Frankfurter Rundschau
27. September 2008

Gefühl für Farbe
Aribert Reimann über Lear

Herr Reimann, springt ein Stoff Sie unmittelbar an? Oder schlummert er Jahre in ihrem Kopf, bis er plötzlich hervorbricht?

Das kann ganz unterschiedlich sein. Beim Lear hat es sehr lang gedauert. Da kam der Text schon lange vorher zu mir. Ich kannte das Stück natürlich, ich hab es oft gesehen. Fischer-Dieskau brachte mich schon 1968 darauf, dass ich daraus doch eine Oper machen könne. Aber drei Jahre lang habe ich gedacht, dass ich das nicht schaffen würde. Jeder weiß, wie Verdi am Lear gescheitert ist.

Sie hatten Respekt vor der Aufgabe?

Ja, Respekt. Und eigentlich wehrte ich mich auch dagegen. Drei Jahre später, also 1971, hab' ich mich dann doch entschlossen, den Lear zu machen, weil sich vieles in mir an musikalischem Vokabular eingestellt hatte, das ich für den Lear brauchte.

Was für ein Vokabular?

Farbe, ein Gefühl für innere Dramatik, die Auseinandersetzung auch mit der Dunkelheit, diese abgründige Theatralik, die den Lear beherrscht. Meine Musik hatte sich unwillkürlich dahin entwickelt.

Der Lear ist eines Ihrer bekanntesten Werke und zugleich eine der meistgespielten Opern, die in den vergangenen 30 Jahren entstanden. Hat er auch für Sie eine Sonderstellung?

Das ist schwer zu sagen. Ich hab nach dem Lear, der meine dritte Oper war, noch vier andere Opern geschrieben. Vieles hat sich in meinem Werk auf den Lear zugespitzt. Aber ich habe mich danach auch wieder davon wegbewegt. Ich konnte, ich wollte da nicht stehen bleiben.

Sie begannen in den 60er Jahren, sich der Oper zuzuwenden. Andere wollten da gerade Opernhäuser in die Luft sprengen.

Für mich war die Oper als Kunstform nie umstritten. Solange der Mensch singt, solange er sich auf der Bühne bewegt in Figuren, wird es Theater, wird es Oper geben. Und es zieht mich selbst immer wieder auf die Bühne zurück. Ich sehe da Menschen, die Konflikte in sich tragen. Das ist das, was mich reizt. Und dazu stellt sich eine Musik ein, von der ich vorher nichts gewusst habe. Und das packt mich immer wieder. Ich habe nach Bernarda Albas Haus, Uraufführung 2000 in München, gesagt, ich werde nie wieder eine Oper schreiben. Jetzt ist es wieder so weit. 2010 kommt meine Medea in Wien heraus.

Sie können nicht loslassen von der Oper.

Nee, offenbar nicht.

Interview: Tim Gorbauch

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Dokument erstellt am 27.09.2008 um 00:04:01 Uhr
Erscheinungsdatum 27.09.2008 | Ausgabe: R2NO | Seite: 13

 

Frankfurter Neue Presse
17.09.2008

Jede Epoche entdeckt Horror und Gewalt von neuem
Mit einer Doppelpremiere zeitgenössischer Musiktheaterstücke eröffnet die Oper Frankfurt am 28./29. September die Reihe der Neuproduktionen dieser Saison.

Von Birgit Popp

Am 28. September wird die Oper "Lear" von Aribert Reimann (Jahrgang 1936) im Großen Haus am Willy-Brandt-Platz ihre Frankfurter Erstaufführung erleben; "Piero", das sogenannte "Hörstück für ein Theater der wandernden Gedanken und Klänge" des 1968 in Offenbach geborenen Komponisten Jens Joneleit, folgt dann am 29. September im Bockenheimer Depot.

Genau vor 30 Jahren wurde Reimanns umjubelte Adaption von Shakespeares Drama an der Münchner Staatsoper uraufgeführt. Am 30. April 2008 wurde das auf Alfred Anderschs Roman "Die Rote" basierende Stück "Piero – Ende de Nacht" im Rahmen der Münchner Biennale erstmals gegeben. In beiden Werken steht der Tod am Ende. "Piero" besteht fast ausschließlich aus einem teils gesprochenen, teils gesungenen Monolog. Auch in Reimanns "Lear" werden die Gesangspartien immer wieder von rezitativartigen und deklamatorischen Passagen der Sänger durchsetzt. Lears Monolog bildet eine zentrale Stelle der Oper. Musikalisch gesehen nehmen beide Werke durch ihre Klangfülle den Zuhörer mit auf eine Reise durch die Innenwelten der Protagonisten. Für die musikalische Leitung von "Piero", der von Katharina Thoma in Szene gesetzt wird, ist Yuval Zorn verantwortlich.

Die musikalische Leitung von "Lear" obliegt dem neuen Frankfurter Generalmusikdirektor Sebastian Weigle. Ihm zur Seite steht Keith Warner, der in Frankfurt unter anderem mit Blochs "Macbeth", Brittens "Death in Venice" oder den beiden Dallapiccola-Einaktern "Volo di notte" und "Il prigioniero" bereits beeindruckende Inszenierungen gezeigt hat.

Das von Claus Henneberg für die "Lear"-Oper verfasste Libretto empfindet der britische Regisseur als eine gelungene Adaption für das Musiktheater: "Henneberg hat es sehr geschickt verstanden, alle wesentlichen Dinge und konzeptionellen Ideen Shakespeares in seinem ausgezeichneten Opernlibretto zusammenzufassen. Er hat eine sehr klare, starke Sprache gefunden", so Warner

Der Bariton Dietrich Fischer-Dieskau, der Reimann bereits 1968 zur Komposition des "Lear" angeregt hatte und in der Uraufführung die Titelpartie sang, sah im "Lear" ein Symbol für den außer sich geratenen Menschen und den besten Weg, unsere Zeit auf der Bühne darzustellen. Aribert Reimann selbst sagte einmal zum "Lear": "Als ich mich entschloss, diese Oper zu schreiben, merkte ich, dass kein anderer Stoff mir so viele Antworten auf die Fragen gibt, die ich an die heutige Zeit habe."

Dem stimmt auch Regisseur Keith Warner zu und ergänzt: "Wir sollten auch einen Blick auf die Zeit werfen, zu der Shakespeare 1605 den ,Lear‘ geschrieben hat. Mit dem Tod von Elisabeth I. 1603 war das elisabethanische Zeitalter zu Ende gegangen, und eine neue Epoche hatte begonnen." "Lear" sei weniger eine Metapher für das Schicksal des Einzelnen als für große Veränderungen im Allgemeinen, wie sie auch in unserer Zeit stattfänden, mit den technologischen Entwicklungen, mit dem Schrecken des Zweiten Weltkriegs, aber auch mit dem heutigen Grauen, mit der Kälte unserer Welt, so Warner. Insofern sei "Lear" unheimlich aktuell. ",Lear‘ zeigt, wie wir mit Veränderungen fertig werden. Aber er gibt auch Hoffnung. Veränderungen bergen auch die Chance, die Welt besser zu machen", sagt Warner. "Lear" sei ohne Zweifel ein düsteres, schwarzes Stück, das das Potenzial an Horror im menschlichen Leben und in der menschlichen Geschichte zeige. Jede Epoche entdecke Horror und Gewalt von neuem. "Seit den Ereignissen des 11. September 2001 hat sich die Welt verändert und lässt uns alle wie König Lear fühlen. Lear ist für seine Lage selbstverantwortlich, wie wir alle auch. Aber er ist einem Extremmaß an Schrecken und Leiden ausgesetzt, was weit über das hinausgeht, das er verdient und was ein Mensch aushalten kann", so Warner. "Die Blindheit ist eine weitere sehr wichtige Metapher in diesem Stück", ergänzt der Regisseur. "Einerseits die wirkliche Blindheit Glosters und die geistige Blindheit von Lear, dem sein Verstand genommen wird. Aber durch ihre Blindheit erhalten beide in gewisser Weise eine größere innere Sichtweite."

Bei all der Düsternis gebe es im "Lear" aber auch Lichtblicke. "Die Schönheit der Musik für die positiven Personen des Stückes offenbart innerhalb des Grauens die Schönheit dieser Charaktere", sagt Warner. "Ich denke, dass es in Shakespeares Stücken immer einen Schimmer von Menschlichkeit und Güte gibt, auch, wenn er sehr klein und versteckt ist." Die Titelpartie übernimmt in Frankfurt übrigens der Bariton Wolfgang Koch.

"Lear", Oper Frankfurt, Willy-Brandt-Platz.
Premiere 28. September, 18 Uhr. Weitere Vorstellungen bis 25. Oktober.
"Piero", Bockenheimer Depot.
Premiere 29. September, 19.30 Uhr. Weitere Vorstellungen bis 5. Oktober.
Internet
http://www.oper-frankfurt.de

 

Frankfurter Allgemeine Zeitung
26. September 2008

„Lear" in der Oper Frankfurt
Der Kopf ersetzt die dritte Hand


Auftakt mit Reimann: Sebastian Weigle hinter den Kulissen seiner neuen Wirkungsstätte

Für einen Komponisten dürfte es ein nicht zu unterschätzendes Erfolgserlebnis darstellen, wenn seine womöglich unter Schmerzen geborene abendfüllende Oper von einer Bühne zur Uraufführung angenommen wird. Ein weitaus größeres Kunststück jedoch bedeutet es heutzutage, ein Haus zu finden, das sich bereit erklärt, die Oper nachzuspielen. Mit einer Uraufführung schmückt sich mancher Intendant gern, doch zum Repertoirestück wird das angenommene neue Werk deswegen noch lange nicht. Oftmals bleibt es bei der einmaligen Aufführungsserie, denn weitere Inszenierungen garantieren kein vergleichbar internationales Echo.

Fällt eine neue Oper in dieser Hinsicht einmal völlig aus dem Rahmen, muss dies wohl an der besonderen Qualität ihrer Suggestionskraft liegen. Eine Erfolgsoper wie „Lear" von Aribert Reimann gehört ganz entschieden in diese Kategorie: Schon die Uraufführung 1978 an der Bayerischen Staatsoper München genoss einen doppelten Sympathiebonus: Der 1936 in Berlin geborene Komponist – Sohn einer professionellen Sängerin und Kompositionsschüler von Boris Blacher und Ernst Pepping – stand im Ruf, dank früher Affinität zur Vokalmusik sängerfreundlich zu komponieren.

Geistig höchste Ansprüche, technisch größte Anforderungen

Zudem hatte Dietrich Fischer-Dieskau, der in München auch die Hauptrolle verkörperte, den entscheidenden Kompositionsimpuls gegeben. Die Erwartungshaltung war dementsprechend groß, der Erfolg legendär. Schon wenige Wochen später wurde „Lear" in Düsseldorf nachgespielt, gefolgt – in den achtziger Jahren – von Mannheim, Paris, Berlin und Zürich.

Jetzt kommt „Lear" endlich auch nach Frankfurt: Keith Warners Neuinszenierung des Meisterwerks hat am Sonntag um 18 Uhr im Opernhaus Premiere. Am Pult steht der neue Generalmusikdirektor Sebastian Weigle, der mit dieser Produktion seinen Einstand gibt. Mit dieser Entscheidung hat er es sich nicht leichtgemacht: Reimanns „Lear" ist ein Werk der (geistig) höchsten Ansprüche und der (technisch) größten Anforderungen an die Künstler. Shakespeares berühmte Königsfigur erscheint in der Oper nicht vordergründig als personifiziertes Menschenschicksal, sondern als Symbol für extremes Leid und totale Einsamkeit.

Die Partitur spiegelt eine äußerst komplexe, harte, überwiegend dunkle Klangsprache. Der Dirigent muß nicht nur vertrackteste Strukturen gestalten, etwa die Organisation von 48 Streicherstimmen in Vierteltonclustern als Höhepunkt der „Heide"-Szene, sondern auch charakteristische Leitklänge verdeutlichen. So werden die charakterlich sehr verschiedenen Königstöchter Goneril, Regan und Cordelia musikalisch sehr kontrastierend gezeichnet: mit starren Akkorden die eine, mit übertriebenen Melismen die andere, mit lyrisch ausgewogenem Gesang die dritte.

Düsternis menschlichen Abgrunds

„Wir werden die Klanghärte des Stücks weniger stark ausspielen, als die Partitur es nahelegt", sagt Sebastian Weigle im Gespräch mit der F.A.Z., „so erhalten die Sänger bessere Chancen". Ihnen nämlich werde ungeheuer viel abverlangt, da immer wieder riesige Intervallsprünge zu bewältigen seien: „Ein Kennzeichen der Premierenvorbereitung ist, daß für diese Produktion enorm viele Einzelproben mit Sängern nötig sind", sagt Weigle. In Verzug sei man deswegen gottlob nicht.

Die Düsternis menschlichen Abgrunds spiegelt sich auf so konsequente wie feinsinnige Weise auch im Orchesterpart. Weigle verweist in diesem Zusammenhang auf Passagen, in denen sechsfach geteilte Kontrabässe sich mit Tuba, Bassklarinette und Kontrafagott verbünden. Wie zielgerichtet Reimann komponiert habe, sei auch an anderen Partiturstellen immer wieder offenkundig.

Die „Heide-Szene" aber mit ihren 48 Streicherstimmen, ihrer vierundzwanzigtönigen Reihe über sieben Oktaven – das stellt alles weitere nun wahrhaftig in den Schatten: „Da musste ich eine spezielle Choreographie entwickeln, damit Reimanns Sprache für Musiker überhaupt deutlich wird", erklärt Weigle. Um diese Strukturen zu entwirren und zu vermitteln, bedarf es eines Tricks: „Eigentlich bräuchte ich eine dritte Hand – in meiner Not zeige ich Einsätze mit Kopfnicken an".

HARALD BUDWEG

 

Frankfurter Allgemeine Zeitung
26. September 2008

Im Gespräch: Sebastian Weigle
„Das Stück geht ganz schwer ins Ohr"


Sebastian Weigle

Er mag Regisseure, die eine Partitur lesen können, und gilt als sängerfreundlicher Dirigent. Oper versteht er als Teamspiel - und das sollen auch die ganz jungen Leute schon erleben, sagt Neu-Frankfurter Sebastian Weigle.

Sie geben Ihren Einstand als Generalmusikdirektor der Frankfurter Oper mit Aribert Reimanns „Lear". Ein schwieriges Stück. Ein guter Beginn?

Warum denn nicht mit einem zeitgenössischen Werk anfangen, zumal einem so erfolgreichen wie dem Reimannschen „Lear". Das Stück hält sich seit 30 Jahren, ist aber in Frankfurt noch nie gespielt worden. Inhaltlich und musikalisch ist es hochaktuell, es klingt, als sei es heute komponiert worden. Da hab’ ich gesagt: Na dann aber bitte ran. Natürlich wird das später ergänzt mit Wagner, mit Strauss, das wird alles kommen, die Steckenpferde meines deutschen Repertoires wird man hier sicherlich nicht vermissen.

Aber wäre es für Sie nicht einfacher gewesen, mit der Premiere einer populären Oper das Frankfurter Publikum für sich zu gewinnen?

Auf dem Papier ist es ein gewisser Neuanfang. Allerdings bin ich hier natürlich auch kein Neuer mehr. Ich fand die Idee, mit dem Reimann-Stück anzufangen, einfach sehr gut. Natürlich freut man sich als Künstler immer über Zustimmung, aber ich lege meine Programme nicht darauf an, ob sie dem Publikumsgeschmack entsprechen. Wenn es ihn trifft, ist es wunderbar. Das Stück geht ganz schwer ins Ohr. Aber wir haben Protagonisten gewonnen, die ihre Rollen in einer hervorragenden Art und Weise verkörpern, haben mit Keith Warner einen Spezialisten für zeitgenössische Oper par excellence, der auch in der Personenführung, im Umgangston, in der Motivierung großartig ist und sehr ins Detail geht.

Darf man daraus schließen, dass Sie nicht einstimmen in die Schmähreden, die seit einiger Zeit verstärkt gegen das Regietheater geführt werden?

Ich weiß, dass ein großer Teil des Publikums eins zu eins auf der Bühne wiederfinden möchte, was im Textbuch steht. Es wird von einem Fliederbusch gesprochen, dann soll der auch da stehen. Der Duft fehlt vielleicht noch. Aber es geht doch darum, was ein Stoff in der heutigen Zeit bedeuten kann. Da muss sich ein Regisseur Freiheiten nehmen. Ich habe allerdings etwas dagegen, wenn ein Stück bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt wird.

Sie haben in Bayreuth mit Katharina Wagner zusammengearbeitet, die in ihrer „Meistersinger"-Inszenierung nicht gerade zimperlich mit dem Familienerbe umgegangen ist.

Ich finde das sehr mutig, sich eines Werks des Urgroßvaters anzunehmen und es zu verfremden. Wagners Spruch „Kinder, schafft Neues!" wird immer gern als eine gute Entschuldigung für alles genommen. Aber er hätte nicht unentspannt im Sessel gesessen. Alles entwickelt sich weiter. Sehr lieb sind mir die Regisseure, die die Partitur lesen können und nicht nur aus dem Textbuch inszenieren. Wenn einer sagt, an dieser Stelle setzt das Kontrafagott ein, das ist eine ganz düstere Farbe, das muss sich szenisch widerspiegeln, dann merke ich, da denkt jemand in der Musik mit. Solchen kreativen Köpfen stelle ich mich überhaupt nicht in den Weg.

Finden Sie es denn gut, wenn Ouvertüren inszeniert werden?

Nein. Generell gar nicht. Es gibt Ausnahmen, wo das sinnvoll ist. Ein Vorspiel gehört in der Regel jedoch dem Zuschauer selbst, er soll anfangen, seinen eigenen Film zu produzieren. Dann geht der Vorhang auf, und er kann sich vielleicht erschrecken. Die Musik rutscht an die zweite Stelle, wenn eine Ouvertüre bebildert wird, vor allem wenn sie schlecht bebildert wird, wenn nur noch Aktionismus herrscht.

Im Festspielhaus auf dem Grünen Hügel zu dirigieren gilt als ausgesprochen schwierig. Haben Sie das auch so erlebt?

Es ist irrsinnig schwierig und alles andere als ein Vergnügen, die „Meistersinger" dort zu dirigieren. Nur davon kann ich reden. Man braucht in Bayreuth viel Erfahrung. Ich möchte von anderen Dirigenten eine erste Vorstellung in Bayreuth auch nicht unbedingt gehört haben. Es braucht Zeit, die ganzen akustischen Zusammenhänge erst einmal zu verstehen. Das Orchester muss absolut am Schlag spielen. Wenn es da eine Verzögerung gibt, geht das System nicht auf. Der Vokal des Sängers, der normalerweise im Theater zusammen mit meinem Schlag kommen muss, darf in Bayreuth erst nach meinem Schlag kommen, etwas zu spät, etwas schleppend. Wenn ich unten im Graben alles zu spät und verschleppt höre, dann gibt es draußen im Saal das größte Hörvergnügen. Und dann haben Sie mal Sänger, die permanent schleppen oder eilen, weil sie sich in einer von der Regie verlangten hektischen Bewegung befinden.

Ist es nicht trotzdem etwas Einzigartiges, dort zu dirigieren?

Die Akustik ist schon sensationell, gerade auch bei den Stücken, die für Bayreuth komponiert wurden. Also wenn Sie da drin sitzen und den „Parsifal" hören, geht Ihnen schon ein Schauder den Rücken runter. Im normalen Theater ist man ja immer abgelenkt, man kann den Dirigenten und das Orchester sehen. Aber wenn Sie nicht wissen, woher der Klang kommt, man sitzt in einem dunklen Theater, sieht nichts, fühlt nur, das ist phänomenal, einmalig, und ich hoffe, dass es lange so bleibt.

Sie würden nichts ändern in Bayreuth, auch keine Opern von anderen Komponisten spielen?

Bloß nicht, ich finde das ausgezeichnet so.

Wie ist Ihr Verhältnis zu Sängern, kommunizieren Sie viel mit ihnen während einer Vorstellung?

Die sagen immer, ich wäre einer der sängerfreundlichsten Dirigenten. Die ganze Oper lebt doch vom Teamgeist. Ohne die Leute vom Schnürboden oder vom Starkstrom, die in dem Augenblick, wo ich einen Akzent setze, ihren Klick machen, bin ich nichts. Und ich brauche immer ein Orchester, einen Chor.

Aber ist es manchmal nicht schwierig, alle unter einen Hut zu bringen?

Noch mag ich Oper machen. Aber wenn ich irgendwann mal an einen Punkt komme, wo man nur noch streitet, dann bin ich weg von der Oper. Ich will Spaß haben, deshalb mache ich das. Nicht die Art von Spaß, die man meint, wenn von der Spaßgesellschaft die Rede ist, sondern im Sinn von Freude an einer gemeinsamen Sache.

Frankfurt gilt bei Theaterleuten ja als schwieriges Pflaster …

Ist das so?

… weil es hier oft sehr nüchtern zugeht und die Öffentlichkeit recht kritisch ist. Was erwarten Sie von den Opernbesuchern?

Dass sie zahlreich kommen. Und dass sie am Schluss sagen: „Schade, schon zu Ende. Wir sollten uns das Stück noch mal anschauen." Oder: „Wir nehmen uns ein Abonnement." Es gehört für jeden ordentlichen Barceloneser dazu, ein Abonnement bei der Oper zu haben. Man geht in die Oper. Ganz selbstverständlich. Man macht sich hübsch. Wir haben 14 Abonnements, es bleiben ganz wenige Karten für die Abendkasse. Ich will nicht behaupten, dass die Taxifahrer wissen, was am Abend in der Oper gespielt wird, weil sie die Ramblas rauf und runter fahren. In Wien ist das so.

Müssen Sie sich künftig nicht noch mehr um Leute kümmern, die sonst nicht den Weg ins Musiktheater finden, und vor allem auch um Kinder und Jugendliche?

Sie glauben gar nicht, woran wir seit ein paar Wochen sitzen. Kinder- und Jugendarbeit ist etwas, das mir riesengroßen Spaß macht. Ich leite schließlich seit 14 Jahren das Landesjugendsinfonieorchester Brandenburg. Leider habe ich seit zwei Jahren nicht mehr die Zeit dafür wie vorher. Wir machen in Barcelona tolle Programme für die jüngsten Opernbesucher, und auch in Frankfurt wird beispielsweise in der Reihe „Oper für Kinder" mit Labbo und Deborah Einspieler viel getan. Wir müssen die Frankfurter Oper überhaupt bekannter machen. Geben Sie mal in die Navigation Ihres Autos „Frankfurt" und „Oper" ein, da geht’s immer zur Alten Oper.

Die Fragen stellte Michael Hierholzer.

 

OFFENBACH POST
28. September 2008

Zeitgenössische Oper ins Visier genommen
Sebastian Weigle gibt zum Einstand Reimanns "Lear"

Er liebt die Herausforderung und fordert auch gern selbst heraus. Deshalb geht Sebastian Weigle bei seinem Einstand an der Oper Frankfurt nicht auf klanglichen Schmusekurs, sondern bietet gleich starken Tobak. Erstmals ist in Frankfurt Aribert Reimanns "Lear" nach Shakespeare zu erleben, 30 Jahre nach der Uraufführung in München mit dem legendären Bariton Dietrich Fischer-Dieskau. Inszeniert hat die Tragödie der in Frankfurt wie in Bayreuth wohlgelittene Keith Warner, den Lear singt und verkörpert Wolfgang Koch. Premiere ist am Sonntag um 18 Uhr im Opernhaus am Willy-Brandt-Platz.

Aribert Reimanns "Lear" habe seine Uraufführungsperiode weit überlebt, sagt Generalmusikdirektor Weigle, für den die zeitgenössische Oper "ein spannender Ausflug zwischen Wagner und Strauss" ist, den ihm nahe stehenden Komponisten. Zudem gelte es nachzuweisen, dass sich die Moderne seit Alban Berg kontinuierlich weiterentwickelt hat.

Auf den Berliner Aribert Reimann wurde der Berliner Sebastian Weigle - beide haben übrigens Wurzeln in der Kirchenmusik - durch ein Streichquartett aufmerksam, das sein Bruder mit Musikerkollegen aufgeführt hatte. Keine riesigen Chorszenen und nur wenig Arien: Die Tragödie des alten Königs, der sich seinen machtbesessenen Töchtern ausliefert, besitze eine ureigene Klangsprache, weiß Weigle, der vor allem Reimanns Charakterisierungskunst schätzt. Dabei rücken die fortschreitenden Wahnvorstellungen des Königs in den Mittelpunkt, malträtiert von Goneril, deren Brutalität in weiten Intervallen gekennzeichnet wird, und von Regan, die ihre Hysterie in fiebrigen Koloraturen auslebt. Während die ihrem Vater zugetane Tochter Cordelia so lyrisch zart singt, "dass man eine Gänsehaut bekommt", so der Dirigent. Ansonsten beherrsche massives Blech und Schlagwerk die Oper. Wenn Lears Wahnsinn kulminiere, gebe es einen 48-tönigen Streicherakkord, ein Cluster über sieben Oktaven.

Das alles habe ihm neben viel Freude auch ein paar schlaflose Nächte bereitet, sagt Weigle, von einem Besuch bei Reimann im Juni dieses Jahres in Berlin schwärmend, der bei ihm letzte Zweifel ausräumte. Vor allem an den wahnwitzigen Tempi, die der Komponist vorschreibt, der freilich Weigle hier jedwede Freiheit zugestand, um die richtige Klangfarbe, den idealen stimmlichen Anschluss zu finden.

Ein rabenschwarzes Werk - und dafür scheint Regisseur Keith Warner prädestiniert, dessen Bayreuther "Lohengrin" auch das Halbdunkel schätzt. Er habe nicht nur die Raum- und Zeitfaktoren ideal gelöst, sondern die Leiden der Protagonisten nahezu körperlich erfahrbar gemacht, so Weigle. Wenn im zweiten Akt der Graf von Gloster brutal sein Augenlicht verliere, sei die Oper Frankfurt in tiefe Finsternis getaucht.

"Ein grausames, ein sehr lautes Stück, das den Organismus belastet. Aber auch so aktuell, als wäre es erst gestern geschrieben worden", bilanziert der Frankfurter GMD, gespannt auf die Reaktion des Publikums zu seinem Einstand. Auf dessen seit der Gielen-Ära hoch entwickeltes Kulturverständnis baut der sympathische Maestro. Und er liebt die Herausforderung.

KLAUS ACKERMANN

 

giornale della musica
10|08


STEFANO NARDELLI

Quella che si è aperta lo scorso 28 settembre all’Oper Frankfurt (oper-frankfurt.de) non è una stagione qualsiasi. Al posto che fu, fra gli altri, di Clemens Krauss, di Georg Solti, di Christoph von Dohnányi, di Michael Gielen e più recentemente di Paolo Carignani arriva Sebastian Weigle. Berlinese, 47 anni, cornista di formazione e di professione, dai primi anni ’90 Weigle si cimenta nella direzione d’orchestra e rapidamente ricopre incarichi prestigiosi alla Staatsoper di Berlino e al Liceu di Barcellona. Malgrado la fama di direttore wagneriano (consacrato nel 2007 dal passaggio a Bayreuth) e straussiano, a Francoforte Weigle debutta con un titolo contemporaneo: Lear di Aribert Reimann.

"Di Reimann mi piace il tipo di suono che riesce a creare, – dice Weigle. – Non è Berg o Webern, ma come si sente la loro influenza sulla sua musica! C’è lo stesso tipo di sentimenti, un certa attenzione alla melodia pur essendo la sua una musica atonale, e di Berg ha sicuramente lo slancio espressivo. Ma è anche una musica molto ritmica, in cui si sente l’influenza della musica indiana. Mi piace la libertà che lascia agli interpreti: l’interprete in questo modo può esprimere compiutamente la sua visione elaborandola con il regista".

Parlando di regia, Lear vanta una tradizione importante con nomi del calibro di Jean Pierre Ponnelle per la prima rappresentazione assoluta a Monaco nel 1978, di Willy Decker e di Luca Ronconi, che ha tenuto a battesimo la prima e fi nora unica produzione italiana al Regio di Torino nel 2001. Anche Francoforte si adegua e chiama Keith Warner, ancora una volta impegnato dal teatro in un titolo novecentesco, dopo il rarissimo Macbeth di Bloch, il dittico di Dallapiccola e il Britten più estremo. "Nella mia carriera di regista, ho lavorato spesso su opere di autori viventi. Il punto però non è tanto contemporaneo o classico. La vera questione è che se l’opera è buona o cattiva e il Lear di Reimann è concepita benissimo sia dal punto di vista musicale, sia vocale, sia testuale".

Non è forse del tutto insensato pensare che un regista inglese abbia piuttosto la tentazione di pensare più a Shakespeare che alle sue trasposizioni operistiche. Una tentazione che però Warner nega: "Per noi di lingua inglese è facile perdersi nella bellezza del linguaggio di Shakespeare, e uno Shakespeare che non parli inglese, come nel libretto di Henneberg, è qualcosa di diverso. Ma nel libretto Henneberg ha semplificato il testo di Shakespeare senza impoverirlo. La forza del racconto è anche più in evidenza: l’originale shakespeariano è altrettanto cupo ma la tensione più diluita. È chiaro comunque che, per il Lear così come per Macbeth o Otello, il regista d’opera rischia il più grande dei crimini: dirigere il testo teatrale e non l’opera! Un aspetto importante nella mia regia è la dualità fra la cecità e il vedere o il vedere parzialmente. Lear vede dalle tenebre: è un’idea teatralmente forte che crea sempre tensione nello spettatore. È una musica profonda, triste, dai colori scuri, in cui non c’è spazio per la speranza". E tuttavia, conclude Warner: "nell’opera di Reimann c’è un enorme senso di umanità, malgrado affronti i lati più oscuri di quella stessa umanità. C’è una moralità molto umana nell’opera: in questo senso, per me questa è un’opera romantica".

Il Lear avrà le scene di Boris Kudlička, i costumi di Kaspar Glarner e le luci di Davy Cunningham. Il protagonista Wolfgang Koch sarà affiancato fra gli altri da Jeanne-Michèle Charbonnet, Caroline Whisnant e Britta Stallmeister.

Dopo la prima, altre recite sono previste il 2, 5, 9, 12, 19, 25 ottobre.