Frankfurter Rundschau
10. Februar 2007

Auf Distanz
Monteverdi in der Alten Oper

VON TIM GORBAUCH

Da sitzt man nun, fast 400 Jahre später, und staunt. Über die Fülle der Musik. Über ihre Größe. Über ihre Schönheit. 1610 ließ Claudio Monteverdi seine Vespro della beata vergine drucken, seine Marienvesper. Er widmete sie Papst Paul V., als "Werk seiner durchwachten Nächte", und reiste nach Rom in der Hoffnung, eine Anstellung zu finden. Doch der Papst ließ ihn nicht einmal vor.

In Venedig war man drei Jahre später klüger. Man könnte auch sagen: In Venedig sperrten sie ihre Ohren auf und ließen sich überwältigen von einer Musik, die es bis dahin nicht gab und die wohl auch bis dahin gar nicht denkbar war - ein Riesenwerk, das den alten und den neuen Stil, die prima und die seconda prattica, miteinander verknüpft, das kontrapunktisch kunstvoll verzahnt ist und plötzlich in einen melodisch weitläufigen Gesang umschwenkt, der ganz Gefühl ist und nicht mehr primär Struktur. Die venezianischen Dogen jedenfalls waren von der Pracht begeistert, die ihnen da in San Marco begegnete. Einstimmig wählten sie Monteverdi zum Maestro di cappella.

Noch heute gilt die Marienvesper als Wunderwerk. Öffentlich hört man sie dennoch selten, wie kaum ein anderes altes Werk braucht sie Spezialisten, um ihre transparente Farbigkeit zu dechiffrieren und in die Gegenwart zu retten. René Jacobs, der die Marienvesper in Berlin gerade auf die Opernbühne brachte und sie nun in der Alten Oper Frankfurt dirigiert, ist so einer. Eine Instanz der Alten Musik und zugleich ein Gegner puristischer Theorie. Mit ihm auf der Bühne: die Akademie für Alte Musik Berlin, das Vocalkonsort Berlin und das von Jacobs 1977 gegründete Concerto Vocale. Eine sichere Nummer also.

Und doch wirkt die Marienvesper zunächst seltsam blass und gedämpft, in Augenblicken fast verschenkt. Jacobs lässt Monteverdi auf Distanz. Vor allem fehlt ihm zu Beginn ein Gefühl für den Raum. Im Großen Saal der Alten Oper wirkt die Musik wie verloren, selbst in den vorderen Reihen kommt sie uns nicht nah. Die Idee, eine zweite Instrumentalgruppe hinter den Chor zu platzieren, um die Räumlichkeit selbst zu musikalisieren, vergrößert nur das Gefühl der Entfernung. Gerade der Orchestersatz, einer der üppigsten und zugleich apartesten des frühen Barock, mit Dulcian und Theorbe, Zinken und Posaunen, droht schier zu verschwinden.

Natürlich gibt es immer wieder grandiose Momente, die schwebenden Reibungen des "Duo Seraphim" etwa. Insgesamt aber findet Jacobs erst spät die Balance. In der "Sonata sopra Sancta Maria" kann sich das Orchester freispielen, einer dieser wunderbaren, von aller liturgischen Tradition unberührten Ideen, in blühenden Instrumentalfarben gehalten - und darüber die insistierende Wiederholung der immergleichen Worte: "Sancta Maria, ora pro nobis". Und danach: die Stille. Und der Wunsch, sie würde es wirklich tun. Da, endlich, öffnet sich uns Monteverdi. Das hält dann bis zum Schluss.

Gerade die rhythmische Kraft der Marienvesper, die schon Strawinsky faszinierte, die unerhörte Modernität, die in ihrer musikalischen Anlage steckt, die Tiefe, die in ihr gedacht wird, und eben zugleich ihre fast verschwenderische Lust an Klang, Pracht und Vielheit - all das wird dann doch noch hörbar. Allein das finale "Magnificat" wirkt noch einmal wie ein eigener musikalischer Kosmos, eine Demonstration dessen, was in Musik möglich war und ist. Da ist es dann: das Staunen über eine Musik, die so fern ist. Und doch ganz nah.

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Dokument erstellt am 09.02.2007 um 16:04:02 Uhr
Letzte Änderung am 09.02.2007 um 17:04:32 Uhr
Erscheinungsdatum 10.02.2007

 

Frankfurter Neue Presse
09.02.2007

San Marco liegt am Main
René Jacobs und seine Akademie für Alte Musik brachten mit Monteverdis „Marienvesper" Venedigs Pracht in die Alte Oper.

Von Michael Dellith

Sie ist so etwas wie die H-Moll-Messe des frühen 17. Jahrhunderts, das Opus Summum einer zu Ende gehenden Epoche und gleichzeitig zukunftsweisendes Meisterwerk, klingende Synthese aus mittelalterlicher Gregorianik und Formvorstellungen der Renaissance, verknüpft mit dem moderneren, affekt- und wortbetonten Stil des Frühbarock. Dass Monteverdis 1610 erschienene „Marienvesper", mit der sich der Komponist als Kapellmeister am Dom San Marco in Venedig beworben haben soll, auch nach 400 Jahren nichts von ihrer Vitalität und Eindringlichkeit verloren hat, konnte man jetzt beim Frankfurter Bachkonzert spüren.

René Jacobs und seinen souverän agierenden Gesangs- und Instrumentalensembles, der Akademie für Alte Musik und dem Vocalconsort Berlin sowie dem Concerto Vocale, gelang eine subtil ausbalancierte Aufführung auf beispielhaft kultiviertem Niveau. Es wurde schlank und schlackenlos, kontraststark und facettenreich musiziert, deklamatorisch ausgefeilt in der Klangrede, mit rhythmischem Drive und enormer Zugkraft. Das stets homogene Klangpanorama entfaltete sich vom zarten Solo bis zur satten, repräsentativen Tutti-Fülle, wobei historische Instrumente wie Dulcian oder Erzlaute für farbliche Nuancierung sorgten.

Jacobs verzichtete auf eine räumliche Verteilung der Ausführenden, etwa auf die Seitenemporen. Die Komplexität der Partitur mit ihren mannigfaltigen Dialogwirkungen wurde vielmehr durch schlichtes Aufstehen und Hinsetzen der auch solistisch geforderten Ensemblesänger deutlich (exemplarisch sei hier die fabelhafte Sopranistin Sunhae Im genannt). Selbst das simple Umdrehen eines Vokalisten brachte einen verblüffenden Echo-Effekt – und am Ende großen Jubel.