberg (Oedipus), Yamina Maamar (Iokaste) 

Carl Orff unterlegt diese auf das Wesentliche des Mythos' reduzierte Handlung mit einer äußerst sparsamen Musik, die lediglich kleine oder auch kurze dramatische Schlaglichter setzt. So gesehen kann man im Grunde genommen nicht von einer Oper reden, sondern von einem Schauspiel mit Musikunterlegung. Den Darstellern fällt dabei eine äußerst schwierige Aufgabe zu, die darin besteht, den Ton ohne die harmonische oder melodische Unterstützung des Orchesters zu finden. Das beginnt schon in der ersten Szene, wenn Norbert Schmittberg als Oidipus die Bühne betritt und bei schweigendem Orchester auf dem einzelnen Ton C seinen einleitenden Gesang beginnen muss. Aus dem links und rechts auftretenden Chor - alle in Schwarz - schält sich ein Priester (Dimitry Ivashchenko) heraus und antwortet ihm, ebenfalls lange Zeit auf einem einzelnen Ton, der erst zum Schluss der Deklamation sich zu einer kurzen Figur aufschwingt. Dieses Beharren auf einem einzigen Ton betont den deklamatorischen Aspekt, lenkt die Musik doch nicht durch eingängige Melodieführung vom Text ab. Außerdem gewinnt der Vortrag dadurch an Intensität und Dichte. Nur Iokaste - als einzige Frau im Reigen der Könige und Priester - darf aus dem - im wahrsten Sinne des Wortes - monotonen Gesang ausbrechen und stärkere emotionale Aspekte durch einen variantenreicheren Gesang ausdrücken. Sie bildet den musikalischen Gegenpol zu Oidipus und Kreon, die sich im streitenden Sprechgesang gegenseitig verdächtigen, wobei Oidipus auch vor harten Drohungen nicht zurückschreckt.

Doch bei allen Auseinandersetzungen zwischen den Protagonisten gleitet das Stück nie ins Nur-Emotionelle ab. Stets behält der mythische Charakter der Darstellung die Oberhand. Nicht die augenblickliche, an ein Handlungselement gebundene Gefühlsaufwallung steht im Mittelpunkt, sondern die Demonstration eines im wahrsten Sinne des Wortes "übermenschlichen" Prinzip des göttlich waltenden Schicksals. Nicht umsonst trugen die Schauspieler im antiken Griechenland Masken, so von der konkreten Gestalt des Darstellers ablenkend und auf das abbildende Prinzip verweisend. In der Darmstädter Inszenierung hat Intendant John Dew jedoch auf Masken verzichtet und belässt den Darstellern ihr menschliches Antlitz, auf dass sie es zum angemessenen Ausdruck der menschlichen Empfindungen nutzen. Und diese mimische Freiheit nutzen sie, ohne deswegen in naturalistisches Theater zu verfallen. Dass in der Beschränkung sich der wahre Meister zeigt, kann man bei dieser Inszenierung sehr gut nachvollziehen. Alle Darsteller nehmen sich darstellerisch so weit wie möglich zurück und lassen hauptsächlich die Stimme und das Wort wirken. Obwohl man trotz sehr guter Artikulation den wenig eingängigen Versen Hölderlins nur schwer folgen kann, entwickelt sich das Geschehen auf der Bühne ohne ernsthafte Verständnisschwierigkeiten. Die Stringenz des Konflikts und des schrecklichen Erkenntnisvorgangs sprechen für sich. Die Schauspieler tragen den Ablauf mit einem Minimalismus vor, der nur auf den ersten Blick statisch wirkt, in Wirklichkeit jedoch höchste Konzentration und Präsenz erfordert.


Norbert Schmittberg (Oedipus), Mark Adler (Tiresias) 

Das Bühnenbild trägt einen erheblichen Teil zur Gesamtwirkung bei. Die leere Bühne begrenzt an der Rückwand eine stilisierte Burgmauer mit angedeuteten Säulen im vorhellenischen Stil - Mykene könnte als fernes Vorbild gewirkt haben -, die anfangs in goldwarmem Licht glänzt. Zu dieser Zeit ist die innere Welt des Oidipus noch im Lot, wenn auch die Pest in der Stadt wütet. Mit zunehmender Annäherung an die schreckliche Wahrheit verdunkelt sich die Wand, um am Schluss nur noch wie ein schwer auf den Menschen lastendes Gewicht aus dem Hintergrund zu drohen. Nur aus einer kleinen Öffnung in dieser dunklen Mauer dringt am Schluss mit den hereingeführten Kindern des Oidipus etwas Licht wie ein Hoffnungsschimmer auf die Bühne. Doch "Antigonae" wird zeigen, dass noch schwere Zeiten und weitere mythische Konflikte drohen, ehe sich der Hoffnungsschimmer verbreitert.

Die Darsteller spielen durchweg auf einem hohen Niveau, allen voran  der Hauptdarsteller Norbert Schmittberg, der bis zum Schluss mit seiner durchsetzungsstarken und sicheren Stimme das Bühnengeschehen prägt. Yamina Maamar ist ihm als Iocaste eine gleichwertige Partnerin und besticht vor allem durch ihren klaren und ausdrucksstarken Sopran. Andreas Daum gibt den Kreon vielleicht ein wenig zu statisch, während Werner Volker Meyer dem Chorführer stimmlich wie darstellerisch ein starkes Profil verleiht. Der von André Weiß wie immer sehr gut eingestellte Chor fügt sich in dieser so konzentrierten Inszenierung ebenfalls stimmig ein und sorgt immer wieder durch geschickt choreographierte Auftritte für Belebung.

Das Premierenpublikum zeigte sich von dieser eindringlichen Inszenierung hoch beeindruckt und geizte nicht mit Beifall.

Frank Raudszus

 

Orffsches Mythos-Finale mit glänzenden Stimmen
Carl Orffs "Antigonae" im Großen Haus des Staatstheaters Darmstadt

Nach der eindrucksvollen Premiere von "Oidipus als Tyrann" stand einen Tag später im Rahmen einer "Doppeloper" Carl Orffs musikalische Version des Antigone-Mythos' auf dem Programm der Darmstädter Oper. Intendant und Regisseur John Dew hat dabei im Sinne der einheitlichen Wirkung auf weitgehende personelle und bühnentechnische Konsistenz geachtet. So führt Werner Volker Meyer weiterhin den Chor als Chorführer, Andreas Daum ließ sich als nun doch deutlich gealterter Kreon umschminken und Mark Adler tritt wiederum in der Rolle des Sehers Tiresias auf. Die weiteren Rollen sind handlungsbedingt neu besetzt. Das Bühnenbild von Heinz Balthes beruht auf der Grundstruktur des "Oidipus", nur dass die schräg nach vorne und oben in den Raum hineinragende Rückwand nun nicht mehr einen Palast andeutet, sondern die leeren Fensterhöhlen eines zerstörten Hauses zeigt. Dies verweist nicht nur auf das mittlerweile vom Krieg zerstörte Theben, sondern in gewisser Weise auch auf das Jahr 1949 als Entstehungsjahr der Oper. Die Kostüme verdeutlichten den Fortgang der Geschichte: Kreon trägt als König und Kriegsherr jetzt eine schwarze Uniform - die SS lässt schwach aus der Ferne grüßen - und auch in den Chor mischen sich Soldaten mit ähnlichen Uniformen. Es herrscht Krieg und die Sitten sind rauh, das Gold der Gewänder ist dem Grau des Alltags und dem Schwarz der Uniformen gewichen.


Bühnenbild mit Herrenchor

Oidipus' Söhne Polynikes und Eteokles haben sich im Kampf um Theben gegenseitig getötet und Polynikes liegt als Angreifer tot vor den Toren der Stadt. König Kreon verbietet zwecks Abschreckung bei Todesstrafe die Beerdigung des Aufrührers, doch Antigonae, Eteokles' und Polynikes' Schwester, trotzt dem Verbot und begräbt ihren Bruder, wofür sie ihr Onkel Kreon zum Tode verurteilt. Der Chorführer versucht als erster vergeblich, ihn umzustimmen, es folgt Kreons Sohn Hämon, der mit Antigonae verlobt ist, jedoch bei seinem Vater nichts ausrichten kann. Tiresias schließlich prophezeit der Stadt Theben langlebiges Unglück, wenn man den Toten nicht begräbt, und erst er kann Kreon schließlich zur Umkehr bewegen. Da hat sich jedoch Antigonae bereits erhängt und Hämon sich in sein Schwert gestürzt. Als ein Bote Kreons Gattin Eurydice den Tod ihres Sohnes Hämon meldet, erdolcht sich auch diese. Kreon bleibt allein zurück zwischen den Leichen seiner Familie. Seine Umkehr kommt zu spät.


Katrin Gerstenberger (Antigonae)

Der Konflikt in diesem Stück ist nicht tragisch, das heißt schicksalhaft und unlösbar. Die einzig konfliktbeladene Figur ist Antigonae, und sie kann ihn durch Opferung ihres Lebens lösen. Kreons Entscheidung beruht eher auf gesellschaftlichem Denken. Er hält die drakonische Maßnahme für wichtig, um das Überleben der Gruppe zu sichern, erkennt aber - wenn auch zu spät-, dass er damit elementare menschliche Gesetze verletzt. Die Aussage läuft damit deutlich darauf hinaus, dass diese urmenschlichen Prinzipien über der von Menschen erst künstlich erstellte Staatsräson stehen und ihre Verletzung erst recht den Untergang der menschlichen Gesellschaft zur Folge haben. Oidipus hatte keine Chance, seinem von den Göttern vorgegebenen Schicksal zu entrinnen, Kreon hat sie, nutzt sie jedoch nicht. Schon Sophokles' "Antigonae" ist daher diskursiver als der "Oidipus", der nur darstellt. Diesen Unterschied hat auch Orff erkannt und legt die "Antigonae" daher breiter an als den "Oidipus". Hier kommen die einzelnen Protagonisten wesentlich stärker zu Wort und bringen die Argumente für oder vielmehr gegen Kreons Entscheidung vor. Das beginnt mit Ismene, die zwar mit ihrer Schwester Antigonae fühlt, sich aber nicht gegen das Gesetz auflehnen will. Der Chorführer bringt allgemein menschliche Argumente vor, wird jedoch ebenso abgeschmettert wie Hämon, der an den Familienvater in Kreon appelliert. Jeder ist eigenständige Figur und gewinnt bei seinen Argumente ein Profil. Nicht die Klage gegen das Schicksal steht im Vordergrund sondern der - letztlich scheiternde - Versuch zu überzeugen.

Diese intellektuelle Vielfalt der Handlung drückt sich auch in der Musik aus. Orff erlaubt seinen Personen einen wesentlich freieren Gebrauch der Stimme, das heißt, der Sprechgesang dominiert die Inszenierung nicht in dem gleichen Maße wie beim "Oidipus", obwohl er auch hier noch eine wesentliche Rolle spielt, vor allem bei Kreon, dem Vertreter der Macht. Der Gesang entwickelt sich mit der Entfernung zur Macht und findet seinen Höhepunkt in Antigonaes Klage über den bevorstehenden Tod. Auch dies eine aufschlussreiche Entwicklung gegenüber dem "Oidipus", der keine persönliche Todesangst sondern nur die drückende Ohnmacht gegenüber dem Schicksal kennt. Antigonae jedoch weint ihrem nicht gelebten Leben nach, obwohl sie weiterhin zu ihrer Tat steht und den Tod bewusst in Kauf genommen hat. Ihre Todesklagen bilden den Höhepunkt der Aufführung und finden in Katrin Gerstenberger eine hervorragende Interpretin.


Katrin Gerstenberger (Antigonae), Herrenchor 

Auch die Orchestermusik zeigt in der "Antigonae" deutlich mehr Fülle als im "Oidipus", wenn auch die Besetzung sich nicht geändert hat. Doch dieses Instrumentarium wird breiter genutzt und vielfältiger eingesetzt, so dass sich immer wieder deutliche Anklänge an typisch Orffsche Musik ergeben, so an die "Carmina Burana". Auch der Chor kommt in dieser Oper wesentlich öfter zum sängerischen Einsatz und muss sich nicht weitgehend auf Sprechchöre wie im "Oidipus" beschränken. Die Gesamtwirkung fällt dabei natürlich andersartig aus als bei diesem, die Wucht der monostatischen und musikalisch minimalistischen "Oidipus"-Inszenierung vermisst man in der "Antigonae", dafür kommt die individuelle menschliche Emotion wesentlich stärker auch in der Musik zum Ausdruck. Die Abfolge der Opern entspricht also nicht nur der chronologischen Folge der mythischen Geschlechter sondern auch der Entwicklung des geistigen und kulturellen Lebens im antiken Griechenland, das sich von mythischer Schicksalsgläubigkeit hin zum diskursiven Austausch umformte.

Die sängerischen Leistungen überzeugten auch an diesem Abend in vollem Umfang. Allen voran ist Katrin Gerstenberger in der Titelrolle zu nennen, deren strahlende und in allen Lagen sichere und modulationsfähige Stimme die Aufführung bestimmte. Ihre darstellerischen Fähigkeiten ergänzten die gesangliche Leistung zu einem mehr als überzeugenden Gesamteindruck. Gleich nach ihr ist Andreas Daum zu nennen, der als Kreon eine ebenfalls tragende Rolle zu bewältigen hatte und der diese isowohl stimmlich wie darstellerisch überzeugend zu gestalten wusste. Sein Kreon verbreitetet die düstere Ausstrahlung des einsamen Herrschers, der sich in seinen Entscheidungen festbeißt und in jeder menschlichen Rührung ein Zeichen von Schwäche sieht. Werner Volker Meyer gibt den Chorführer ein weiteres Mal souverän und mit deutlichem Profil, Mark Adlers Tiresias kommt nahezu als Double des Vorabends und Allison Oakes tritt überzeugend als verängstigte und verzweifelte Ismene auf. Zu erwähnen ist auch noch Thomas Mehnert, der als Bote mit einem fülligen und gut artikulierten Bass überzeugte.

Das mit dem Vorabend nahezu identische Premierenpublikum war auch diesmal wieder begeistert und spendete allen Beteiligten einschließlich Orchester und Regie begeisterten Beifall.

Frank Raudszus